Poème Roumain – Rumänisches Gedicht
Von den Champs Élysée und der Stadt dringt wenig durch die mit Portieren abgeschirmten Fenster. Ein gleißender Sonnenstrahl durchbricht den schmalen Spalt zwischen den Vorhängen und erhellt das Dämmergrau im Schlafzimmer.
Marucas groß gewachsene Gestalt wirft einen Schatten an die gegenüberliegende Wand. Ihre Haut schimmert im Licht und im Haar glänzen einzelne Silberfäden.
George, im Bett sitzend, hält sich die Hand vor die Augen. Bitte, Maruca.
Sie schließt den Vorhang, der Schatten verschwindet und mit ihm das Licht. Gut so?
Er antwortet darauf mit einem Achselzucken und wendet das Gesicht zur Wand. Der Schlaganfall fesselt ihn ans Bett, wie sein altes Rückenleiden. Seit er in die Suite umgezogen ist und alle Annehmlichkeiten des Hotels nutzen kann, hat sich ihrer beider Leben beruhigt. Du bist hier besser aufgehoben, als ich es für dich leisten kann, George. Maruca bewohnt ihr gemeinsames Appartement und kommt gegen Mittag zu ihm und verlässt ihn am späten Nachmittag nach dem Tee.
Das Licht ist aus, geh, mein Herz. Seine Worte klingen hart, manchmal. Sie wartet jeden Tag auf diesen Moment. Ein bitterer Zug legt sich um ihre Lippen, ihre Gefühle verharren hinter einer Maske. Dann küsst sie
ihn auf die Stirn und geht. Erst draußen auf dem Gang mit den dicken Teppichen lehnt sie einen Moment nach Atem ringend an der Wand, bevor sie mit unbewegter Miene in den Aufzug steigt. Die Abende verbringt sie mit Freunden nach dem Theater beim Essen oder in ihrem Appartement. Warum nicht, hat sie in einem Gespräch auf die Frage geantwortet, weshalb sie fast jeden Abend ausgeht. Mancher in ihrem Umfeld findet es befremdlich, dass sie die Nacht zum Tag macht und tags darauf an seinem Bett sitzt. Habe ich kein Anrecht auf Zerstreuung? Ich verdanke ihm mein Leben, durch ihn wurde ich von den Qualen meines Lebens erlöst, erwidert sie mit bitterem Ton Sie erntet Schulterzucken ihres Gegenübers. Das
Unverständnis macht sie traurig. Ihr habt keine Ahnung! Sie wendet sich ab, damit niemand ihre Tränen sieht.
Heute hat er sie mit Schweigen begrüßt und sich dann zur Wand gedreht. Sie hört seinen regelmäßigen Atem. Die Luft im Zimmer drückt auf ihre Brust. Gedankenschwer geht sie nach nebenan ins Wohnzimmer. Sie setzt sich in den Lehnsessel am Schreibtisch vor dem Fenster. Darauf sind seine Fotos aufgereiht.
Eines zeigt George als jungen Mann mit der geliebten Geige, auf anderen dirigiert er mit wallendem Haar oder spielt mit versunkenem Blick und von Krankheit gebeugtem Rücken auf einem Flügel im Kegelschein des Bühnenlichts. Sie sieht ihn bei Konzerten in aller Welt, mit der Geige oder dem Taktstock in
der Hand. Das Publikum feiert ihn begeistert, egal wo er auftritt. Ein weiteres Bild zeigt ihn als wachsamen Lehrer, der seine Schüler in das Mysterium der Musik einführt. Seine Musik. Das ist mein Leben, seit ich ein kleiner Junge bin, sagte George, nach einem Konzert in illustrer Runde auf sein Debüt angesprochen. Der Applaus brandet im hell erleuchteten Saal auf. Mit siebzehn Jahren bin ich, was ich sein will: ein Komponist. Ich verbeuge mich mit glühenden Wangen. Noch unwirklich scheint mir der Name, den die Menge frenetisch von den Rängen ruft: George Enescu! Bis dahin nennt man mich Jurjak. Tags darauf titeln die Feuilletons, ein neuer Stern sei am Musikhimmel aufgegangen und mit meinem Poème Roumain habe ich
einen Meilenstein nicht bei den Colonne Concertes in Paris gesetzt, nein, für die gesamte Musikwelt. Und sie fügen hinzu: Man merke sich den 6. Februar 1898 und den Namen George Enescu. Und ich? Ich habe getan, was in mir ist.« Nach dem fulminanten Debüt im Paris kommt George kaum zur Ruhe. Man reicht ihn herum. Hier ein neues Stück aus seiner Feder, dort eine gefeierte Interpretation alter Meister. Später sagte er mit einem bitteren Zug um die Lippen. Man sah in mir einen Wanderpokal. Und es hat Freude gemacht, ich wollte nichts als spielen.
George sammelt jeden Zeitungsschnipsel über sich in ungezählten Ordnern. Weißt du, sie sind mir Erinnerung, sagt er ihr. Wenn ich darin blättere, kommen die Bilder zurück, die
ich vergessen glaubte. Das erste Interview ist ebenso einmalig wie mein offizielles Debüt als Geiger. Ich habe das Gefühl gehabt, wahrhaftig ich zu sein. Ich habe die Rolle meines Lebens geliebt. Sie antwortet darauf: Es ist eine Reise der besonderen Art, George, auch für mich.
Maruca erinnert sich gern des ersten Hauskonzerts im Castelul Peles, der Sommerresidenz der Familie Hohenzollern, von der sie ein Teil ist. Dort begegnet sie ihm das erste Mal und erliegt der Faszination dieses jungen Musikers. In dem Moment, als ich ihn sah, legte er mit seinem warmen Blick einen Zauber auf mein Leben, schreibt sie später in einem Brief. Meine Seele bleibt sein bis zum Lebensende. Ich warte auf ihn, wie
ein fieberkranker Mensch nach einer schlaflosen Nacht der Qual auf das Morgengrauen wartet. Ihre Wege sind andere – vorgezeichnet,weniger konstruiert. Glücklich macht mich das Spiel – und deine Nähe. Bei Maruca kann er aufatmen. Sie drängt ihn zu nichts, sie nimmt ihn, wie er ist, und reklamiert nichts. Wenn er von einer Reise zurückkommt, treffen sie sich heimlich. Sie ist eine verheiratete Frau und er ein berühmter Mann. Sie kuschelt sich an seinen nackten Körper und streicht zärtlich über seine Brust, er legt seinen Arm um ihre Schultern. Für sie der schönste Moment, die friedliche Zeit nach flammender Leidenschaft und glühender Ekstase. Auf weißen Schwingen trägt er sie, und sie landet in flauschiger
Watte. Meine Liebe, mein Leben, flüstert er ihr zärtlich ins Ohr. Und sie wünscht sich sehnlichst, ihn immer bei sich zu haben. Können wir nicht immer zusammen sein? Ihre Stimme klingt wie die eines heiteren Mädchens. Ohne verhängte Fenster und Stillschweigen. Du weißt, dass das nicht geht. George löst sich von ihr und starrt an die Zimmerdecke. Ich habe mein Leben. Du hast deinen Mann.
Bitterkeit steigt im Innern hoch, Krämpfe schütteln sie. Sie wirft sich an ihn. Klammert. Ich brauche dich! Ich will dich!
Ich weiß, Liebes. Mir geht es nicht anders. Er nimmt ihr Gesicht in die Hände und küsst sie auf die Stirn. Lass gut sein, Prinzesschen.
Was bleibt mir anderes? Ich kann nicht! Ach,
George! Ihre Stimme wird unangenehm in seinen Ohren, Tränen rinnen die Wangen hinunter. Sie kuschelt sich in die Decke und sieht mit verschleiertem Blick, wie er sich anzieht und wortlos das Zimmer verlässt. Die Leidenschaft, die sie antreibt, bleibt.
Das Leben schreibt sein eigenes Lied, denkt sie, und ein schneidendes Lächeln umspielt ihre Lippen. Sie sieht auf ihre alten Hände. Der Ring sieht aus wie neu, dabei trage ich ihn schon eine ganze Weile. Wie liebten wir uns hinter einfachen Hotelzimmertüren oder bei einem Ausflug ins Grüne! Sie erinnert sich jener Zeilen, die sie ihrem Tagebuch anvertraut hat. Da habe ich ihn für mich allein. Nicht einmal seinen Notenblock hat er dabei! Und mein Mann weiß zu verhindern, dass
pikante Details an die Öffentlichkeit gelangen, die seinem Image als integrer Politiker schaden. Er ist kein Kind von Traurigkeit und sucht in fremden Betten, was ich ihm nicht geben kann. Es ist mein Leben, George ist mein Leben. Doch jedes Mal bleibt ein kaltes Laken zurück. Ein Zwiespalt, der sie in einem Karussell gefangen hält. Höhen und Tiefen wechseln sich ab, wie die Stimmungen sich wandeln. George sucht sein Heil in der Musik, für sie hat er einen Platz in einem Sanatorium gefunden. Sie erinnert sich ungern an diese Zeit. In einem Brief beschrieb sie ihre Qual: Wenn die Tage dunkel scheinen und das Licht sich hinter dicken Wolken versteckt, scheint die Hölle das Paradies zu sein. Und nichts ist schlimmer als eine Hölle auf Erden. Bitte,
George, heirate mich, drängt sie, als ihr Mann bei einem Autounfall stirbt und sie allein zurücklässt.
Von nun an gehörst du zu mir, meint er und reicht ihr die unterzeichnete Partitur des Oedipe. Sie findet darin eine Widmung: der Muse meines Lebens. Es zerreißt sie fast: Sie wäre viel lieber seine Frau! Sie heirateten dann noch. Wie gern wäre sie von ihrem Vater an George gereicht worden! Doch er hat den Freitod gewählt, als sie vierzehn Jahre zählte. Bis heute ist es ins Gedächtnis gebrannt, wie ein Foto, das die Zeit lebendig macht. Das ist vielleicht der Grund für mein Sehnen nach Liebe und die vielen Stunden der Traurigkeit, überlegt sie und stellt das Foto zurück. Das Schicksal hat es am Ende nicht gut mit uns
gemeint. Auf ihrer Stirn zeigt sich eine steile Falte und ihr Blick verliert sich. Wie lang ist ein Leben, fragt sie ihr Spiegelbild im Fenster. Wenn die Tage hell und lieblich klingen, währt es ewig – für den Moment. Tränen verschleiern ihren Blick.
Es ist lange her, dass George Dutzende Notenblätter vollschrieb. Es hat ihr Spaß gemacht, wenn er die Luft dirigierte oder sie sein neues Werk besprachen. Später hat er im Bett sitzend gearbeitet. Wenn ich alles zu Papier bringe, was sich in meinem Kopf bewegt, würde ich Hunderte von Jahren benötigen. Ich komponiere langsam und sorgfältig – nicht in exakter Übereinstimmung mit dem herrschenden Stil heutiger Tonsetzer. Ich gehe meine Werke immer wieder durch,
obwohl ich weiß, sie werden nicht aufgeführt werden. Ich schaffe wenig, brotlos, doch so gut ich es noch kann. Er habe keinen Antrieb mehr, sagt er, und das Reden ermüde ihn. Seine Stimmung variiert zwischen Belustigung und Verbitterung. An manchen Tagen starrt er stundenlang wortlos die Wand an. Die Vorhänge sind zugezogen, die Luft verbraucht. An guten Tagen begrüßt er sie im Bett sitzend, streichelt ihr Gesicht und ihre Hände, wenn sie sich zu ihm setzt. Dafür komme ich, denkt sie.
Prinzesschen?
Maruca zuckt verwirrt zusammen. Mit Mühe erhebt sie sich und geht ins Schlafzimmer. Er sitzt im Bett und fingert an der Decke herum. Was hast du gemacht? - Ich war in Gedanken.
Sie streichelt über die alte, schlanke Hand und blickt auf die Zeiger der kleinen Uhr auf dem Nachttisch. Später Nachmittag. »Soll ich deinen Tee kommen lassen?«
Durst. Georges Atem rasselt, sein Blick ist müde. Ein alter, kranker Mann. Prinzesschen? Bleibe bei mir, heute. Sie nimmt seine Hand. Ja, mein Lieber.
George sieht aus tief liegenden Augen zu ihr, ein Lächeln zeigt sich auf seinem grauen Gesicht. Ich fühle die Macht der Ganzheit in mir. Durch deine Liebe. Er räuspert sich, seine Stimme ist brüchig. Sie merkt, dass ihm das Sprechen schwerfällt. Tränen steigen in ihr hoch. Ich wünschte mir, dass das Strahlen nie verblasst. Sie streichelt wortlos seine Wange. Ich weiß. Er hebt sich aus den Kissen zu ihr.
Sein Blick ist klar. Oh, meine Liebe! Ich möchte einschlafen mit dem Bild deines geliebten Blickes. Er streichelt die letzten Augenblicke meiner Qual – Maruca, meine Prinzessin. Er hält ihre Hand an seine Wange. Meine Göttin. Sie erwidert seinen Blick. Unsere Liebe wird ewig währen. George fällt schwer atmend in seine Kissen. Sein Anblick schmerzt sie, ihre Anwesenheit scheint ihm aber gut zu tun. Sein Atem geht ruhig, als er die Augen schließt. Und es wird still um sie.
Sie sieht sich mit ihm vereint – eine Liebe, tief und sinnlich, dass die Welt sie bewundernd kommentiert – ein ganzes Leben lang. Romeo und Julia nennt man sie offen auf Gesellschaften. Der Liebe leichte Schwingen trugen mich, kein steinern Bollwerk kann der
Liebe wehren. Diese Zeilen könnten für uns geschrieben sein, denkt sie und nimmt seine Hand in die ihre. Mit jedem Augenblick verwischen die Konturen im Zimmer, bis die Schatten sich auflösen. Sie haben es nicht leicht gehabt, der Krieg hat ihnen bis auf ihre Liebe alles genommen, Besitz hat nichts mehr gezählt. Ein kleines Appartement in Paris mit wenigen Möbeln, der tägliche Kampf ums Leben. George schreibt, lehrt und spielt, wo es geht. Es ist seine Zeit. Der Alltag mit einem besessenen Musiker wie George ist schwer zu ertragen. Er sitzt da und komponiert. Und wenn er zu Konzerten reist oder Unterricht gibt, bleibe ich einsam zurück. Ich habe nicht all die Jahre … Maruca atmet tief ein, um die plötzliche Leere in ihrem Innern zu füllen. Ein
Leben, eine Liebe. Diese stillen Rückblicke sind ihr Anker und Strudel zugleich. Die fröhlichen Bilder legen sich wie ein Pflaster auf die dunklen Gedanken, wie sich die traurigen Vorstellungen vor die schönen legen. Sie betrachtet George wie aus der Ferne.
Auf ein legendäres Leben wie unseres, mit seiner ganzen Welt an fantastischen Träumen sowie die spontane Flamme, die uns gezündet hat. Weinen möchte sie, doch es fließt nichts. Einzig ein Kloß schnürt ihr die Kehle zu. Als ihr Mund den seinen berührt, schließen sich seine Lider ein letztes Mal. Und stirbt er einst,
Nimm ihn, zerteil in kleine Sterne ihn:
Er wird des Himmels Antlitz so verschönen,
Dass alle Welt sich in die Nacht verliebt
Und niemand mehr der eitlen Sonne huldigt -
Shakespeare, Romeo und Julia.