Licht
Finster war’s, der Mond schien helle … Ich muss unwillkürlich lächeln, obwohl mir gar nicht danach ist. Müde ziehe ich meinen Karren durch die nächtliche Fußgängerzone. Einzig das Rattern der Räder auf dem Steinpflaster zerschneidet das Schweigen zwischen den Mauern. Finstere Schaufenster reklamieren eine andere Zeit, deren lange Schatten mich einholen. Nur wenig ist mir geblieben. Ein paar persönliche Dinge, eine Börse mit etwas Geld, ein altes Kofferradio und eine Handvoll Erinnerungen, mit variirenden Smileys unterzeichnet, von
nett bis grotesk. Gerade sie sind mein wertvollster Schatz.
Einzig den kleinen Streuner, dem ich in den letzten Wochen ab und zu begegnet bin, vermisse ich. Er liebt es, wenn ich ihn hinter den Ohren kraule oder eine Strähne mit zwei Fingern zwirbele, und quittiert das mit freudigem Schwanzwedeln. Oft habe ich ihm aus meinen Heften vorgelesen. Dabei legt er den Kopf zur Seite und die bernsteinfarbenen Augen sehen mich eindringlich aber stumm an.
Ein paar Mal bin ich auch im Asyl vorbeigekommen, aber das Leid meiner ›Kollegen‹ spiegelt mir mein eigenes Elend. Da bleibe ich lieber für mich. Wie
sehr fehlt mir ein herzliches Lachen, das mir auch der Streuner nicht entlocken kann. Wie gern würde ich einfach nur schlafen, doch meine Gedanken geben keine Ruhe. Was werden die kommenden Wochen bringen? Vermutlich nicht mehr als die Kälte, Unsicherheit und Traurigkeit, der ich entfloh. Was für ein Dreck! Zukunft, was ist das? Nein! Welchen Weg soll ich gehen, wo die Nacht verbringen? Warum überhaupt irgendwohin? Ohne Weg, ohne Ziel. Egal, wohin ich hingehe oder auch nicht, der Weg endet an derselben Biegung. Mir kommen meine eigenen Zeilen in den Sinn, sie passen für mich und mein Leben, das an einem Punkt angekommen
ist, wo das Ende näher scheint als jeder Anfang: Am Ende des Weges. Es war ein Traum, ich ging meines Weges in der Dunkelheit. Vor mir ein Weg, eingetaucht in diffuses Licht. Nur schemenhaft ließ sich die Umgebung erkennen, und weit voraus strahlte ein Lichtbogen zu mir. Mein größter Wunsch war, dieses Licht zu erkennen, zu wissen, was es war, woher es kam. Also ging ich, aber ich kam ihm nicht näher. Je schneller ich lief, desto mehr entfernte es sich. Blieb ich stehen, so blieb die Distanz gleich. So kam es, dass ich versuchte, dieses Licht, mein Ziel, zu vergessen, zu ignorieren. Doch auch nach Jahren der Wanderung, der Stagnation, hat sich das
Licht nicht verändert … und ich habe die Fähigkeit zu vergessen verlernt.
Ich fühle mich so unendlich einsam und allein gelassen, dass mir ein Kloß im Hals den Atem nimmt. Mein Blick verliert sich im Irgendwo und Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich krame nach einem Taschentuch. Das Dröhnen ist unerträglich laut. Auf einmal spüre ich eine feuchte Schnauze, die sich an meine Hände schmiegt. Ich habe dich vermisst, mein kleiner Freund. Wo bist du gewesen? Ich lange in eine Tüte, die zwischen meinen Habseligkeiten knistert. Bitte, ich habe das Brot extra aufgehoben. Ein trockener Brocken nach dem anderen verschwindet in seiner
Schnauze. So, das war der letzte. Was machen wir jetzt?
Statt einer Antwort geht der Hund ein paar Schritte, er dreht sich dann zu mir um. Nun komm, scheint er zu sagen.
Wo willst du mit mir hin? Mit meinem Karren folge ich ihm. Es ist egal, nur nicht alleinsein.
Er dirigiert mich durch ein mehr oder weniger perfekt konstruiertes Gewirr von Straßen, die mir fremd sind. Plötzlich bleibt er stehen. In diesem Moment öffnet sich eine Tür unweit von mir und ein Lichtschein fällt auf die Straße. Eine Silhouette winkt mir zu und eine warme Stimme ruft: Komm nur, der Tee wird dir gut tun. Überrascht sehe ich
von der Tür zum Hund und wieder zurück. Seine feuchte Nase stupst mich auffordernd, dann trottet der Hund den Weg zurück. An der Straßenecke dreht er sich noch einmal um. Ein leises Bellen, ein Blick. Dann folgt er seinem Weg.
Als sich die Tür hinter ir schließt, geht zwischen den Bäumen am Ende der Straße die Sonne auf.