„Das war ein mauer Abend gestern.“ Martón saß am Stammtisch neben dem Tresen und zählte die Einnahmen zusammen. Das Ergebnis passte in eine Hand. Er stützte den Kopf schwermütig auf seine großen Hände. Die ganze Arbeit – umsonst. Ihre kleine Csárda warf praktisch nichts ab! „Und die Reste kann ich vor die Schweine werfen!“ Evi sah ihn mit bitterem Blick über die Schulter an. „Ob die das zu würdigen wissen? Das liegt nicht an mir!“ Die Galle in ihren Worten ließ ihn zusammenfahren. Nein! An dir liegt es nicht! Nein, nicht! Du stehst nicht in der Küche. Martón erhob sich schwerfällig, sein rechtes Bein tat weh und sein Rücken. Das kommt nicht nur von der Arbeit, dachte er mit einem
Seitenblick auf seine Frau. Sie stand, die Hände in die Seite gestützt, vor ihm wie ein rothaariges Bollwerk in Kittelschürze. Sie verschoss giftige Blicke, gewürzt mit beißendem Spott. „Hättest du was Besseres gelernt, würde ich nicht hier mitten in der Pampa versauern!“ Martón konnte es nicht ertragen, wie sie ihn jetzt ansah. All die Verachtung, die aus ihrer frustrierten Miene sprach, wenn sie hinterm Tresen auf Gäste warteten! All die Häme, die sich täglich über ihn ergoss, wenn wieder kein Geld in die Kasse gefunden hatte! All die unerfüllten Wünsche, die der Wind in der Puszta verwehte. „Ich werde zu meiner Schwester fahren. Da habe ich, was ich brauche – vor allem bessere Gesellschaft als
Schweine, Hühner und …“ Sie machte bewusst eine Pause, ehe sie scharf hinzufügte: „Und dich!“ Er sah ihr hilflos nach, als sie ohne ein weiteres Wort nach hinten in die Wohnung lief. Ihre Absätze klapperten unnachahmlich. Sollte er ihr nachgehen? Mit ihr reden? Sinnlos. Er wusste nur zu gut, dass er ihren Tiraden nicht ausweichen konnte. Das hatten ihn die Ehejahre hier draußen gelehrt. In seine Küche kam sie nie; da hatte er seine Ruhe. Das war sein Reich seit fünfundzwanzig Jahren. Er hatte mit einem Kredit die Csárda eingerichtet und die Rezepte ausgepackt, die er in den Jahren zuvor in anderen Küchen gesammelt hatte. Hoffnungsvoll starteten sie am Rande der Puszta. Feine Gerichte zu niedrigen
Preisen sollten vor allem am Wochenende Dutzende auf ein Essen herlocken. Was in den ersten Jahren gut gelaufen war, entwickelte sich mehr und mehr zu einem einsamen Bemühen. Verzweifelt kämpften sie gemeinsam gegen die Leere in der Gaststube und in der Kasse. Dann flüchtete seine Frau das erste Mal vor dem Kummer zu ihrer Schwester. In den letzten Jahren war sie häufiger weg gewesen und hatte ihn mit allem allein gelassen. Ihre Schritte entfernten sich. Mit lautem Knall schloss sich die Tür. Totenstille kroch durch die geöffnete Hoftür herein, breitete sich bleiern aus und lähmte ihn. Martón ließ sich auf seinen Stuhl sinken und starrte die Wand an. Er hatte keine Lust aufzuräumen. Auf dem Herd stand der Topf mit
dem Gulasch. Wenn morgen niemand kam, blieb es für die Schweine. Benutztes Geschirr stand noch herum und der Boden war noch nicht geputzt. Einzig seine Gewürze standen fein säuberlich nebeneinander aufgereiht im Regal. Er erhob sich kraftlos. Wenn er nicht aufräumte, machte es niemand. Als die Sonne tief am Horizont stand, blutrot und riesig, saß Martón draußen auf der Bank, ein Glas Pálinka in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand. Wie lange war das her? Er hatte es ihr zuliebe sein gelassen, obwohl es ihm nicht leichtgefallen war. Die ersten Züge inhalierte er tief, dass ihm die Luft wegblieb. Er schnippte den Stummel in den Staub. Der Schnaps brannte, er tat gut für den Augenblick. Er steckte sich noch eine
Zigarette in den Mundwinkel und fingerte nach den Streichhölzern in der Jacke. Das leere Glas stellte er auf die Bank neben sich. Seine Gedanken flohen über die weiten Wiesen zurück in ihre ersten Jahre. Wie hatten sie sich geliebt! Wie groß war ihr Zusammenhalt gewesen! Nach der politischen Wende, die ihn in die Heimat zurückgeführt hatte, wollten sie in der alten Csárda glücklich sein. Gemeinsam sind wir stark, hatten sie betont und alles auf diese Karte gesetzt. Die ersten Jahre konnten sie zufrieden sein. Von früh an stand er am Herd und kochte in großen Töpfen, was ihm mittags in Terrinen und tiefen Tellern von Feldarbeitern und Holzfällern aus der Hand gerissen wurde. Und am Wochenende kamen Familien mit Kindern und ab und zu ein paar
Touristen, die hier draußen die wahre Puszta erleben wollten. Wenn es das Wetter gut meinte, stellte er das Dreibein auf den Platz vor dem Haus und kochte einen Kessel Guylas, ein Pörkölt oder ein Paprikás. Wenn einer seiner Freunde einen Wels geangelt hatte, gab es eine Halaszlé, eine Fischsuppe. Und an lauen Sommerabenden stellte er den Grill nach draußen und briet Wurst und Fleisch. Zuerst hatte seine Frau in der Küche mitgeholfen, aber sie suchte eher die Gesellschaft ihrer Gäste und flirtete gern mit dem einen oder anderen. Wenn die Stimmung an ihrem Höhepunkt angelangt war, hörte er sie die alten Lieder inbrünstig mitsingen und sah durch die Küchentür, wie sie tanzte. Evi kümmerte sich darum, dass alle fröhlich waren
und beseelt heimgingen. Ihn machte es glücklich, sie zu sehen. Seine Welt war in Ordnung gewesen. Seine Frau war zufrieden und sah glücklich aus. Und wenn sie dann im Bett eng gekuschelt lagen, war für ihn all die Arbeit vergessen. Als dann vor Jahren die ersten großen Betriebe schlossen und die Menschen nicht mehr unbefangen das Leben genießen konnten, saßen sie häufiger in der brütenden Hitze. In der Dämmerung räumten sie die Tische ab, schlossen die Tür und fielen müde in die Kissen. Da war seine Frau das erste Mal zu ihrer Schwester gefahren. „Es ist nicht viel zu tun, da kann ich doch … Sie hat Kinder.“ Für Kinder hatte ihre Zeit nicht gereicht, alle Versuche waren fehlgeschlagen. Er hätte gerne einen Sohn gehabt, dem er die
Csárda später hätte geben können, und ein kleines Mädchen, dessen weiches Haar ihn am Kinn gekitzelt hätte. Nichts dergleichen. Wehmütig schenkte er sich noch einen Pálinka ein. Wie lange würde sie diesmal fortbleiben? Morgen hatten sie ihre Silberhochzeit. Was würde sie sagen, wenn sie heimkäme? Vorwürfe und Schmähungen? Würde sie ihm sagen, dass sie das alles satt hatte? Dass er ein Nichts war und unfähig zu kochen? Sie betonte, dass sie keine Schuld am Scheitern hätte, die Männer würden gerne mit ihr … In der Stadt gäbe es zu Hunderten Männer, die ihr ein passendes Leben bieten könnten, eines, das sie glücklich machte! Da hatte er sie gefragt: „Warum kommst du zurück?“ Zuerst hatte sie darauf gesagt: „Weil ich dich
liebe.“ In den letzten Jahren hatte er darauf keine Antwort mehr bekommen. Im Schein der Außenbeleuchtung wirkte „sein kleines Reich“, wie er es nannte, seltsam friedlich. Er sah zum Stall hinüber, in dem die Muttersau mit ihren Ferkeln neben den Hühnern schlief. Ihr Schnarchen drang wie leise Musik zu ihm. Sie hinterfragten nichts, sie schliefen den Schlaf der Gerechten, das sollte ich auch tun, kam ihm in den Sinn. Er erhob sich und ging ein paar Schritte, sein Bein schmerzte immer noch. Über die Wiesen hatte sich die Nacht gelegt, es war finster geworden. Es war erstaunlich, wie schnell es abends wieder dunkel wurde. Kaum ging morgens die Sonne auf, ging sie am anderen Ende der Welt, die du kennst, wieder unter.
Lange verdrängte Ungeheuer und Monster bevölkerten plötzlich seine Gedanken. Fast glaubte er, nächtens wäre stets Halloween, wenn er früh morgens erwachte und den Schweiß von der Stirn wischte. Es knirschte im Gebälk, es raschelte sein schütteres graues Haar wie das Herbstlaub und sein Atem rasselte wie rostige Gespensterketten. Er wandte sich schaudernd ab. Ein Thriller reicht ... Sein Haus leuchtete mahnend, und die Akazien ringsum wachten über ihn. Am nächsten Morgen trat er aus der Tür hinaus. Die Sonne strahlte kürbissuppengelb. Er fühlte sich gut, sein Bein gab Ruhe und der Rücken tat nicht mehr weh. Mit einem Eimer Küchenabfälle ging er hinüber zu den Schweinen. Die Muttersau begrüßte ihn mit
anhaltendem Grunzen und die Kleinen quiekten aufgeregt. Er schüttete den Eimer im Trog aus, drehte den Wasserhahn auf und füllte die Tränken der Hühner. Ein paar Handvoll Futter streute er in ihr Gehege und ließ sie aus ihrem Verschlag. Mit einem Kaffee setzte er sich auf die Bank und blinzelte nachdenklich in die aufgehende Sonne. Mit einem Mal erhellte sich seine Miene: „Dass ich nicht gleich darauf gekommen bin!“ Er bräuchte ein richtig gutes Rezept, sodass die Leute wiederkämen, obwohl die Zeiten für niemanden rosig waren! Er lief hinein und griff in die Schublade unter dem Küchentisch neben der Tür. Sie quietschte, er bekam sie schwer auf. „Wie lange hast du da nicht nachgesehen, mein Freund?“, fragte er sich
und griff das Rezeptbüchlein seiner Tante. „Damit wird alles gut.“ Es würde frühestens zu Mittag der eine oder andere auf ein Glas vorbeikommen. Er sah sich in der Kühlkammer um. „Fleisch ist da, Gemüse, Zwiebeln, Paprika. Gut, auf geht's.“ Er würde viele Zwiebeln brauchen, halb so viele wie Fleisch. Mit einer großen Schüssel kehrte er an den Tisch zurück. Er nahm einen Schluck Wasser in den Mund. Der Trick funktionierte, nicht mal glasige Augen bekam er, wie viele Zwiebeln er auch in die Hände nahm. Mit dem Küchenmesser schnippelte er die Kartoffeln und Karotten. Das Fleisch landete in mundgerechten Häppchen in einer Schüssel. Er reihte die übrigen Zutaten auf einem großen Tablett auf – Salz, Pfeffer,
Knoblauchzehen, ein paar frische klein geschnittene Tomaten und rote Paprika, gewürfelten Sellerie, Kohlrabi, Rettich und Petersilie, Schmalz, ein paar Scheiben Mangalitzaspeck, Paprikapulver, Peperoni, Kümmel, Brühe, Rotwein und dann noch sein kleines Geheimnis, das dem Ganzen seine besondere Note gab, eine große Tasse Fischfond. Diese Finesse hatte er von seiner Tante übernommen. Sie hatte dazu gesagt: Ein bisschen muss sein, damit es gelingt. Mit großem Elan ging er an die Arbeit. Er holte das Dreibein aus der Ecke, stellte es mitten auf den Hof und hängte den größten Bogrács an die Kette. „Gulaschsuppe nach Art der Rinderhirten im Kessel zubereitet schmeckt noch mal so gut“, meinte er zu den
Schweinen, die ihm bei seinen Vorbereitungen zusahen. Die Gasflasche platzierte er in einigem Abstand und den Brenner direkt unter den Kessel. Er schleppte den Küchentisch und das Tablett mit den Zutaten heran. Er nickte. „Ich habe alles, was ich brauche.“ Mit jeder Zutat, die zur rechten Zeit im Kessel landete, hellte sich seine Miene auf. „Du hast nichts verlernt, mein Freund. Du bist ein guter Koch, wenn sie es auch nicht mehr interessiert.“ Er spie abfällig in den staubigen Boden. „Ihr wird der Mund offen stehen bleiben, wenn sie merkt, dass ich nichts vergessen habe.“
Der Duft, der dem Kessel entstieg, war verführerisch. Martón nahm einen kleinen Löffel und tauchte ihn in die köchelnde Suppe.
„Das ist nach meinem Geschmack!“ Als die Sonne den Horizont erreichte, hatte er die restliche Suppe in einen kleinen Topf umgefüllt, der Kessel stand sauber im Schuppen und die Küche blinkte und blitzte. Im Gastraum war ein Tisch festlich gedeckt und er hatte sich für sein Candellight-Dinner umgezogen. Da hörte er ihren Wagen über den Kiesweg auf den Hof fahren. Durch die Gardine beobachtete er, wie sie sich suchend umsah und ums Haus in die Wohnung ging. Er wusste, es würde noch dauern, bis sie zu ihm kam. Soll sie, dachte er und ein feines Lächeln umspielte seinen Mund. Er holte die Flasche, die er vor Wochen für einen besonderen Augenblick besorgt hatte, und dekantierte den Wein. Ein paar Tropfen fielen auf die
Tischdecke. „Mist!“, entfuhr es ihm. Extra die Decke tauschen? Nein. Er stellte die Karaffe drauf. „Dann merkt sie es nicht gleich.“ Mit einem Pálinka setzte er sich vors Haus auf die Bank. „Ich bin fertig.“ „Na, Martón, Schnaps! Geraucht hast du auch! Und das gerade an unserem Tag!“ Das helle Kleid mit den Blumenmotiven unterstrich das warme Rot ihrer Haare. „Wir haben Silberhochzeit, vergessen?“ Nein, das habe ich nicht vergessen.“ Er blieb ruhig, erhob sich und zog ein Tuch aus der Hosentasche. „Ich habe eine mordsmäßige Überraschung, extra für dich, Evi. Mach die Augen zu, bitte.“ „Du weißt, dass ich so was hasse.“ Sie drehte sich dennoch um, er verband ihr die Augen.
„Komm, ich führe dich.“ Behutsam lenkte er sie durch die Tür in den Gastraum an den Tisch. Er schob ihr den Stuhl zurecht „Setz dich bitte.“ „Das riecht lecker.“ „Extra für uns habe ich den Rinderhirten gemacht. Den Rest können morgen die Arbeiterheverputzen.“ „Den hast du lange nicht mehr gemacht. Hast du an meine Allergie gedacht?“, fragte sie unsicher. Und er erlöste sie von der Binde. „Evi, mach dir keine Gedanken. Soll ich Musik machen?“
„Gerne.“ Sie betrachtete anerkennend den geschmückten Gastraum und die festliche Tafel. Das knisternde Feuer in ihrem Blick, das
er einmal geliebt hatte und das so selten geworden war, glimmte auf. Ihr Blick strahlte im Schein der überall verteilten Kerzen. „Ich bin gleich zurück.“ Er tippte auf den Startknopf der Musikanlage im Regal hinterm Tresen und ging nach hinten. Während er in der Küche ihre beiden Teller herrichtete, hörte er sie die Melodie mitsingen. Über sein Gesicht huschte ein feines Lächeln, als er mit den Tellern in den Gastraum zurückkehrte. Sie hatte sich vom Wein eingeschenkt und Martón ein Bier hingestellt. „Schön, dass du heute wiedergekommen bist. Ich hätte sonst allein unseren Ehrentag begehen müssen. Danke für das Bier, Evi. Lass dir den Wein munden..“
Er stellte die Teller auf den Tisch, setzte sich
ihr gegenüber und sah sie prüfend an. Sie nahm einen Löffel. „Schmeckt es dir?“
„Der Rinderhirte ist dir vorzüglich gelungen. Danke, Martón.“ Sie hob ihr Weinglas und prostete ihm zu. „Auf einen gelungenen Abend.“
Mit jedem Löffel beruhigte sich sein Herzschlag, der noch vor Stunden bedrohlich hinter seiner Brust gepocht hatte. Sie nahm einen weiteren Schluck Wein, auf ihrer Stirn tauchten erste Schweißperlen auf. „Ordentlich gewürzt ist er.“ „Ich habe ihn nach Tantes Rezept gemacht.“ Sie leerte ihr Glas. „Wenn du es sagst.“ Als sie plötzlich mit irritierend großen Augen den Löffel weglegte, zitterte sie und versuchte zu sprechen, es kamen nur monstermäßige
Laute aus ihrem rot bemalten Mund. Dann fiel ihr Gesicht unsanft auf den Teller „Drei Schlucke und gut ist es.“ „Stirb langsam, Evi, du hast alle Zeit der Welt. Meine Liebe starb schon gestern.“ Martón stand auf und räumte ungerührt den Tisch ab. Den restlichen Wein kippte er in den Ausguss. Hinter dem Stall stand fertig gepackt sein Wagen. Er schwang sich dynamisch hinters Lenkrad, die Scheinwerfer warfen einen letzten grellen Blick auf die Csárda. Dann entschwand der falsche Rinderhirte in der Finsternis. Die monstermäßigen Schmerzen waren vergangen, sie trübten seine Fahrfreude nicht.
FLEURdelaCOEUR Eine echt gute Geschichte, liebe Katharina, auch ich habe sie sehr gern gelesen! Liebe Grüße zu dir, fleur |
Gast "Der falsche Rinderhirte - fb 91 - Randbeitrag" Ich hätte es mir eigentlich denken können, denn dies ist in der Tat nun mal Dein ganz spezielles Metier ♥... ...smile* Wenigstens hatte aber der 'Rinderhirte' ausgezeichnet geschmeckt und auch das 'ungarische Flair' ist Dir wieder einmal mehr super gelungen. Diese Geschichte hab ich sehr gern bei Dir gelesen, liebe Katharina... ...smile* LG Louis :-) |