Fantasy & Horror
Wolfsblut

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"Wolfsblut"
Veröffentlicht am 18. August 2021, 328 Seiten
Kategorie Fantasy & Horror
http://www.mystorys.de

Über den Autor:

Was man über mich wissen sollte?Ich schreibe unheimlich gern und freu mich über jede wahrheitsgemäße Kritik und Euren Kommentaren. Das Einzige, dass mich wirklich sauer macht ist? wenn Personen nicht zu den Stehen, was sie sind und sich verstellen oder die Eifersucht, wenn jemand Anderes besser ist als man selbst.
Wolfsblut

Wolfsblut

Buchbeschreibung

Buchbeschreibung:

Ich habe keine Ahnung, wer ich bin und wo hin mich mein Schicksal führt. Der Tod ihrer Eltern hat Layla Oliver aus dem Gleichgewicht gebracht. Auf der Suche nach Verständnis und Zugehörigkeit, gerät sie in höchster Gefahr. Denn nach zahlreichen, eigenartigen Unfällen muss sie sich eingestehen, dass im Schutz der Dunkelheit, jemand nach ihren Leben trachtet. Eine Welt voller magischen Mythen öffnet sich ihr und sie fragt sich, wem sie noch trauen kann und wem nicht….


2. Auflage, 2013/2014

© Alle Rechte vorbehalten.

Korrektorat:

© Sandra Winterboer © Julia von Böhlen © Sabine Egbers

Lektorat:

Cover: © Sandra Winterboer  


Danksagung Danke an alle Eure unterstützdenen Worte. Ohne Euch gäbe es keine 2. Auflage.  

Gedicht







Im Schein der silbernen Pracht, ist in dir das Tier erwacht. Höllischer Schmerz, erstickende Schreie. Du in dieser Form verweilst. Doch die Sonne nimmt ihr die Macht, der strahlenden Vollmondnacht.

Wolken hatten den aufgehenden Mond schon lange verdunkelt. Der Regen prasselte unerbittlich auf den Asphalt und ließ die Straßen glänzen. Auch die letzten Menschen suchten nun den Schutz ihrer Wohnungen auf, während sich der spärliche Verkehr lichtete. Ich erwischte mich, wie sich eine einzelne Träne in meine Augen schlich. Ich schluckte schwer und zog meinen Rucksack, das Einzige, was von meiner Vergangenheit übrig geblieben war, an meinen Körper. Mein langes, schwarzes Haar klebte an meiner durchnässten Kleidung, als die Straße endete und ich zitternd stehen blieb. Suchend fiel mein Blick über

meine Schulter, doch die Straße hinter mir war wie leergefegt. Schon seit Tagen wurde ich das Gefühl nicht los, verfolgt zu werden. Meine Panik ließ mich schneller werden, während ich hin und wieder in eine neue Straße einbog oder die Straßenseite wechselte. Langsam beruhigte ich mich wieder und strich mir das Regenwasser von der Stirn. Noch bevor ich mich ärgern konnte, dass ich direkt in eine Sackgasse gelaufen war, fuhr plötzlich ein Auto mit rasender Geschwindigkeit auf mich zu. Ich schrie und sprang so schnell wie möglich von der Straße und landete prompt mit dem Po in einer Pfütze. Mein Herz klopfte wie verrückt, sodass ich nicht bemerkte,

dass jemand auf mich zugerannt kam.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie sollten ins Krankenhaus, nur zur Sicherheit.“ Erst jetzt wurde mir klar, was die Frau von mir verlangte. Ich winkte ab und erhob mich langsam.

„Mir geht es gut, Ms …“

„Ich heiße Evangeline.“ Ihre Mitteilsamkeit überrumpelte mich ein wenig, sodass ich zunächst den Mann an ihrer Seite nicht zur Kenntnis nahm. „Ich fasse es nicht, dass dieser Mann einfach weitergefahren ist“, fluchte er und zog Evangeline an sich.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte er besorgt. Ich nickte stumm und klopfte mir den Staub von der Hose. „Ich wollte

geradeIhrer Freundin mitteilen, dass mir nichts fehlt …“, begann ich ihnen zu erklären, als die beiden sich ansahen und lauthals anfingen zu lachen.

„Da müssen Sie was falsch verstanden haben. Das ist Adam, mein Bruder“, betonte die Blondine. Adam reichte mir seine Hand, wobei mir nun die Ähnlichkeit der beiden auffiel. Beide hatten dieselben graublauen Augen und trugen dasselbe blonde Haar, das bei der jungen Frau bis zur Hüfte reichte und dem Jungen wuschelig vom Kopf abstand. Ich lächelte und nahm seine Hand entgegen. „Ich hab mich wohl verlaufen“, murmelte ich, überrascht über die Ehrlichkeit meiner Worte.

Evangeline jedoch bemerkte meine Unsicherheit nicht und griff nach meinem Arm. „Ganz in der Nähe befindet sich ein Krankenhaus …“ Ich riss mich los.

„Ich brauche ganz sicherlich kein Krankenhaus“, widersprach ich ihr. Das Letzte, was ich gebrauchen konnte, war jemand, der dumme Fragen stellt. „Entschuldigen Sie bitte unsere Aufdringlichkeit, aber meine Schwester sorgt sich um Ihre verletzte Hand.“ Ich hielt inne und sah das viele Blut. „Ohh!“ Ich taumelte ein paar Schritte zurück, bis mich Adam besorgt festhielt. „Vielleicht hat sie sich doch gestoßen, als sie gefallen ist?“, meinte Evangeline und sah

ihren Bruder besorgt an. Nickend sah er wieder zu mir.

„Es tut mir leid, aber es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit.“ Ich wollte mich gerade zur Wehr setzen und ihm erklären, dass meine Desorientierung daran lag, dass ich kein Blut sehen konnte, als mir auch schon schwarz vor Augen wurde.

„Wo bin ich?“ Panisch richtete ich mich auf und blinzelte gegen das grelle Licht. Es dauerte mehrere Minuten, bis ich wieder etwas sehen konnte, doch es beruhigte mich keinesfalls. Seufzend lehnte ich mich zurück an die weiße Wand.

„Ich bin Dr. Gray. Sie sind im

Marienhospital.“ Blinzelnd folgte ich der tiefen Stimme und beäugte den Mann im weißen Kittel. „Ich habe Sie untersucht und mich um Ihre verletzte Hand gekümmert, Ms …“

„Layla. Layla …“ Ich stockte, genau das hatte ich doch vermeiden wollen. Unbequeme Fragen, auf die ich selbst keine Antwort hatte. „Also gut, Layla“, musterte er mich und nahm das Klemmbrett von der Krankenschwester an, die soeben das Zimmer betreten hatte. „Außer dem leichten Fieber scheint Ihnen nichts zu fehlen.“ Ich nickte und schwang mich von der Liege. „Das habe ich meinen Samaritern auch gesagt, aber sie wollten …“ Bevor ich

meinen Satz beenden konnte, schlug er die Akte zu. „Nicht schon wieder! „Könnt ihr euch nicht einfach von uns fernhalten!“, zischte er mich an. „Verkriecht euch in euren Wald und lasst uns in Frieden!“Verärgert zog er sein Handy aus seinem weißen Arztkittel. „Könntest du bitte deine Brut abholen kommen? Sofort!“ Er legte abrupt auf und funkelte mich böse an. Finster blickte er nun zu mir. „Wenn du dich noch einmal in die Nähe meiner Tochter wagst, dann Gnade dir Gott!“, fauchte er mich an und schlug die Tür hinter sich zu. Ich musterte ein paar Sekunden die Tür, die mir vor der Nase zugeschlagen wurde, und dachte an den netten,

zuvorkommenden Arzt mit den graublauen Augen. Gleichzeitig fragte ich mich, wie ein Mensch in weniger als fünf Sekunden sein ganzes Wesen ändern konnte. Wütend raufte ich mir das Haar, wobei mein Blick auf meine verarztete Hand fiel. „Ich sollte es wohl dabei belassen und verschwinden“, murmelte ich. Langsam stieg ich von der Liege und griff nach meinem Rucksack, um meine Gedanken in die Tat umzusetzen.

„Nein!“, fluchte jemand lautstark. Ich befürchtete schon, dass der Arzt es sich doch noch anders überlegt hatte, als ich mich umdrehte. Dort beobachtete ich, wie er das Mädchen, meine unglückliche

Retterin, zusammenstauchte. Wut brodelte in mir auf. Ich ballte meine Hände und funkelte den Arzt, der mit dem Rücken zu mir stand, an. Was fiel ihm eigentlich ein, dem Mädchen Vorwürfe zu machen. Sie wollte doch nur helfen... 

Ich ging ein paar Schritte auf sie zu, als der Junge mir einen fragenden Blick zuwarf und mich schließlich anlächelte. Ich begann zu kochen. Wie konnte dieser Mistkerl nur so rumstehen und zusehen, wie seine geliebte Schwester zusammengestaucht wurde? Als ich weiter auf das Trio zuging, stieß er sich von der Wand ab, als würde er um jeden Preis verhindern wollen, dass ich mich

einmische. Dann jedoch entspannte er sich und wendete sich wieder den Streithähnen zu.

„Sie müssen Layla sein.“ Ich ignorierte die Brünette und starrte weiter auf den Arzt. „Ich bin Esther Randall. Mir wurde berichtet, dass Sie eine Mitfahrgelegenheit benötigen.“ Erst als die Frau mir die Sicht komplett verbaute, sah ich sie fragend an und musste eingestehen, dass sie verdammt gut aussah. Sie hatte langes, kastanienbraunes Haar, braune Augen und musste mindestens eins sechsundsiebzig groß sein. Ich seufzte. „Sie müssenDr. Grays

Gesprächspartnerin gewesen sein.“ Die Frau antwortete mir nicht, sondern nahm mir gleich den Rucksack ab und deutete mir, ihr zu folgen. „Das Wetter ist grauenhaft, also lassen Sie uns keine Zeit verschwenden. Alles Weitere können wir im Wagen besprechen.“ Ich wollte protestieren, doch die Frau war schon, samt meinem Rucksack, aus dem Krankenhaus verschwunden. Mit einem letzten Blick auf Adam, der zu lächeln schien, beugte ich mich und verließ schließlich trotzig das Krankenhaus. „Also wohin darf ich Sie bringen?“ Ich zuckte leicht zusammen, ließ sich jedoch nichts anmerken.

„Ich komme schon allein zurecht. Ich

wollte nur meinen Rucksack zurück.“

„Es wäre unverantwortlich, Sie bei diesem Wetter und ihrem Fieber durch die Straßen irren zu lassen“, bestand die Frau hartnäckig darauf, mich zu fahren.

„Ich wohne ganz in der Nähe, Sie müssen sich keine Sorgen machen“, log ich. Die Brünette winkte ab. „Ich bringe Sie heim.“ Die Frau sah mir zu, wie ich kapitulierte und in ihrenLand Rover einstieg. „Wo darf ich Sie hinbringen?“ Ich wusste, dass sie meine Lüge bereits durchschaut hatte, also zuckte ich mit den Schultern. „Irgendwo, wo man für wenig Geld ein Zimmer bekommt.“ Sie nickte und legte schließlich den Gang ein. „Sie sind noch ziemlich jung, soll

ich Sie nicht lieber zu Ihren Eltern oder einem Verwandten bringen?“

„Nein!“, unterbrach ich sie nervös. „Bin heute erst ausgezogen und renne sicherlich nicht beim ersten Problem wieder nach Hause.“ Dass dies nur die halbe Geschichte war, verschwieg ich ihr.

„Wo fahren wir eigentlich hin?“, wunderte ich mich, als wir an sämtlichen Hotels und Absteigen vorbeifuhren und die Stadtlichter hinter uns ließen. Panik breitete sich in meiner Brust aus. „Keine Sorge“, lächelte sie. „Wie war Ihr Name noch mal?“, packte mich die Furcht. Die Frau begann zu lachen. „Esther … Esther Randall. Sie müssen keine Angst vor mir

haben. Ich bin nur eine Frau, die etwas Gesellschaft benötigt und Ihnen die Möglichkeit auf eine kostenlose Unterkunft für die Nacht bietet.“ Es war sinnlos, jetzt hysterisch zu werden und die Autotür aufzureißen, um aus dem fahrendenLand Rover zu springen. Wir verließen die Hauptstraße und folgten einer holprigen Ausfahrt. Ich ignorierte mein Unterbewusstsein, das mir beipflichtete, dass ich mich mit einer Fremden auf dem Weg direkt in den Wald befand, als der Wagen unerwartet stehen blieb. „Wir sind da.“ Dass sich mit diesen Worten mein Leben grundlegend verändern würde, konnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht erahnen.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen weckten mich die warmen, sanften Sonnenstrahlen und ich fühlte mich besser denn je. Meine Augen hielt ich geschlossen und sog meine Umgebung in mich hinein: das leise Zwitschern der Vögel, das Rascheln der Bäume im Wind und der frische Pfefferminzduft, der mir um die Nase wehte. Schließlich öffnete ich die Augen und mir entfuhr ein Schreckensschrei, als ich in die Augen eines fremden Mädchens sah. „Mein Top steht dir gut.“ Ich zog die Decke bis unter das Kinn und starrte das Mädchen an. Sie trug ein orangefarbenes T-Shirt, dazu Jeans und Sneaker. Ihr kastanienbraunes Haar hatte

sie zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. „Wer bist du?“

„Und du?“, beantwortete ich ihre Frage mit einer Gegenfrage.

„Solltest du nicht im Studienzimmer sein und lernen, Tabea?“, erschien eine weitere junge Frau in der Eingangstür und ließ das Mädchen nicht zu Wort kommen. Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Geh schon!“, forderte sie sie auf. Grummelnd drehte sich das Mädchen um und verließ die Hütte.

„So, dann erzähl mal. Wer bist du und was machst du im Haus meiner Mutter?“

„Stella, Schätzchen“, kam in diesem Moment meine Gastgeberin aus ihrem Schlafzimmer.

„Mum, wer ist dieses Mädchen?“

„Eine Bekannte von Damon und mein Gast.“

„Nicht der schon wieder!“

„Stella!“, ermahnte Esther ihre Tochter. „Layla braucht ein wenig Hilfe, damit sie sich einleben kann. Also mach es ihr nicht noch schwerer, als es ihr sowieso schon fällt.“

„Ich sollte jetzt vielleicht gehen“, machte ich mich bemerkbar."Nein!", sagte Esther während Stella im gleichen Moment "Ja!", rief.

„Layla, Sie sind mein Gast. Meine Tochter hat nicht die Befugnis, jemanden aus diesem Haus herauszuschmeißen.“

Stella funkelte mich wütend an.

„Kann ich bitte mit dir sprechen, Mum? Unter vier Augen!“, brummte sie und sah mich dabei an. „Frühstücken Sie doch schon mal, Layla. Ich leiste Ihnen Gesellschaft, sobald ich mit meiner Tochter gesprochen habe.“

Mit diesen Worten verließ sie gemeinsam mit ihrer Tochterdie Hütte.

Ich erinnerte mich an das Gespräch mit Esther, als wir gemeinsam meine Sachen zum Trocknen aufgehängt hatten. Sie hatte von ihren Töchtern erzählt, wobei die Jüngere im selben Alter wie ich und erst vor kurzem ausgezogen war. Schließlich hatte sie mir ein Zimmer angeboten, doch ich hatte sie überreden

können, dass das Sofa vollkommen ausreichend war. Ich sah aus dem Fenster und beobachtete, wie die beiden sich offensichtlich stritten.

Kopfschüttelnd fasste ich wieder einen klaren Gedanken und stopfte meine Kleidung zurück in meinen Rucksack. Die Frage, die sich in mein Unterbewusstsein drängte, ignorierte ich einfach. Warum ist mein Leben nur so verkorkst?

„Sie wollen schon gehen?“ Beim Klang von Esthers Stimme schreckte ich leicht zusammen. Lächelnd drehte ich mich zu ihr um. „Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich aufgenommen haben. Ich sollte mich wohl auf den Weg machen und mir

ein Zimmer suchen.“

„Aber, aber“, schüttelte sie den Kopf. „Sie sind hier immer willkommen, Layla.“

„Sie sollten sich um Ihre Familie kümmern und nicht um eine Fremde wie mich“, verneinte ich. „Wenn du nur wüsstest“, flüsterte Esther.  „Sie haben mir doch gestern erzählt, dass Sie wissbegierig sind und Bücher lieben …“, wechselte Esther das Thema. „Dann wird Ihnen sicherlich unsere Bibliothek gefallen.“ Sie griff nach meinem Arm und zog mich mit nach draußen.

Der Regen war bereits versiegt und hinterließ eine wunderschöne, glänzende

Natur. Erstaunt riss ich meine Augen auf. Die großen Bäume und die kleineren Sträucher spendeten den Wildblumen Schatten . Libellen und Schmetterlinge flatterten von Blume zu Blume und ließen den Ort wie ein Paradies wirken. „Wow“, hauchte ich, während ich einen Schritt vorwärts machte. „Tut mir leid. Ich hätte Ihnen die Möglichkeit geben sollen, sich umzuziehen“, meinte Esther entschuldigend. Ich schüttelte den Kopf und zog meinen nackten Fuß aus dem Schlamm. Wie hypnotisiert ging ich auf den Waldrand zu und ließ mich auf dem matschigen Waldboden nieder. „Wunderschön“, flüsterte ich und betrachtete die Weinraute und den

zahlreichen Baldrian um mich herum. „Ich habe noch nie so viele Wildkräuter an einer Stelle wachsen sehen.“ Leise raschelte das Laub der großen Linde über mir, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte.

„Wir haben einige Exemplare hierher umgesiedelt, damit sie nicht von ahnungslosen Menschen zertrampelt werden.“ Ich nickte und sah Esther an. „Ich frage mich gerade, wie es wohl sein mag, wenn im Sommer alles blüht.“ Esther lachte.

„Ihre Begeisterung für Pflanzen ist faszinierend. Immerhin sind Sie ein Stadtmensch.“ Ich schüttelte den Kopf. „Meine Eltern …“ Ich stockte und

ermahnte mich. Keine Familiengeschichten würden mir diesen Moment zerstören. „Mich hat es schon immer in die Natur gezogen. Dieses Stadtleben macht mich irgendwie krank.“ Esther nickte, als würde sie mich verstehen. „Ich weiß Ihre Leidenschaft zu schätzen, aber ich denke, Sie sollten sich eine Dusche genehmigen, bevor ich Ihnen die Bibliothek zeige.“ Verwirrt sah ich zu Boden und starrte auf den Matsch, in den ich mich gekniet hatte. Mein Gesicht färbte sich rot und Esther begann zu lachen. „Sie erinnern mich an meinen Mann.“

Plötzlich verstummte sie, während ich mich erinnerte, dass sie mir erzählt

hatte, dass sie ihren Mann bei einem schrecklichen Unfall verloren hatte. Plötzlich fragte ich mich, ob es wirklich ein Unfall war oder ob mehr dahintersteckte. Hatte diese Frau das gleiche Leid erfahren müssen, wie ich es vor ein paar Jahren erleben musste? Ich schüttelte mich, um meine Erinnerungen an die Vergangenheit loszuwerden, und stand auf. „Sie haben recht. Ich sollte duschen und mich umziehen gehen.“ Ohne in Esthers trauriges Gesicht zu sehen, stand ich auf und ging zurückzur Hütte. „Nennen Sie mich doch einfach Layla“, bot ich ihr höflich das Du an. „Ich bin Esther“, lächelte sie mich an und folgte mir in die Hütte.

Frisch geduscht schlüpfte ich in meine dunkle Jeans, mein braunes T-Shirt und meine schmutzigen Turnschuhe. „Dann können wir ja jetzt los.“ Ich nickte und folgte Esther über die Lichtung. Ich fühlte mich, als wäre ich in einer fremden Welt gelandet, als wir an weiterenkleinen Hütten und Zelten vorbeigingen. Krampfhaft versuchte ich, die stechenden Blicke der anderen zu ignorieren, während Esther hier und da etwas erklärte. Doch sobald ich in die Nähe anderer kam, verschwanden sie in ihreHütten oder Zelte, als sei ich ein Eindringling. So viel Feindseligkeit machte mich wütend. Ich hatte ihnen doch nichts getan. „Du musst Layla

sein“, riss mich jemand aus meinen Gedanken. Ich nickte und erkannte das Mädchen mit dem Pferdeschwanz wieder.

„Woher …?“

„Du bist das Gesprächsthema Nummer eins hier. Alle fragen sich, wer das unheimliche Mädchen ist, das Esther bei sich aufgenommen hat.“ Sie kannten mich doch gar nicht, steigerte sich meine Wut. Tabea hingegen sah ihre Mutter an.

„Wo wolltet ihr zwei denn hin?“

„Ich wollte Layla unsere Bibliothek zeigen.“ Tabea sah mich an und verzog angewidert das Gesicht. „Tut mir leid, aber Bastien hat heute die Bibliothek früher geschlossen“, sah sie mich verschwörerisch an. „Aber ich kann ihr

ja zeigen, was die coolen Mädchen hier so treiben. Komm.“ Tabea hakte sich bei mir ein und zog mich mit sich.

„Wir wissen immer noch nicht, woher das Fieber kommt“, ermahnte Esther ihre Tochter. „Erzähl ihr also keine Schauermärchen“, rief sie uns hinterher.

Sie zog mich noch einige Meter weiter, bevor wir an einer Gruppe von Bäumen stehen blieben. „Gern geschehen“, grinste sie mich an. Ich sah sie verwirrt an. „Meine Mutter kann sehr aufdringlich sein, wenn es um die Bildung junger Menschen geht.“ Sie verdrehte ihre die Augen. „Du müsstest sie mal erleben, wenn ich ihr zu erklären versuche, dass

Schule nicht das Einzige auf der Welt sei.“

„Ich lese gern“, hatte ich das Gefühl Esther in Schutz nehmen zu müssen, immerhin wollte sie mir nur einen Gefallen tun. „Am liebsten setze ich mich gleich unter einen dieser Bäume und nehme mir das Buch.“ Ich zeigte auf das Buch, dass sie unter ihrem Arm trug. Tabea lachte und hielt das Buch vor ihrer Brust, damit ich den Titel lesen konnte.

„Pflanzenkunde - Einsatz in der Medizin“, murmelte ich vor mich hin und sah, wie Tabea ihr Gesicht verzog. „Ich weiß, was du jetzt denkst. Was macht eine Person wie ich mit einem so langweiligen Buch über Quacksalberei

der Neuzeit?“ Tabea zuckte mit den Schultern. „Meine Mutter ist der festen Überzeugung, dass ich dieses Zeug eines Tages gebrauchen werde. Wenn du mich fragst, ist das alles nur Unfug“, zwinkerte sie mir zu. Ich musste an all die Nachmittage denken, die ich im Garten mit meiner Mutter verbracht hatte, und schließlich an unseren kleinen Campingtrip, der mich vom Gegenteil überzeugt hatte.

Ist doch alles nur Unkraut, hatte ich ihr an den Kopf geworfen und war schließlich mit nichts weiter als einem Schlafsack im Wald gelandet. In den nächsten Tagen wurde ich jedoch besseres belehrt. Schnell lernte ich das

das vermeintliche Unkraut nicht meinen Hunger  stillte sondern auch Leben rettete oder zu mindestens Verletzungen heilen ließ. Von nun an versprach ich, das Geschenk der Natur anzunehmen und sah von da an die Welt mit anderen Augen. Bevor ich Tabea jedoch vom Gegenteil überzeugen konnte, zuckte sie bereits mit den Schultern. „Genug von den unwichtigen Dingen des Lebens. Erzähl mir etwas von dir. Wo kommst du her? Und was ist passiert, dass du bei meiner ach so fürsorglichen Mutter gelandet bist?“

Genau diese Situation hatte ich vermeiden wollen. Umso länger man an einem Ort blieb, umso mehr

unangenehme Fragen wurden einem gestellt. Lässig zuckte ich mit den Schultern. „Ich bin von zu Hause weg und ein wenig durch die Stadt gegeistert, als ich gedankenverloren eine Straße überqueren wollte und beinahe angefahren wurde.“

Ich deutete auf meinen rechten Arm. „Ich wurde ins Marienhospital und anschließend von deiner Mutter hierher gebracht.“

„Ein Auto, hmm.“ Ich nickte. „Dann hat Evie sich gut um dich gekümmert?“

„Du kennst das Mädchen?“ Tabea nickte. „Sie ist ... Sie ist eine Freundin. Unsere Eltern waren einst gut befreundet.“ Ich wollte gerade nachhaken, warum die

Freundschaft in die Brüche gegangen war, da sah sie mich fragend an. „Und?“

„Was und?“

„Evie hat dich ins Krankenhaus gebracht, damit ihr Vater sich um deine Verletzung kümmern kann. Wie hat er reagiert, als er erfuhr, dass du zu uns gehörst?“

Ich blinzelte ein paarmal.

Zu uns gehörst …, schwirrten mir ihre letzten Worte durch den Kopf. „Er muss doch förmlich explodiert sein.“ So hätte man es auch interpretieren können, erinnerte ich mich an seinen Wutanfall. „Er muss dir Blut abgenommen haben“, kicherte sie. „Mum meinte, du hattest eine erhöhte Temperatur, ich schätze, er

wollte der Ursache auf den Grund gehen.“ Was Tabea an den Umständen so amüsierte, verstand ich nicht.

„Er muss den Verstand verloren haben. Wenn ich daran denke, was das letzte Mal passiert ist, als einer von uns bei ihm im Krankenhaus gelandet ist …“ Sie erschauderte.

„Das reicht, Tabea“, kam in diesem Moment Stella um die Ecke. „Du hast Mum gehört. Sie weiß nichts von uns“, ermahnte sie ihre Schwester. Tabea ignorierte sie. „Hast du nicht Hausaufgaben zu machen oder so?“ Tabea schüttelte den Kopf.

„Du weißt, dass Bastian nie Hausaufgaben aufgibt.“„Na schön, dann

kümmere dich endlich um deine freiwilligen Studien.“ Tabea murmelte etwas Unverständliches, bevor sie mich entschuldigend ansah und ging.

„Sie plappert immer solch einen Quatsch“, meinte Stella eher zu sich, als dass es an mich gerichtet war. „Du solltest wissen, dass ich dich nicht besonders leiden kann.“ Sie sah mich an. „Es liegt nicht an dir, es liegt an den Umständen, wie du dich in unser Leben einmischst.“ Sie hob ihre Hand, um mich am Sprechen zu hindern, als ich etwas erwidern wollte. „Meine Mutter jedoch, Gott weiß, was in sie gefahren ist, hält große Stücke auf dich. Ich warne dich, wenn du sie enttäuschst, solltest du

einigen Leuten besser nicht mehr über den Weg laufen.“ Ihre Drohung machte mich zugleich wütend und stolz. Solche Familienbande hatte ich noch nie erlebt. „Keine Sorge. Ich werde gleich meine Sachen packen und von hier verschwinden.“ Ich drehte mich um, um mich aus dem Staub zu machen. „Du solltest dir gut überlegen, ob es das ist, was du machen solltest. Meiner Mutter würde es wahrscheinlich das Herz brechen.“ Mit diesen Worten verschwand Stella blitzschnell zwischen den Bäumen des Waldrandes.

Kapitel 3

Ich seufzte und strich durch mein langes Haar.Was war nur mit diesen Leuten los?

Ich hatte ihnen nichts getan und trotzdem behandelten sie mich wie eine Aussätzige. Nicht dass mich das störte, immerhin war ich mein Leben lang allein gewesen. Geistesabwesend folgte ich Stella in den Wald und ließ mich schließlich auf einen stumpfen Baumstamm nieder. Warum ärgerte es mich plötzlich, dass sie mich wie einen Außenseiter behandelten? Ich kannte die Menschen nicht einmal, und trotzdem saß ich hier und fragte mich, was ich falsch gemacht hatte. Es war zum Verzweifeln. Ein leises Knacken und ein darauffolgendes Rascheln des Gebüsches hinter mir ließen mich zusammenfahren. „Wer ist da?“, drehte ich mich um.

Niemand antwortete mir, doch das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ mich nicht mehr los. Ich machte mich auf den Weg zurück und wunderte mich, dass ich so weit in den Wald hineingelaufen war. Als ich leises Knurren hinter mir vernahm, wurde ich schneller. Panisch und außer Atem erreichte ich schließlich den Waldrand. Der Blick über meine Schulter verriet mir jedoch, dass ich langsam meinen Verstand zu verlieren schien. Nachdem ich einige Male tief eingeatmet hatte, richtete ich mich auf und sah zum Himmel empor. Dicke Wolken verdeckten den Himmel und es wehte ein stickiger  Qualm herüber. Plötzlich wurden mir zwei Sachen klar.

Erstens waren es keine Wolken, die den Himmel verdeckten, sondern dunkler, stickiger Rauch. Und zweitens, dass der Brand ganz in der Nähe sein musste. Ich stolperte und rannte schließlich über den Platz, bis ich ein großes Gebäude erreichte, das in Flammen stand. Ich sah mich um, um jemanden zu finden, den ich bereits kannte, und entdeckte schließlich Esther. Neben ihr standen Stella und ein unbekannter Mann, dessen Hand auf Esthers  Schulter ruhte. Tränen liefen ihr stumm über das Gesicht.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich ging auf sie zu und bekam lose Gesprächsfetzen mit. „Explosion … keine Verletzte … Das Randall-Mädchen

ist verloren …“ Ich wollte innehalten, stolperte jedoch und ging zu Boden. Ich keuchte. Langsam ließ ich meinen Blick erneut zu Esther schweifen. Sie weinte, während sie von zwei Männern festgehalten wurde, damit sie keine Dummheiten machen konnte. Ich erhob mich, ignorierte die anderen, die mir vorwurfsvolle Blicke zuwarfen, und beschleunigte meinen Gang.

„Was ist hier los, Esther?“ Sie drehte sich zu mir um, riss sich von den Männern los und nahm mich in die Arme. „Layla, du lebst!“, schluchzte sie. „Wo ist Tabea? Ihr wart doch zusammen, oder?“ Mein Blick fing das traurige Gesicht von Stella auf. Sie schüttelte den

Kopf. Es machte mich wütend, dass Stella von mir verlangte, Esther anzulügen. Ich befreite mich aus Esthers Armen und sah sie an. „Tut mir leid. Tabea musste noch etwas erledigen und hat mich allein zurückgelassen.“

Esther senkte den Kopf und sah mich dann hoffnungsvoll an. „Hat sie gesagt, zu wem sie gehen will?“ Ich schluckte und sah abermals zu Stella, die nervös mit den beiden Männern sprach. „Mach dir keine Sorgen um sie“, flüsterte ich ihr zu.

„Ich hole sie da heraus.“

Derweil passierten gleich mehrere Dinge auf einmal. Der hintere Teil des Gebäudes erlag den Flammen und stürzte

ein, die Männer packten Esther erneut und ich rannte los. Ich rannte so schnell, dass niemand mich aufhalten konnte.

Nicht, dass es jemand versucht hätte, außer vielleicht Esther, die mir hinterher schrie und versuchte, sich aus den Griffen der Männer zu befreien. Ohne einen Gedanken an die Gefahr zu verschwenden, in die ich mich da begab, rannte ich in das brennende Gebäude hinein. Wie dämlich das war, wurde mir erst klar, als ich einem fallenden Balken auswich und die Hitze des Feuers auf meiner Haut spürte. Vor mir erstreckte sich ein langer Flur mit meterhohen Wänden und einer großen Holztreppe, die genau in diesem Moment den Flammen

erlag und mich aus meiner Trance riss. „TABEA!“, schrie ich, während ich versuchte, mich zu orientieren. Es musste doch einen Weg geben, um das Mädchen zu retten. Ich seufzte und schloss die Augen. Wie war ich bloß auf die glorreiche Idee gekommen, in ein völlig fremdes Gebäude zu stürmen, das brannte? Ich ballte die Fäuste und versuchte, mich zu beruhigen. „Ich bin die Einzige, die uns hier rausbringen kann“, sagte ich entschlossen zu mir. Ich holte tief Luft oder versuchte es zumindest, denn das Luftholen verursachte große Schmerzen in meiner Brust. Ich musste mich beeilen. Die unerträgliche Hitze machte mir

allmählich zu schaffen und der Rauch trug auch nicht viel dazu bei, dass ich Tabea fand. Ich taumelte nach vorn, als mich ein Hustenanfall überfiel. Meine Augen tränten bereits, mein Hals fühlte sich schrecklich rau an.

Ich würde es nicht schaffen, dachte ich. Ich würde hier qualvoll ersticken, bevor ich verbrannte. Das war der Moment, in dem einem das bisherige Leben eigentlich in Zeitlupe abgespielt wurde, ich jedoch sah nur den dunklen Pferdeschwanz und die bitteren Tränen von Esther. Ich lachte verbittert.

„Seid ihr von allen guten Geistern verlassen!“, schrie Esther. „Meine

Tochter ist in diesem Gebäude. Lasst mich gefälligst los!“ „Wir können nichts mehr für sie tun.“ Esther drehte sich zu dem bleichgewordenen, schwarzhaarigen Mann um und funkelte ihn an. „Weißt du eigentlich, was du da sagst? Sie ist dein Patenkind“, giftete sie ihn an. „Und deine Nichte“, flüsterte sie. „Ich habe keine Nichte!“, knurrte er in dem Moment, als ein weiterer Teil des Gebäudes in sich zusammenfiel. „Connor …“

„Eric hat recht, Esther. Wir können nichts mehr für die beiden tun“, antwortete der Mann an ihrer linken Seite. „Ich kann von niemandem verlangen, sein Leben zu riskieren.“

„Sie ist meine Tochter! Sie gehören beide zu uns!“

„Ich weiß“, seufzte er, während sie in seine Arme fiel. Esther schluchzte, als plötzlich ein Fenster zerschellte. Flammen schlugen nach draußen, gefolgt von einer lauten Explosion. „Das war das Labor“, wendete sich jemand an den jungen Mann. „Du weiß, was du zu tun hast, Wyatt.“

Der Mann nickte. „Alle Mann sofort weg hier!“, schrie er. „Bring Esther von hier fort, Eric.“

„Ich will hier nicht weg“, weigerte sie sich. „Eric!“, richtete Connor sich erneut an den Mann. „Bring sie in Sicherheit und sag deinem Bruder Bescheid, dass

wir seine Hilfe brauchen.“

„Connor, da bewegt sich etwas direkt vor dem explodierten Fenster!“, rief Wyatt und stürmte auf das brennende Gebäude zu, noch während er sprach.

„Tabea!“, schrie Esther und riss sich von den Männern los, um Wyatt zu folgen. Noch bevor sie ihn erreichte, hatte er bereits den leblosen Körper des Mädchens in Sicherheit gebracht. „Sie lebt“, bestätigte Wyatt ihr. Schluchzend ging sie zu Boden und bettete den Kopf ihrer Tochter auf ihrem Schoß, als sie plötzlich zu husten und würgen begann. „Tabea!“, krächzte sie und nahm sie glücklich in den Arm. „Du lebst!“

„Layla“, krächzte Tabea. „Wo ist sie?“

Esther blickte auf das in Flammen stehende Haus, während Tränen über ihre Wangen liefen. „Nein …“, hauchte Tabea.

„Das kann nicht sein! Sie hat mir doch das Leben gerettet!“, schluchzte sie. Esther sah ihre Tochter an und schrie: „Wyatt! Layla muss da irgendwo noch liegen!“ Doch er war zu weit weg, als das er sie hören konnte. „Wir müssen ihr helfen“, klammerte sich Tabea an ihre Mutter. Esther nickte und richtete sich auf, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. „Bleib bei deiner Tochter. Ich kümmere mich um Layla.“ Esther blickte in die goldenen Augen ihres Anführers und nickte. „Sie gehört zu mir, Connor.

Tu ihr nicht weh.“ Er nickte und verschwand in den dichten Rauch. „Pass auf dich auf“, flüsterte sie, bevor sie ihre Tochter nahm, um sie in Sicherheit zu bringen.

„Hast du …?“ Connor nickte, als Esther die Zimmertür ihrer Tochter leise hinter sich schloss. „Ist sie …“ Abermals nickte er. „Sie hat es schwer erwischt, vielleicht solltest du sie ins Krankenhaus bringen.“ Esther drehte sich um und starrte an die Tür, hinter der ihre Tochter schlief. „Mach dir keine Sorgen um sie. Ich bleib hier und melde mich, sobald sie aufwacht.“

„Danke“, umarmte sie ihn. „Bist du dir

ganz sicher, dass du das allein schaffst?“ Er zuckte lässig mit den Schultern und lehnte sich an den Türrahmen. „Das Feuer haben wir bereits gelöscht und die anderen kümmern sich um die Verletzten. Ich schätze, sie werden ein paar Stunden ohne mich klarkommen.“ Esther sah ihn ernst an.

„Jetzt verschwinde schon. Wyatt wartet am Auto. Er wird dich zu Damon fahren.“ Esther wendete schuldbewusst ihren Blick ab.

„Lass mich raten. Du wirst Wyatt abwimmeln und einen anderen Weg finden, Layla zu helfen. Du gehst ihm aus dem Weg.“Conner fuhr sich seufzend durch sein schneeweißes Haar. „Zum

Sonnenaufgang bin ich wieder hier“, hielt sie neben ihm inne. „Conner? Danke, dass du sie nicht rauswirfst“, meinte sie und rannte an ihm vorbei. „Ich tu, was ich tun kann, aber ich kann keine Wunder vollbringen“, seufzte er. „Ich schätze, unser ruhiges Leben hat soeben ein Ende genommen“, ließ er sich auf dem Sofa fallen und starrte an die geschlossene Zimmertür.

Kapitel 4

Es waren gerade mal sieben Minutenvergangen, als Adam in das besorgte Gesicht seiner Schwester sah und sich auf das Schlimmste gefasst machte.Evie hatte von einem medizinischen Notfall gesprochen, also

hatte er alles stehen und liegen lassen und war in Windeseile nach Hause gerast. Das Einzige, das Evie ihm erzählt hatte, war, dass das Opfer einer guten Freundin das Leben gerettet und damit ihr eigenes in Gefahr gebracht hatte.Das aufdringliche Klingeln riss ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn zu Hochform auflaufen. Er riss die Tür auf und erschrak.

„Esther?“ Er sah in ihr rußbeschmutztes, tränenüberströmtes Gesicht. „Sie liegt auf der Rückbank. Ich … Sie ist nicht ansprechbar und ihre Haut, verdammt ihre Haut ist …“, schluchzte sie.

„Esther, ich …“

„Ich kümmere mich darum“, unterbrach

Evie ihn und legte ihre Hand beruhigend auf die Schulter der älteren Frau.

„Adam, würdest du bitte …“ Sie deutete auf denLand Rover, der am Straßenrand parkte. „Ich mach dir erstmal einen Tee, Esther. Adam kümmert sich um sie.“ In Esthers Augen funkelte zugleich Dankbarkeit und Hoffnungslosigkeit, als sie Adams Hände packte und ihm direkt in die Augen blickte. „Danke“, sagte sie, bevor sie Evie in die Wohnung folgte.

Während die Stimmen der Frauen verstummten, starrte Adam hinunter auf den Wagen. Um wen es sich wohl handelte? So erschreckend, wie Esther ausgesehen hatte, musste sie dieser

Person verdammt nahestehen.

Vielleicht Stella oder Tabea. Er dachte an die zwei Frauen. Was hatte Evie noch behauptet? Eine Heldin, die einer Freundin das Leben gerettet hatte …

Den Eid, den er vor langer Zeit geschworen hatte, verbot ihm, eine Hilfe suchende Person abzuweisen, doch in diesem Fall war es komplizierter. Er befand sich in einer Zwickmühle aus Pflichtbewusstsein und ethischen Ansichten und Regeln.

„Scheiß auf die Regeln!“, fluchte er und rannte auf den Wagen zu. Es war bereits dunkel geworden, sodass er nicht erkennen konnte, um wen es sich handelte. Was er jedoch erkannte, war,

dass eine Frau circa eins achtundsechzig groß war und bewusstlos auf der Rückbank lag, als würde sie schlafen. Als erstes fiel ihm die angesengte Kleidung auf, dann das lange schwarze Haar. „Das ist doch das Mädchen von neulich“, fluchte er und beugte sich über die Rückbank, um Layla aus dem Auto zu heben.

„Ich brauche sofort etwas kaltes Wasser und saubere Tücher“, bellte er, als er die Wohnung betrat. „In der Küche haben wir den Erste-Hilfe-Koffer, oder? Ich brauche sämtliches Verbandmaterial, das du finden kannst.“ Evie nickte und sprintete los. „Esther, was ist mit ihr

passiert?“, wollte er wissen, während er seiner Schwester die Schüssel mit dem kalten Wasser abnahm.

„DasScolarum hat gebrannt“, zitterte ihre Stimme.

„Sie ist in das Gebäude gerannt, um Tabea zu retten“, schluchzte sie nun. „Idiotin!“, murmelte er, während er die notdürftig angebrachten Verbände löste.

„Sie ist aus dem Fenster gesprungen, kurz bevor die Flammen sie erreichen konnten.“

„Wie geht es deiner Tochter?“

„Sie war ansprechbar und hat sich furchtbare Vorwürfe gemacht, dass sie Layla in Gefahr gebracht hat. Connor passt auf sie auf.“

„Ich hoffe, ihr werdet ihr das zugutehalten.“ Bevor Esther etwas erwidern konnte, rief er nach seiner Schwester. „Unternimm mit Esther doch einen kleinen Spaziergang. Ich ruf euch an, wenn ich hier fertig bin.“ Esther protestierte, doch Evie schüttelte den Kopf. „Wir stören ihn nur bei der Konzentration auf seine Arbeit und glaub mir, wenn ich dir sage, dass es eine schlechte Idee ist, ihn dabei zu stören.“ Esther sah zu Layla, bevor sie widerwillig Evie folgte. Während die Tür ins Schloss fiel, tauchte er das Tuch abermals ins Wasser. „Was hast du dir nur dabei gedacht!“, wischte er den schwarzen Ruß aus ihrem Gesicht. Er

musterte sie, aber er fand einfach nicht den Grund, warum sie sich einer solchen Dummheit ausgeliefert hatte. „Warum riskierst du dein Leben, für eine Fremde?“, fragte er sich seufzend. Er schloss die Augen und ließ seine Hände über ihren Körper schweben.

Kapitel 5

Esther drehte sich um und sah geradewegs in das erleuchtete Fenster. Für die Nachbarn würde es so aussehen, als würde das blaue Licht eines Fernsehers zucken, doch sie wusste es besser. „Lass ihm ein wenig Zeit. Er wird das schon wieder hinbekommen“, redete Evie beruhigend auf sie ein. Schließlich

nickte Esther und folgte ihr die Straße entlang. „Erzählst du mir jetzt die ganze Geschichte, oder soll ich mich mit Halbwahrheiten herumschlagen?“ Erschrocken fuhr Esther zusammen und sah das Mädchen fragend an. Es hatte schon immer einen sechsten Sinn für Halbwahrheiten und sie bekam immer, was sie wollte.

„Evangeline!“, ermahnte Esther sie, doch sie hatte keine Chance. Sie war ihrer Mutter einfach zu ähnlich. „Ich hab doch gesagt, dass sie Tabea das Leben gerettet hat.“

„Stimmt. Was mich interessiert ist, warum ihr sie nicht aufgehalten habt.“ Sie hielt inne. „Seit den Vorfall im

Krankenhaus frage ich mich, was so besonders an diesem Mädchen ist“, murmelte sie.

„Ich … Sie ist … Es ist kompliziert, Evangeline.“

„Wie praktisch, dass wir etwas Zeit haben, bis wir dasNova erreichen. Da gibt es die beste Vanillelatte und Adam liebt diese Muffins mit den Preiselbeeren. Wenn du mich fragst, ist das Nova das beste Café weit und breit.“ Sie hielt inne. „Also, ich höre.“

Esther seufzte. „Layla kennt ihre Vergangenheit nicht. Sie weiß nicht, wozu sie in der Lage ist, da bin ich mir mittlerweile ziemlich sicher.“ Evie blieb stehen und drehte sich zu Esther um.

„Sie weiß nicht, dass sie …? Wie kann das sein? Ihre Eltern müssen sie doch aufgeklärt haben?“ Esther zuckte mit den Schultern. „Sie wurde adoptiert“, antwortete sie schuldbewusst. „Ich kenne ihre Eltern und weiß, dass ihnen die Entscheidung, sie herzugeben, sehr schwergefallen ist. Sie hatten Angst vor Konsequenzen. Angst, dass man ihr die Schuld für ihren Fehltritt gab.“

„Leben Sie noch?“, fragte Evie traurig. Esther senkte den Kopf. „Du verstehst sicherlich, dass ich dir darauf keine Antwort geben kann. Ich hab damals geschworen, mein Wissen mit ins Grab zu nehmen.“ Schweigen breitete sich aus, als endlich das Café in Sichtweite kam.

„Das erklärt jedoch nicht, warum Sie nicht aufgehalten wurde. Außerdem dachte ich immer, dass das scolarum unter besonderem Schutz steht“, deutete Evie an, als sie das Café betraten. Esther nickte.

„Das dachten wir bis heute auch. Kannst du dich an den großen Brand vor ein paar Jahren erinnern?“ Evie nickte. „Es war eine große Tragödie, so viele Menschen hatten ihre Familie verloren.“ „Gott schenkt ihnen Frieden“, murmelte sie und gab ihre Bestellung auf. „Wir haben so viel verloren, einzig dasscolarum hat, wie durch ein Wunder, den Flammen getrotzt.“

„Also stimmen die Gerüchte, dass einst

eine Hexe es mit einem Schutzzauber belegt hat?“, fragte Evie, nachdem sie das Café wieder verlassen hatten. Esther zuckte mit den Schultern. „Es gibt keine Beweise. Es ist ja nicht so, dass irgendjemand das überprüfen könnte.“ Evie nickte. „Was sagt eigentlich Connor zu Laylas Situation?“ Esther zuckte mit den Schultern. „So etwas ist bislang nicht vorgekommen, was auch so bleiben wird. Layla ist was Besonderes und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, dass sie nicht für andere den Kopf hinhalten muss.“ Evie nickte ernst. „Ich mag sie. Sie ist zwar etwas komisch und total in sich gekehrt, aber irgendetwas hat sie an sich, dass ich sie bereits ins

Herz geschlossen habe.“ Esther nickte und wusste, wie das Mädchen sich fühlte. „Ich schätze, sie weißt nicht einmal, dass sie eine so machtvolle Gabe besitzt, andere in ihren Bann zu ziehen.“ Sie hielt inne.

„Ich denke, ihre Gabe ist sowohl Segen als auch Fluch zugleich. Wenn sie nicht aufpasst, wird sie sich schnell Feinde machen.“

„Ich werde ihr eine gute Freundin sein, genauso wie Tabea, da bin ich mir sicher. Was Adam angeht, er ist immer so geplagt von seinen Sorgen um mich und die Welt, aber ich schätze, wenn es hart auf hart kommt, steht er mir zur Seite.“

„Du weißt gar nicht, wie dankbar ich für

seine Hilfe bin.“ Sie hielt kurz inne. „Wer weiß, ob sie es überleben würde, wenn er nicht …“

In diesem Moment klingelte Evies Handy und sie nahm ab. „Ich verstehe … Ist gut, wir sind gleich zu Hause … Ich richte es ihr aus.“ Evie legte auf und ließ das Handy wieder in ihre Hosentasche gleiten. Sie lächelte Esther an. „Alles in Ordnung. Sie schläft und braucht noch ein wenig Ruhe, aber sie ist über den Berg.“ Esther atmete erleichtert aus.

Kapitel 6

Keuchendschreckte ich aus meinem Schlaf auf. Schmerz durchfuhr meinen Körper, während ich mich panisch in dem fremden Zimmer umsah.

„Wo bin ich?“, zitterte meine Stimme. Doch dann fiel mir wieder ein, was passiert war.

„Tabea“, krächzte ich. Hatte sie es überlebt, oder war sie den Flammen der Explosion zum Opfer gefallen?Ein leises Heulen zerriss die Stille und ließ mich zusammenfahren. Anscheinend litt ich schon wieder unter Fieberwahn, denn Wölfe gab es nicht in dieser Region. Ich wischte mir die Schweißperlen von der Stirn und starrte auf die Tür. Ob sie abgeschlossen war? War sie nicht, erkannte ich und trat in die bereits untergehende Abendsonne. Wie lange hatte ich denn geschlafen? Mit schmatzendem Geräusch lief ich barfuß

durch den Schlamm und genoss das Gefühl des taunassen Grases zwischen meinen Zehen. Ich lief weiter ohne zu wissen, wo mich der Weg hinführte, als ich plötzlich erstarrte. Einige Meter vor mir lag ein großer brauner Wolf im Gras, der sich nun zur vollen Größe aufrichtete. Ich quiekte und zwang mich, Ruhe zu bewahren. Der Wolf war riesig, seine Gliedmaßen waren lang und muskulös und trugen ihn in meine Richtung. Ich stand reglos da und starrte entsetzt in die großen, hellbraunen Augen, die mich wissend ansahen. Übelkeit überkam mich. Ich schluckte, als ich bemerkte, wie jemand aus der Hütte direkt hinter dem Wolf trat.

„Verschwinde!“, rief ich Stella zu, doch sie blieb vor sie war.

„Tabea, verschwinde sofort!“, rief sie wütend.. Währenddessen hielt der Wolf an, legte seinen Kopf schräg und sah mich neugierig an.

„Los!“, verscheuchte Stella den Wolf, der im Wald hinter mir verschwand. Ich verlor mein Gleichgewicht und ging zu Boden, während ich über meine Schulter schaute und hoffte, dass der Wolf nicht wiederkam. Zitternd drehte ich mich um und sah, dass Stella mich weiterhin anstarrte. Unerwartet traf mich auch der mitfühlende Blick von Esther, die ihre Hand auf die Schulter ihrer Tochter gelegt hatte.

„Du bist schon wach“, stellte sie fest. Ich reagierte nicht.

„Du solltest nicht allein herumwandern, wenn du dich eigentlich schonen solltest.“ Ich schluckte und nickte.

„Es tut mir echt leid, ich wollte dich nicht erschrecken, wirklich“, kam in diesem Moment Tabea aus dem Wald. Ich wich zurück, als ich das dunkle Haar und die braunen Augen wiedererkannte.

„Wir können dir alles erklären, Layla“, redete Esther beruhigend auf mich ein.

„Hör auf sie zu schonen, Mum“, verschränkte Stella ihre Arme. „Sie hätte es früher oder später sowieso erfahren. So sparen wir jede Menge Zeit und Arbeit, ihr alles haarklein zu erklären.“

Sie hielt inne und sah zu mir herüber.

„Hör jetzt genau zu. Wie du sicherlich bemerkt hast, ist Tabea ein Wolf. Genau wie ich und meine Mutter und eigentlich alle, die hier leben. In deinem Blut fließt das Erbe eines Wolfes und macht dich zu einer von uns.“ Mein Herz raste und lachte auf. Doch in Esthers Augen fehlte jede Art von Belustigung. Es war ihr purer Ernst, was mich erneut zurückweichen ließ. Was passierte hier nur gerade? Waren sie alle über Nacht verrückt geworden?

„Ich sollte jetzt besser gehen“, lächelte ich und machte noch ein paar Schritte zurück. „Layla“, kam Esther auf mich zu, doch Stella hielt sie fest und schüttelte

den Kopf. „Wenn ihr mich jetzt entschuldigt. Es wird Zeit, dass ich mein Leben wieder in die Hand nehme und mir eine Bleibe suche.“

„Aber …“

„Ich bin überaus dankbar, dass du mir geholfen hast, Esther, aber ich hab schon viel zu lange hier verweilt“, unterbrach ich sie.

„Bis in die Stadt ist es ziemlich weit, und es wird bald dunkel. Nimm denLand Rover, die Schlüssel müssten noch stecken. Du kannst ihn einfach stehen lassen, ich werde ihn morgen abholen“, sagte Stella zu mir. Ich nickte höflich, auch wenn ich nicht vorhatte, ihr Angebot anzunehmen.

Rückwärts, sodass ich die drei nicht aus den Augen verlor, ging ich Schritt für Schritt zurück. Als das Heulen eines Wolfes die Nacht zerriss, entschied ich mich um und stieg hastig in den Land Rover ein. Ich löste die Handbremse und raste über den holprigen Waldweg und trat das Gaspedal durch, bis ich endlich wieder die Lichter der Zivilisation sah. Völlig mit den Nerven am Ende, legte ich schließlich eine Vollbremsung hin und legte meine Stirn gegen das Lenkrad und ließ meinen Tränen freien Lauf. Das war einfach zu viel. Ich musste hier weg, und zwar schnell, dachte ich, riss die Autotür auf und stolperte in die Dunkelheit. Ich hatte jedes Zeitgefühl

verloren und bemerkte erst, dass ich mich dem Waldrand näherte, als ich etwas wahrnahm. Ein Geräusch, ein Aufblitzen im schwarzen Wald. Ich schluchzte und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Mein Herz pumpte und pumpte wie schon lang nicht mehr, doch ich wagte es nicht, stehen zu bleiben und zu sehen, was hinter mir her war. Erst als ich den Stadtrand erreichte, legte sich meine Nervosität und ich wurde langsamer. Ich sah mich um und verschwand in die Menschenmenge der Stadt. Die klirrende Kälte, die sich um mich legte, ignorierte ich. Was sollte ich nun tun? Die Polizei würde mir nicht glauben, dass ich einen viel zu großen

Wolf gesehen hatte. Schon gar nicht, dass eine ganze Gruppe Außenstehende glaubten, sie seien Wölfe. Außerdem wusste ich nicht, wo ich hingehen sollte. Meine Tasche und mein Geld waren immernoch in der Hütte, selbst meine Kleidung und Schuhe waren noch dort, bemerkte ich und rubbelte meine Arme. Frustriert wollte ich schon aufgeben und zurück zumLand Rover laufen, als sich meine Nackenhaare aufstellten. Das war es wieder. Dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Ich sah mich um und bemerkte erst jetzt, dass ich die Menschenmenge verlassen hatte. Die Straße, in der ich mich befand, war menschenleer. Panik ergriff mich und ich rannte los, bis ich

dieses Gefühl wieder loswurde. Ich keuchte und stütze mich auf meinen Knien ab, um wieder Luft in meine Lungen zu pressen, als sich erneut meine Nackenhaare sträubten. Doch diesmal fühlte es sich anders an. Gebannt erhob ich mich und starrte auf den Asphalt, der vor mir lag. „Was …?“, bevor ich meine Frage beenden konnte, bog ich in eine Gasse ein und erstarrte. Da war es wieder. Dieses Gefühl, eingesperrt zu sein, das über meine empfindliche Haut strich. Wie ein gefangenes Tier versuchte ich zu flüchten, doch ich prallte gegen eine unsichtbare Wand. Ich hyperventilierte und ließ mich auf den Boden fallen.

Kapitel 7

Das Heilen von Laylas Verbrennungen hatte ihn viel Energie gekostet, sodass Adam zwei Tage sein Zimmer nicht mehr verlassen hatte. Erst vor ein paar Stunden, als ihm die Decke auf den Kopf fiel, hatte er sich dazu entschieden, seine Pflichten nicht mehr hinten anzustellen. Zunächst war er zu seinem Vater ins Krankenhaus gegangen, um mittels einer Notlüge seine Abwesenheit zu erklären. Auf dem Weg zurück hatte er Evie vor einer Meute testosterongesteuerter Wölfe gerettet und sie bei einer Freundin abgesetzt. Schließlich war er mit ein paar Unterlagen in die Stadt gegangen,

um seine Forschungen voranzutreiben, doch letzten Endes hatte er dafür nicht genügend Ruhe gefunden. Daraufhin hatte er sich frustriert auf dem Heimweg gemacht, als sich plötzlich seine Nackenhaare aufrichteten.

„Was …?“ Übelkeit. Kälte. Gestank. Ein kaum wahrnehmbarer Laut zerriss die Nacht und ließ Adam schneller werden.

„Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht“, fluchte er und bog einen Block später in eine verlassene Straße. Der Geruch nach Fäulnis traf ihn unvorbereitet und ließ ihn zurücktaumeln.

„Verdammt!“, fluchte er. Dieser Gestank war ihm nur allzu bekannt und rief längst

verbannte Bilder vor seine Augen. Er musste schlucken, als er nun den Schrei einer Frau ganz in der Nähe wahrnahm.

„Sie lebt noch“, merkte er an und ballte die Fäuste, um sich wieder zu beruhigen. Wenn es sich um das handelte, was er befürchtete, stellte es ein Wunder dar, dass die Frau noch lebte. Er brauchte dringend Unterstützung. Er würde sich nicht allein gegen das Böse, das die Frau bedrohte und ihm auflauern würde, stellen können. Es war unmöglich, aber ihm blieb keine andere Wahl. Entweder wartete er auf Hilfe oder er rettete das Leben dieser Frau. Kaum hatte Adam seine Überlegung zu Ende gebracht, rannte er schon die Straße entlang, bis er

in einer schmalen Gasse landete und seine schlimmsten Befürchtungen übertroffen wurden.

Layla schrie, während sie wimmernd zu Boden ging. Ihre Hände und Knie waren bereits zerschrammt und blutig. Schweiß perlte ihr von der Stirn und vermischte sich mit ihren Tränen. Als hätte sie ihn bereits bemerkt, hob sie ihr Gesicht, starrte ihn an und streckte ihre Hand nach ihm aus. Er sah sich nervös um, doch sein Gegenüber schien von ihm keine Notiz genommen zu haben. Layla schrie erneut, während sich ihr Körper unmenschlich krümmte. Er hätte schwören können, ihre Knochen brechen

zu hören, was aus dieser Entfernung unmöglich war. Sie taumelte nach hinten und übergab sich. Er musste etwas unternehmen, lange würde sie es jedenfalls nicht mehr überleben. Angriff war die beste Verteidigung, wie er befand, also trat er aus dem Schutz der Dunkelheit, während Layla bewusstlos zu Boden glitt. „Ihr seid so was von armselig!“, lenkte Adam die Aufmerksamkeit der schwarz gekleideten Angreifer, die ihre Gesicht hinter einer weißen Maske verbargen, auf sich. „Kümmert euch um ihn“, knurrte eine weitere Person.„Ich kümmere mich um dieses Miststück.“ Blaue Blitze schlugen vor dem Mann ein, bevor er Layla

erreichen konnte. „Schlechte Idee! Keiner von euch wird Layla auch nur anrühren“, sagte Adam wütend. „Ich habe gesagt, ihr sollt euch um ihn kümmern“, verlor der Mann seine Beherrschung. „Macht schon! Wir haben eine Mission zu erfüllen, schon vergessen?!“ Der Mann beugte sich erneut zu Layla hinunter. Wütend rannte Adam auf den Mann zu, doch seine Mitstreiter ließen nicht zu, dass er Layla erreichte. Adam versuchte so gut, wie es nur ging, die Angriffe seiner Gegner zu blocken, doch es waren einfach zu viele. Einen der Männer hatte er ausschalten können, bevor er von einem weiteren niedergestreckt wurde und zu Boden

ging. „Verflucht! Das Mädchen ist bewusstlos!“, drehte sich einer der Angreifer fluchend zu seinen Mitstreitern um. „Der Bengel ist ja immer noch am Leben!“, schrie er sie wütend an. Schließlich zuckte er jedoch mit den Schultern, drehte sie um und steckte seine Hände in die Taschen seines Mantels. „Ich verschwinde! Kümmert euch um den Bengel, beseitigt die Leiche und stoßt wieder zu mir.“ Nun verwandelte sich seine menschliche Gestalt in einem schwarzen Wolf, die Adam den Rücken zukehrte, um seine Flucht anzutreten.

„Halt!“, schrie Adam und lenkte seine ganze Energie auf die Flanke des Wolfes,

der daraufhin aufheulte, bevor er über die Mauer sprang und verschwand. Keuchend ging er wieder zu Boden. „Du machst es uns viel zu leicht“, beschwerte sich einer der Zurückgebliebenen, bevor er auf Adam zuging und ihm in den Magen trat. „Du hast dein Todesurteil bereits unterschrieben, als du gewagt hast, dich in unsere Angelegenheiten einzumischen“, trat er erneut zu, während ein Regenschauer einsetzte. „Lasst uns verschwinden, der Junge wird eh nicht mehr lang genug leben, um uns einen Strich durch die Rechnung zu machen“, drückte er mit seinen Fuß Adams Gesicht in den kalten Asphalt. „Du hast recht und was das Mädchen

angeht, die ist sowieso nur noch Matsch.“ Er hob sein Gesicht und blickte zur Mondsichel hinauf. „Oh Herr, verzeihe mir diese Unbeugsamkeit und lasse mich deine Strafe dafür erhalten.“ Der andere Mann griff seine Schulter. „Der Meister wartet nicht gern.“Mit diesen Worten verließen die Männer die Gasse und ließen Adam und die bewusstlose Layla zurück.

Kalter Wind strich über Adams Haut, während der Regen in sein Gesicht klatschte. Mit seiner freien Hand schützte er seine Augen vor den harten Regentropfen. Er wusste, dass er bald auskühlen würde, wenn er weiterhin dem

Wetter ausgesetzt wäre. Niemand würde je davon erfahren, wenn er hier starb. Evie würde an ihrem Kummer, nicht zu wissen, was mit ihm geschehen war, zugrunde gehen. Er würde seine Familie im Stich lassen und …

Layla. Layla würde nie die Gelegenheit haben ihre Familie kennenlernen. Keine Möglichkeit, jemals über ihr Vermächtnis etwas zu erfahren. Mit diesem Gedanken drehte Adam sich auf den Bauch und sah hinüber zu Laylas bewusstlosem Körper. Sie würde es nicht mehr schaffen, wenn er sich jetzt nicht zusammenriss. Keuchend drückte er seine Hände und Füße fest auf den Asphalt. Trotz der Kälte zog sich ein Schweißrinnsal über

seinen Körper, als sich die Welt um ihn zu drehen schien. Nachdem der erste Schmerz vergangen war, zog er sich hoch und schleifte sich zu Layla. „Layla!“, krächzte er.

„Oh Gott, Layla!“Besorgt betrachtete er den erschlafften, blutverschmierten Körper des Mädchens. Unbeholfen begann er, ihren Körper umzudrehen, und erschrak. Er musste sich von ihr abwenden, während er sich übergab und Blut spuckte. „Nein!“ Fassungslos starrte er auf Layla hinab. „Du darfst nicht sterben, hörst du!“ Instinktiv legte er seine Hand über ihre Brust, doch nichts tat sich.

„Nein!“, schrie er und übte Druck auf

ihre Brust aus. Schweiß perlte über seine Stirn, während er versuchte, Layla wieder ins Leben zurückzuholen.

Adam begann am ganzen Körper zu zittern. Er musste sich jetzt zusammenreißen, sonst würden sie einsam in dieser verdammten Gasse sterben. Er musste sie hier wegbringen, bevor sie beide erfroren oder schlimmer, seine Gegner mit Verstärkung zurückkamen. Zittrig erhob er sich, mit Layla in den Armen, als sie ihre Augen öffneten. Erleichtert sah er in ihre weit aufgerissenen, grünen Augen.

„Keine Angst, ich werde uns hier wegbringen.“ Sie knurrte ihn an und versuchte, sich aus seinem Griff zu

befreien, Dabei schlug sie ihre Krallen in seine Schulter. Schmerz durchzuckte ihn und er spürte, wie sein Blut in seine nasse Kleidung sog. Doch er konnte sich jetzt nicht erlauben sie loszulassen und ging mit ihr zu Boden. Keuchend sah er ihr tief in die Augen, bevor er sich wieder erhob. „Ich bring dich jetzt hier weg“, sagte er ruhig und ließ ihre glänzenden grünen Augen nicht mehr aus dem Blick, bis sie erschöpft zufielen und Layla das Bewusstsein verlor.

Kapitel 8

Keuchend wachte ich auf. Ich kniff die Augen zu und wartete, bis die Wellen von Schmerz und der Schwindel nachließen. Wie war ich hierhergekommen?

Ich sah mich um und bemerkte, dass ich auf einem unbekannten Sofa lag. „Wo bin ich?“, flüsterte ich leise vor mich hin. Gerade als ich versucht war aufzustehen, um so schnell wie möglich von hier zu verschwinden, hörte ich, wie jemand hinter mir den Raum betrat. „Du bist wach?“, erschien Adam im Zimmer. Leise stöhnte ich. „Vielleicht sollte ich dich doch ins Krankenhaus bringen“, sah er mich besorgt an. Ich schluckte, schüttelte heftig den Kopf und wurde gleich an meine Kopfschmerzen erinnert.

„Was …?“, krächzte ich. „Was …? Wie …?“

„An was erinnerst du dich?“ Bei dem

Gedanken an Tabea erschauderte ich. Ich begann zu schluchzen und hielt mir den Bauch. „Deine Rippen haben ganz schön was abbekommen, außerdem hast du ziemlich viel Blut verloren. Vielleicht sollte ich …“ Ich schüttelte den Kopf. „Sag mir, was passiert ist!“ Adam seufzte und fuhr sich durchs Haar. „Warum warst du ganz allein in der Stadt? Warum war niemand bei dir?“ Ich zuckte leicht zusammen und wendete meinen Blick von ihm ab. Er würde mir nicht glauben, wenn ich ihm die Wahrheit erzählte. Er würde mich für verrückt halten.

„Du weißt es“, murmelte er vor sich hin. Er nahm mein Gesicht in seine Hand,

damit ich seinem Blick nicht mehr ausweichen konnte.

„Hey“, lächelte er mich an. „Ich verspreche dir zu glauben, egal wie verrückt die Geschichte auch sein mag.“In seinen Augen las ich Verständnis und Traurigkeit in einem. „Das ist verrückt“, prustete ich los. „Sie sind verrückt. Sie glauben tatsächlich, dass sie Werwölfe sind.“ Nervös begann ich zu kichern.

„Ich meine, so etwas gibt es doch nicht“, murmelte ich. „Sie haben sogar behauptet, ich wäre eine von ihnen!“ Ich verbarg mein Gesicht in meinen Händen und weinte. „Was ist danach passiert?“, fragte er ruhig, als wär nichts Verrücktes

an meiner Geschichte. Hatte er nicht zugehört? Ich hatte ihm gerade erzählt, dass all seine Bekannten Monster waren. Wie konnte er dabei nur so ruhig bleiben?

„Ich … Ich bin abgehauen“, schluchzte ich. „Ich musste da weg, bevor ich …“ Ja was eigentlich, dachte ich. Bevor ich ihnen glaubte? Ich war ratlos.

„Schließlich bin ich in der Stadt gelandet und …“ Irgendwas hatte mich doch beobachtet, oder? „Ich bin losgerannt, so schnell ich konnte, und …“

Meine Stimme versagte und ich begann zu schluchzen. „Diese Schmerzen …“, versuchte ich mich zu erinnern. „Ich

dachte, ich würde sterben.“ Beruhigend legte Adam seine Hand auf meine Schulter. „Kanntest du die Leute?“ Ich schüttelte den Kopf. „Aber wieso …? Wie bist du in dieser Gasse gelandet?“ Ich überlegte kurz und musste an das Gefühl denken, das mich kurz zuvor belegt hatte. „Da war dieses Gefühl … Ich … ich kann es nicht beschreiben, aber bevor ich wusste, was mit mir geschah  war ich schon in der Gasse und konnte mich nicht mehr wegbewegen.“

Er nickte. „Layla, ich weiß, dass ich viel von dir verlange, aber du musst mir erzählen, wann dieses Gefühl, beobachtet zu werden, angefangen hat.“ Ich starrte ihn an. Warum wollte er das wissen? Es

war nichts von Bedeutung, immerhin hatten die Therapeuten mich schon für verrückt erklärt. Trotzdem überlegte ich. „Vor ein paar Jahren … Moment mal, wenn ich recht überlege, begann es ein Jahr nach dem Tod meiner Eltern.“ Er schien für einen Moment aus dem Konzept zu sein. „Das tut mir leid“, sagte er traurig. „Ich … Ich“, versuchte ich, etwas von seiner Last auf mich zu nehmen, doch der Schmerz, ausgelöst von meinen Erinnerungen, paralysierte mich. „Es war ein Unfall“, sagte ich eher zu mir, als zu Adam. Adam zuckte leicht zusammen, beließ es aber dabei. „Von Monat zu Monat wurde es schlimmer. Ich wurde allmählich verrückt und meine

Pflegeltern …“ Ich stockte. Er musste nicht wissen, dass man vorgehabt hatte sie einzusperren. „Jedenfalls ist es in den letzten Wochen noch schlimmer geworden. Dazu diese kleinen Unfälle.“

„Unfälle?“, unterbrach Adam mich, ich winkte jedoch ab. „Nichts Schlimmes. Alles war reine Unachtsamkeit. Sturz von der Treppe, Schnittverletzungen, hin und wieder Stolperer.“

„Außerdem hat dich ein Auto beinahe überfahren. Dann die Rauchvergiftung und die Verbrennungen und jetzt diese …“ Er stockte und sah mich an. „Ich glaube nicht, dass das nur Unfälle waren, Layla.“ Ich sah ihn erschreckend an. „Aber …“

„Irgendjemand da draußen hat es auf dich abgesehen“, ballte er wütend seine Hände. „Es ist besser, wenn ich dich jetzt nach Hause bringe. Esther macht sich bestimmt schon Sorgen.“

„Ich … Ich kann nicht zurück, Adam. Die sind verrückt“, flehte ich ihn an.

„Hör zu“, seufzte er. „Ich weiß, dass es schwer zu verstehen ist, aber im Moment sind sie die Einzigen, die dich beschützen können.“

„Beschützen vor was?“, fragte ich misstrauisch, doch Adam verstummte. „Adam“, flehte ich ihn an. „Vor wem oder was muss ich beschützt werden?“

Er drehte sich um und stand auf. „Bei Tagesanbruch machen wir uns auf den

Weg. Ruh dich aus, Esther wird dir dann alles erklären.“ Mit diesen Worten verließ Adam den Wohnraum und ließ mich allein. Seufzend schloss ich meine Augen und fiel in einen traumlosen Schlaf.

Fünf Stunden später saß ich in Adams Auto und starrte auf die Straße, die sich vor uns hinstreckte. Mittlerweile war die Sonne aufgegangen und gleich hinter dicken, grauen Wolken verschwunden. Ich schielte vorsichtig zu Adam hinüber, der seit unserer Abfahrt kein einziges Wort mehr mit mir gewechselt hatte. Ich seufzte und beobachtete, wie dicke Regentropfen an der Windschutzscheibe hinunterliefen.

Tja, wenigstens ist auf das Wetter Verlass. Sehnsüchtig dachte ich zurück an die Zeit, als meine größte Sorge war, dass man meine Privatsphäre achtete. Und jetzt? Jetzt musste ich mir Gedanken darüber machen, ob und wer hinter mir her war. Ich dachte über das kurze Gespräch mit Adam nach.

„Zu viele Unfälle für meinen Geschmack“, hatte er gesagt. Ich verstand es immer noch nicht. Warum sollte jemand nach meinem Leben trachten? Was hatte ich dieser Person nur angetan, damit sie meinen Tod als letzten Ausweg sah?

„Wir sind da!“, holte Adam mich aus

meinen Gedanken. Meine Hände wurden feucht, nervös zappelte ich unruhig mit meinen Beinen. Der holprige Weg in den Wald erstreckte sich vor mir. „Ich kann nicht“, zitterte meine Stimme. Adam stieg aus dem Wagen, lief um das Auto herum und öffnete meine Tür. „Dir wird nichts anderes übrig bleiben.“ Ich musste schlucken und sah in das entschlossene, blasse Gesicht von Adam. Schließlich nahm ich meinen Mut zusammen und stieg aus. Die Feuchtigkeit, die der versiegte Regenschauer hinterlassen hatte, legte sich auf meine Haut und ließ mich erschauern.

„Los!“, meinte er und ging voraus in den Wald, während ich ihm hinterhersah.

Und wie aufs Stichwort ertönte irgendwo in der Ferne das lang gezogene Heulen eines Wolfes. Ich erzitterte und schloss zu Adam auf. Gerade als ich Adam überzeugen wollte, dass wir mein Problem sicherlich ohne deren Hilfe lösen könnten, wurde Adam plötzlich aus dem Nichts gepackt und an den nächsten Baum gedrückt.

„Was machst du hier, Gray?“, knurrte ein schwarzhaariger Junge und drückte Adam die Luft weg. Ich schrie und rannte auf Adam zu, doch der Junge ließ sich nicht beirren. „Hast du nicht geschworen, nie wieder herzukommen, Hexe!“, zischte er. Adam begann sich zu winden und lief bereits blau an. „Jace!“,

ermahnte ihn jemand. „Du bringst ihn noch um“, ertönte eine weitere weibliche Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und entdeckte Esther. Ich zuckte zusammen und wendete meinen Blick wieder auf Adam. Wer war dieser Junge? Und warum kam er mir so bekannt vor?

„Keine Sorge, es wird nicht zur Gewohnheit“, krächzte Adam und packte mit seiner Hand die von Jace. „Aber vielleicht würdest du mir mal erklären, wo du gestern Abend gewesen bist“, zischte Adam. „In ein paar Tagen ist Vollmond. Ich frage mich, ob du dir schon einen Leckerbissen gegönnt hast.“ Jace drückte ihn noch fester an den Baumstamm, bis er schließlich lächelte.

„Wieso Gray? Bist du überfallen worden?“, sah er erfreut auf das blutige T-Shirt und rümpfte die Nase. „Keine Sorge, dich würde ich nicht einmal mit der Zange anrühren.“ Irgendwie gelang es Adam, sich zu befreien und schließlich einige Meter zwischen sich und Jace zu bringen.

„Ich nicht, aber Layla“, sagte er. „Ich hab ihn erwischt. Aber unser schwarzer, pelziger Freund konnte flüchten“, antwortete er. Adam sah zu Esther hinüber.

„Ihr hättet ihr eine bessere Erklärung geben sollen. Es ist eure Schuld, dass sie in Schwierigkeiten geraten ist. Es ist, verdammt noch mal, eure Aufgabe, eure

Leute in Schach zu halten.“ Während Esther nickte, wendete Adam sich zum Gehen ab. „Komm“, meinte Esther ruhig und berührte vorsichtig meine Schulter.

„Du kannst mir bei einer Tasse Tee alles erzählen.“

Ich sah Adam hinterher, wollte ihm hinterherschreien, wie er mich hier allein lassen konnte, doch er war bereits in der Dunkelheit verschwunden. Schließlich drehte ich mich zu Esther um, die mich verständnisvoll anlächelte.

Kapitel 9

„Das heißt, ich bin ein Werwolf? Nein, das kann nicht sein!“, hakte ich zum tausendsten Mal nach.

„Wir sind doch keine Monster, Layla“,

sagte Esther ruhig. „Du musst dir einfach vorstellen, dass wir Menschen sind, die sich in andere Tiere verwandeln können.“

„In Wölfe. In Werwölfe, die Monster, die zu Vollmond ganze Dörfer ausrotten!“ Esther verneinte es. „Normalerweise greifen wir keine Menschen an.“

„Normalerweise“, quiekte ich.

„Und wir sind auch nicht an den Mond gebunden.“ Ich schluckte. „Du musst dir vorstellen, dass es eine Art Gen-Defekt ist. Dein Vater war ein Wolf und du bist auch einer.“ Traurigkeit legte sich in Laylas Stimme .„Aber warum jetzt? Ich meine, warum erfahre ich es erst jetzt?“ Esther sah ratlos aus und zuckte mit den

Schultern. „Unsere Wandlung ist etwas ganz Besonderes, wie ein Fingerabdruck. Keine Wandlung gibt es zweimal auf der Welt“, murmelte sie und sah mich an. „Bei dir ist es anders. Du wusstest nichts von deinem Erbe, vielleicht hast du es all die Jahre unbewusst unterdrückt.“

Erinnerungen an schlaflose Nächte und das Gefühl, nirgends dazuzugehören, befielen mich. Ich schluchzte und spürte, wie sich meine Rippen schmerzhaft zusammenzogen.

„Jetzt erzähl mir doch bitte, was gestern passiert ist.“ Achselzuckend versuchte ich, mich an das Gespräch mit Adam zu erinnern. „Er war nicht besonders gesprächig. Doch in einer Sache war er

sich sicher. Die Unfälle, die mir in letzter Zeit wiederfahren sind, waren keine Zufälle“, zitierte ich ihn.

„Unfälle?“ Ich nickte. „Stürze, herabfallende Äste, Autos, die mir nur knapp ausweichen konnten … Und gestern?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern, nur …“

Ich hielt inne und holte tief Luft. „Ich konnte mich nicht mehr rühren und dann waren da noch diese Schmerzen. Es waren die schlimmsten Schmerzen, die ich in meinem Leben gehabt hatte.“ Tränen traten wieder in meine Augen. „Sobald ich die Augen schließe, sehe ich ihre weißen Masken vor meinen Augen“,

zitterte meine Stimme. Erschrocken riss Esther die Augen auf.

„Bist du dir ganz sicher, Layla? Du musst dir ganz sicher sein.“ Ich sah sie an, doch sie wich meinem Blick aus. Angst schnürte mir die Kehle zu. „Was ist hier los, Esther?“, krächzte ich. Doch bevor ich eine Antwort bekam, wurde unerwartet die Tür aufgerissen. „Sie haben Jace beschuldigt! Er ist abgehauen!“, erschien Tabea in der Tür. „Was?!“, stand Esther ruckartig auf. „Wie …?“

„Sie haben mitbekommen, dass Adam ihn beschuldigt hat. Als Wyatt ihn zur Rede stellen wollte, ist er völlig ausgetickt und wütend abgehauen.“ Ich

erstarrte und schnappte nach Luft, als ich bemerkte, dass ich sie angehalten hatte.

„Die Wachen sind ausgerückt, um ihn zur Besinnung zu bringen.“ Tränen sammelten sich in Tabeas Augen. „Was werden sie ihm antun, wenn sie ihn zu fassen bekommen, Mum?“ Esther ging auf ihre Tochter zu und legte beruhigend den Arm auf ihre Schulter.

„Ihm wird nichts passieren, versprochen. Er ist unschuldig.“ Vorsichtig nickte Tabea und sah zu Layla hinüber. „Connor möchte sie sehen.“ Esther erstarrte und verlor jegliche Farbe aus dem Gesicht. Sie drehte sich zu mir um. „Ich hab sie schon befragt. Sie weiß nicht, wer ihr das angetan hat.“ Jetzt war

es Tabea, die ihre Mutter beruhigend über den Arm strich. „Er will sie nur kennenlernen, Mum. Sie gehört jetzt zu uns.“ Ich weiß nicht, wann genau ich aufgestanden war, doch plötzlich taumelte ich ein paar Schritte zurück.

„Layla“, packte Esther mich. Als sie bemerkte, wie ich bei ihrer Berührung zusammenzuckte, sah sie mich besorgt an. „Ein paar Prellungen, sonst nichts.“ Ich hatte das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen.

„Das große Treffen werden wir wohl verschieben. Layla hat heute viel durchgemacht. Sie braucht jetzt Ruhe.“

„Mum!“

Esther widersprach ihrer Tochter. „Geh

und sag Connor, dass sie uns nicht weiterhelfen kann. Ich werde später mit ihm reden.“ Tabea schien unentschlossen, nickte jedoch und verschwand wieder. „Was hat das alles zu bedeuten?“, fragte ich mich leise. Esther setzte sich zu mir und legte eine Hand auf meinen Oberschenkel. „Du hast heute viel durchgemacht, du solltest dir keine unnötigen Gedanken, über all das hier machen.“ Sie war besorgt, das konnte ich ihr ansehen, aber sie lächelte mich tapfer an. „Es ist nichts, worüber du dir jetzt Sorgen machen solltest.“

Ich musste an Adam denken, wie er aus dem Nichts heraus von diesem Jungen angegriffen wurde. Da war dieses Gefühl

gewesen, als der Junge bei meiner Berührung kaum wahrnehmbar zusammengezuckt war. Als würde uns etwas viel Tieferes verbinden. Als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen.

„Jace“, murmelte ich. „Ist das der Junge von vorhin. Der, der Adam angegriffen hat?“

Ich erschauerte, was Esther falsch zu deuten schien. „Jace ist kein schlechter Mensch, das musst du mir glauben. Er ist nur ein bisschen überfürsorglich, wenn es um Personen geht, die er liebt.“ Ich nickte, denn ich hatte nicht das Gefühl gehabt, dass er für mich eine Gefahr darstellte. Außerdem sagte mir

irgendetwas, dass er nicht schuld an dem war, was mir passiert war. Irgendetwas war hier im Gange und ich wusste, dass es mehr war, als man mir erzählen wollte. „Warum hat er Adam angegriffen?“

Esther seufzte. „Die beiden waren noch nie die besten Freunde, mehr kann ich dir nicht sagen.“ Sie hielt inne und erhob sich. „Aber du wirst es sicherlich bald selbst herausfinden“, murmelte sie vor sich hin. Bevor ich nachfragen konnte, was sie damit meinte, hatte sie bereits die Hütte wieder verlassen.

Kapitel 10

Adam war nicht weit gekommen, nachdem er in sein Auto gestiegen und

davongerast war. Nun stand er auf dem Standstreifen, während die Konturen vor seinen Augen verschwammen. Auch das Atmen fiel ihm jetzt schwer, während er zitternd nach seinem Handy kramte.

„Du musst mich abholen!“, keuchte er ins Handy und legte auf, bevor er sich ihre Predigt anhören durfte. Mit letzter Kraft zog er sich auf den Beifahrersitz und legte seinen Kopf auf das Armaturenbrett. Alles drehte sich um ihn, also schloss er die Augen. Doch als ihm dasverängstigteGesicht von Layla vorschwebte, riss er die Augen wieder auf. Das Schlucken fiel ihm bereits schwer. Adam hätte alles darauf verwettet, dass ihm mehr Zeit blieb.

Doch jede Art von Einsatz würde irgendwann seinen Preis einfordern und er hatte in den letzten Tagen seine Kräfte ausgezehrt, bis kaum noch etwas übrig blieb. Er lächelte leicht und spürte, wie dabei seine Lippe aufplatzte. Immerhin hatte er ein Leben gerettet, oder nicht? Jeder wäre auf ihn stolz, doch paradoxerweise würde niemand seinen Einsatz zu schätzen wissen. Ganz im Gegenteil, man würde sein Handeln verabscheuen und es ihm vorwerfen, bis man ihn irgendwann links liegen ließ und ausschloss.

Er begann zu husten und spürte, wie sich Blut in seinem Mund sammelte. Er spuckte es aus und lehnte sich lachend

zurück. „Wie ich sehe, amüsierst du dich ja prächtig.“

Adam kniff die Augen zusammen, um der Stimme ein Gesicht zuzuweisen, doch er konnte bereits nichts mehr wahrnehmen. Er konnte nur noch spüren, wie sich jemand auf den Fahrersitz setzte und den Motor startete. „Dad wird dich umbringen“, schnauzte Evie ihn an. „Er wird dich heilen und dann erwürgen.“ Sie hielt inne und ihre Stimme wurde ganz zittrig.

„Wie kannst du nur so leichtfertig mit deinem Leben umgehen, Adam?“ Zitternd hob er einen Arm und legte ihn auf ihren. „Evie“, krächzte er. „Bring mich nach Hause.“ Evie schüttelte den Kopf. „Ich

bring dich zu Dad! Ich werde nicht zusehen, wie du stirbst!“

„Ich habe keine Zeit, mich mit Vater auseinanderzusetzen. Wenn meine Theorie stimmt - und ich hab mich noch nie geirrt - dann werden wir all unsere Kräfte benötigen, wenn wir heil aus der ganzen Sache herauskommen wollen.“ Evie sah ihn fragend an. „Bitte!“, krächzte er.

„Ich verspreche dir auch, nicht zu sterben.“

„Du Idiot!“, schniefte sie und drückte aufs Gas.

Adamwachte erst am nächsten Morgen wieder auf. Haareraufend sah er sich in

dem Zimmer um und fragte sich, wie er hier gelandet war. Beim Aufstehen hörte er seine Knochen knacken, wobei ein schwaches Stöhnen aus seiner ausgetrockneten Kehle drang. Trotzdem zwang er sich, einen Schritt nach dem anderen zu machen. Die plötzliche Helligkeit, die ihn beim Öffnen der Zimmertür traf, ließ ihn die Augen für ein paar Sekunden zusammenkneifen. Er stöhnte und hielt sich am Türrahmen fest, damit er nicht gleich wieder zusammenklappte. Als er sich langsam an die Helligkeit gewöhnt und der Schwindel sich allmählich gelegt hatte, ließ er es auf einen weiteren Versuch ankommen, bis er schließlich die

Küchentheke erreichte. Zitternd hielt er sich an der Kante fest und hob langsam seinen Blick und lächelte schief. In diesem Moment öffnete sich die Haustür und Evie kam mit einer weiteren Portion Muffins und Kaffee herein. „Evie, du bist die Beste.“

„Deine Worte in allen Ehren, aber ich würde mit den Lobeshymnen warten.“ Adam drehte sich zu seiner Schwester um, die wütend ihre Arme in die Hüften stemmte.

„Was fällt dir eigentlich ein?“, schrie sie ihn an. Adam zuckte mit den Schultern, aß seinen Muffin und schüttete den Kaffee hinterher. „Was

sollte ich denn tun? Hätte ich ihr beim Sterben zusehen sollen?“, konterte er wütend.

„Jetzt tu nicht so, als wäre das alles! Ich war bei Esther und hab nach Layla geschaut. Sie sah miserabel aus, aber du, du siehst aus, als wärst du von den Toten auferstanden.“ Adam senkte den Blick und wendete sich von seiner Schwester ab.

„Warum hast du ihretwegen dein Leben aufs Spiel gesetzt?“, zischte sie.

„Du verstehst das einfach nicht! Es ist …“

„Was, Adam? Kompliziert? Oder hast du endlich die Chance gesehen, deinem Leben ein Ende zu setzen?“ Adam zuckte

zusammen und ließ die Schultern fallen. „Ich ... Ich brauch jetzt eine Dusche“, murmelte er und zwang sich, ins Bad zugehen.

„Weißt du eigentlich, was du mit deinem Besuch angerichtet hast? Mit deinen ganzen Beschuldigungen?“ Sie hielt inne, um sich wieder zu beruhigen. „Sie haben dir geglaubt. Sie sind auf der Suche nach Jace. Sie wollen ihn festnehmen, damit sie ihn für seine Taten einsperren können.“ Adam hielt inne.

Sie hatten ihm geglaubt? Aber wieso? Sonst hatten sie ihn doch immer ignoriert oder belächelt. Warum glaubten sie ihm gerade jetzt? „Ein Leben hast du vielleicht gerettet, aber dafür hast du

Familien zerstört und das Rudel gegeneinander aufgebracht.“ Wütend stampfte Evie in ihr Zimmer und knallte ihre Tür zu.

Kapitel 11

Nervös stand ich vor dem großen Haus mit Vorgarten und zupfte aufgeregt an dem schwarzen Top, das mir Tabea geliehen hatte. Worauf habe ich mich da nur eingelassen? fragte ich mich im Stillen. Beim besten Willen wusste ich nicht, warum ich nicht gleich meine Sachen geschnappt und das Weite gesucht hatte. Esther hatte mich beim Frühstück in Kenntnis gesetzt, dass Connor, das Alpha des Rudels, mich kennenlernen wollte. Prompt hatte ich

mich an dem heißen Tee, den ich gerade trinken wollte, verschluckt. Doch Esthers Blick sagte mir, dass es keine Bitte, sondern ein Befehl war. Da es kein Zurück mehr gab, wischte ich meine feuchten Hände an Tabeas Jeans trocken und stellte mich meiner Pflicht.

„Ja, bitte!“, drang eine tiefe Stimme aus dem Haus, bevor ich klopfen konnte. Die Tür öffnete sich wie von Geisterhand und ich trat ein. „Ähm … Hallo, hier ist Layla. Layla …“

„Layla Randall. Es ist schön, dich endlich kennenzulernen“, unterbrach mich eine männliche Stimme und ließ mich leicht zusammenzucken. „Layla

Oliver, Sir.“ Irritiert sah ich mich um, um der Stimme ein Gesicht zu verleihen, und erstarrte. Der Mann, der leichtfüßig die geschwungene Treppe hinunterkam, war atemberaubend und gleichzeitig zum Fürchten. Unter seinem schwarzen Hemd zeichneten sich deutlich seine breiten Schultern und sein muskulöser Oberkörper ab. Sein weißes Haar trug er schulterlang, was seine goldschimmernden Augen und seine kantigen Gesichtszüge betonte. Sein schneeweißes Lächeln erinnerte mich daran, mit wem ich es hier zu tun hatte. Alles in mir mahnte mich zur Flucht, doch es würde kein Entrinnen geben. Irgendetwas sagte mir, dass dieser Mann

immer das bekam, was immer ihm auch vorschwebte. Ich seufzte und fuhr mit meinen Fingern durch mein schwarzes Haar.

„Soso“, murmelte er nachdenklich. „Du hast mein Rudel ganz schön aufgemischt“, merkte er an und prompt erwachte mein schlechtes Gewissen wieder. „Esther hat mir schon von deinen Behauptungen zu den Ereignissen erzählt“, verschränkte er seine Arme.

„Meine Anwesenheit hat Ihnen nur Ärger bereitet. Ich habe Esther schon gesagt, dass ich abreisen sollte.“ Dass Esther damit gar nicht einverstanden war, ließ ich unerwähnt. „Wenn ich mit meinen Vermutungen richtig liege, bin

ich für den Brand in dem Gebäude verantwortlich und damit habe ich Tabeas Leben fahrlässig in Gefahr gebracht.“ Unerwartet begann Connor schallend zu lachen. „Ohne dich wäre sie bereits tot. Außerdem hätten wir nie erfahren, dass unser Feind im Verborgenen arbeitet. Ohne dich wären wir wahrscheinlich schon Kanonenfutter.“ Er hielt inne. „Du bist deinem Vater sehr ähnlich, weißt du das?“ Ich starrte ihn an. „Sie kannten meinen Vater?“ Er nickte. „Charlie war der liebenswerteste Mann, den ich je kennengelernt habe. Sein ganzes Leben hat er für uns gegeben, hatte geholfen, wo es nötig war. Bis zu seinem

tragischen Tod war er ein ehrenwertes Mitglied des Rudels.“ Tiefe Trauer schnürte mir die Kehle zu, obwohl ich meinen leiblichen Vater nie hatte kennenlernen dürfen. „Du trägst seine Augen.“ Unbeabsichtigt wanderte meine Hand zu meinem Gesicht und ich fragte mich plötzlich, wie es wohl gewesen wäre, ohne all diese Geheimnisse aufzuwachsen. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, während der Verlustschmerz sich in Wut verwandelte. „Meine Eltern, Keith und Willow, haben mich aus reinstem Herzen geliebt“, zischte ich. Connor nickte und ließ seine Hände in seine Hosentaschen wandern.

„Kannst du dich mittlerweile erinnern,

was passiert ist?“, wechselte er abrupt das Thema. Ich schüttelte den Kopf. „Ich hab Esther bereits alles erzählt, woran ich mich erinnern kann, aber vielleicht kann Adam ja noch etwas hinzufügen.“ Der Gedanke an Adam und wie er sie einfach so stehen gelassen hatte, steigerte meine Wut. „Richtig, der Gray-Sprössling“, murmelte er nachdenklich. „Hör zu, es ist wichtig, dass du dich erinnerst. Es hängt viel davon ab, was du mir erzählen kannst. Jede Kleinigkeit kann von Bedeutung sein und zur Entlastung für Jace beitragen.“ Ich atmete erleichtert auf. Esther hatte mir berichtet, dass sich Jace mittlerweile in Untersuchungshaft befand.

Aber wenn Connor an dessen Unschuld glaubte, warum befand er sich noch nicht in Freiheit? „Jace hat sich mit seinem Fluchtversuch ein Eigentor geschossen. Solange er uns im Unklaren lässt und du dich nicht erinnern kannst, werden wir kein Risiko eingehen.“ Verwundert riss ich die Augen auf. Warum hatte Jace ihnen nicht gesagt, dass er unschuldig war? Was hielt ihn davon ab, die im Raum stehenden Anschuldigungen abzuschmettern? Und dann kam mir ein Gedanke: Er weiß, dass sein Fluchtversuch idiotisch war. Dass jetzt jeder glaubt, dass er es war.Ich schluckte und erinnerte mich, wie Jace auf Adam losgegangen war. Er wollte

seinesgleichen schützen, er würde nie jemanden absichtlich in Gefahr bringen oder sogar verletzen. Ich schüttelte den Kopf.

„Er war es nicht! Ich kann mich nicht erinnern und mir ist klar, dass ich diesen Jungen nicht kenne, aber ich bin mir ganz sicher, dass er es nicht war!“

Überrascht sah Connor mich an und nickte. „Leider wird uns diese Aussage nichts nutzen, solange wir keinen Beweis haben“, sagte er traurig.

„Aber da draußen laufen irgendwelche verrückten Kerle herum, die hinter mir her sind“, zitterte ich am ganzen Körper. Was hatte ich denn nur erhofft? Dass sie Rücksicht auf mich nahmen? Nach allem,

was ich angerichtet hatte? Nein, ich war auf mich allein gestellt und würde auch so schnell nicht den Kopf einziehen.

Energisch richtete ich mich gerade auf und sah Connor fordernd in die Augen. „Ich werde einen Weg finden, um Jace da rauszuholen. Ich gebe nicht so schnell auf“, knurrte ich ihn an. Ich wendete mich zum Gehen ab und spürte, wie sein dominanter Blick auf mir ruhte. Ich lächelte und fühlte, wie sich eiserner Stolz in mir ausbreitete.

Kurz entschlossen machte ich mich auf den Weg zurück, als ich von einem schwarzhaarigen Typen angerempelt wurde. „Hey!“, schrie ich ihm hinterher,

verstummte jedoch, als er sich wutentbrannt umdrehte. Eiskalte Schauer liefen mir über den Rücken und ließen mich zurückweichen. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, bevor er sich umdrehte und von dannen zog. „Wer war das denn?“, murmelte ich. „Das war Eric. Mutter hat ihn gerade zur Sau gemacht, weil er es war, der Jace zurückgebracht hat“, ertönte Tabeas Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. „Gut, dass ich dich sehe. Du musst mir einen Gefallen tun.“ Tabea sah mich fragend an. Ich erzählte ihr von meinem Treffen mit Connor und meinem Entschluss, die Wahrheit herauszufinden. Sie nickte. „Aber wie willst du das anstellen, ohne dich zu

erinnern?“ Ich lächelte sie verschwörerisch an.

„Weißt du, wo ich Stella finden kann?“ Sie nickte, war jedoch nicht überzeugt von meiner Entschlossenheit. „Hör zu! Ich bin auch von Jaces Unschuld überzeugt, aber ich glaube nicht, dass Stella uns dabei helfen kann.“ Ich wusste, was ihr jetzt durch den Kopf ging. Aus einem unerkannten Grund schien Stella mich nicht zu mögen, aber genau das war es, was sie zur perfekten Mitstreiterin machte. Sie würde keinerlei Rücksicht auf mich nehmen. „Hilfst du mir jetzt oder nicht?“ Tabea seufzte und deutete mir, ihr zu folgen.

„Was wollt ihr hier?“ Stella stand an einem kleinen Bach. Ich drehte mich zu Tabea um. „Ich schaff das jetzt allein.“ Tabea zweifelte immer noch an meinem Vorhaben, trotzdem ließ sie uns schließlich allein. „Ich brauche deine Hilfe“, eilte ich unbeholfen Stella hinterher. „Du bist meine Schwester losgeworden!“, stellte sie erstaunt fest, ohne auf meine Bitte einzugehen. „Sie hat mit der Sache nichts zu tun.“ Jetzt hatte ich endlich Stellas Aufmerksamkeit. Sie drehte sich zu mir um und sah mich fragend an. „Und was hat dich glauben lassen, dass ich etwas damit zu tun haben will? Ich kümmere mich nicht gern um die Probleme anderer.“

Ich wusste, dass sie log, denn es waren nur meine Probleme, die sie nicht zu interessieren schienen.

„Deswegen bin ich zu dir gekommen“, schluckte ich meinen Stolz hinunter.

„Wir wissen beide, dass Jace unschuldig festgehalten wird“, kam ich sofort auf den Punkt.

Überrascht blitzen ihre Augen auf. „Ich muss mit ihm reden, Stella!“

„Es darf keiner zu ihm, bevor die Verhandlung beginnt.“ Ich hielt ihrem Blick stand, um die Wichtigkeit des Treffens zu verdeutlichen. „Irgendetwas übersehen wir. Ich bin mir sicher, dass Jace derjenige ist, der Licht ins Dunkle

bringen kann. Aber irgendetwas hält ihn davon ab, die Wahrheit zu sagen.“ Stella zuckte mit den Schultern.

„Jace ist ein Idiot! Erst haut er ab und dann lässt er sich von seinem Onkel gleich wieder einfangen.“

„Was?! Eric ist sein Onkel?“ Bei der Erinnerung an den schwarzhaarigen Mann mit dem verachtenden Blick erschauerte ich. „Wie kann er nur seinen eigenen Neffen ans Messer liefern?“ Ich rieb mir die Schultern.

„Jace hat gegen unser wichtigstes Gesetz verstoßen. Er hat einen von uns angegriffen und damit unsere Familienehre beschmutzt. Aber das weißt du natürlich nicht!“, zischte sie mich an.

„Aber er war es NICHT!“, schrie ich sie an. „Das ist unwichtig, denn wenn einmal ein Angehöriger einen beschuldigt, lastet es für ein ganzes Leben auf einem“, spuckte sie die Worte mir entgegen. „Du wirst NIEMALS zu uns gehören!“, giftete sie mich an. Irgendetwas brach in mir entzwei, doch ich ignorierte es. „Hilfst du mir jetzt oder nicht?“

„Was sagt dir eigentlich, dass gerade ich dir bei der Sache helfen kann?“ Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und funkelte sie an. „Stella, wir wissen beide, dass du mich nicht besonders leiden kannst. Du wirst also nicht gleich hinterherrennen, wenn etwas bei der

Sache schiefgeht. Außerdem wissen wir beide, dass du einen höheren Rang im Rudel genießt, als du uns beide weismachen willst.“

„Eins muss man dir lassen, wenn du dir erstmal etwas in den Kopf gesetzt hast, dann lässt du nicht mehr so schnell davon ab.“ Ob es als Kompliment gemeint war, wagte ich zu bezweifeln, trotzdem nickte ich. „Ich weiß, dass ich keine Ansprüche erheben kann, und ich werde es auch nicht. Sobald ich alles wieder in Ordnung gebracht habe, verspreche ich dir, meine sieben Sachen zu packen und zu verschwinden.“ Stella kam auf mich zu und ging schließlich an mir vorbei. „Wenn das nur so einfach

wäre“, murmelte sie und blieb dann schließlich stehen. „Willst du dort Wurzeln schlagen oder mitkommen und Jace vor einer riesen Dummheit bewahren?“

Es wurde bereits dunkel, als ich nervös im Schutz der Schatten auf ein Zeichen von Stella wartete. Es herrschte eine unheimliche Stille, was mich an meinem Plan zweifeln ließ. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Stella schien jedoch keinen Gedanken an die möglichen Konsequenzen zu verschwenden, während sie sich mit dem Wachposten unterhielt. Ganz im Gegenteil. Sie redete mit dem Typen, der jedoch mehr Interesse für ihr

blassblaues T-Shirt zu haben schien, das patschnass an ihrem Körper anlag, nachdem sie ganz zufällig in den kleinen Bach gefallen war. Irgendwie tat der Wachposten mir leid, denn Stella war nicht gerade die Frau, die man hätte ignorieren können. Ihr braunes Haar, das sie kurz zuvor offen über ihre Schulter fallen gelassen hatte, umrahmte ihr rundes Gesicht und die schokobraunen Augen. Doch es gab einen kleinen, feinen Unterschied zwischen ihr und Tabea, der mich schließlich davon überzeugte, dass ich die richtige Wahl getroffen hatte. Es war ihr Blick, der mich wissen ließ, dass sie keine Probleme mit Regelverstößen hatte.

Stella war nicht die Person, die man beschützen musste, sie war es, die andere mit ihrem Leben beschützte. Gerade als ich verblüfft meinen Gedanken nachhing, nahm ich eine kleine Bewegung von Stella war. Das musste es gewesen sein, das Zeichen, auf das ich die ganze Zeit gewartet hatte.

Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, schlich ich mich von der anderen Seite an und rannte in den freiliegenden Eingang und wurde erst langsamer, als das Mondlicht gänzlich ausgeschlossen war.

Eine Höhle, schoss es mir als erstes durch den Kopf.

Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und ich versuchte mich zu orientieren. Ein Rascheln hinter mir ließ mich zusammenzucken. Ich drehte mich um und sah, wie ein paar Mäuse das Weite suchten. Ich seufzte und hätte laut aufgelacht, wenn ich nicht jeden Moment damit rechnen musste, dass mich jemand von hinten packte und nach draußen zerrte. „Da musst du jetzt wohl oder übel durch, Layla“, sagte ich flüsternd zu mir und machte einen Schritt vor den anderen. Ich kam an ein paar leer stehenden Zellen vorbei und lauschte auf das Plätschern des Wassers, das von der unebenen Steinwand perlte.„Hat man denn nie seine Ruhe“, durchbrach seine

Stimme die Stille und ließ mich zusammenfahren. Ich drehte mich langsam zu der Zelle um, aus der die Stimme kam. Jace sah etwas verwüstet aus, seine Kleidung war an einigen Stellen zerrissen und sein schwarzes Haar stand ab. „Idioten kriegen keine Sonderbehandlung“, verschränkte ich wütend die Arme vor der Brust. Jace zuckte bei meiner Stimme zusammen und drehte sich überrascht um.

„Was willst du?“, giftete er mich an.

„Wie wäre es mit der Wahrheit?“

Er sah mich fragend an. „Komm schon, Jace. Wir wissen beide, dass du mich nicht angegriffen hast.“ Er lachte. „Das sieht dein Freund aber anders.“

„Adam ist nicht mein Freund“, zischte ich und funkelte ihn wütend an.

„Ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, und ehrlich gesagt ist es mir auch egal. Hier geht es um weit Wichtigeres als eure Machospielchen.“ Ich hielt inne und atmete tief ein, um mich wieder in den Griff zu bekommen. „Ich weiß nicht, was hier für Spielchen gespielt werden. Nenn mich verrückt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du mich nicht angegriffen hast.“Er kam auf mich zu und umgriff mit seinen Händen die Eisenstangen, die uns voneinander trennten. Ich zuckte leicht zusammen, was er lächelnd zu Kenntnis nahm. „Du kennst mich nicht im Geringsten“, sprach

er meinen Gedanken aus. „Stimmt“, sagte ich ganz unbeirrt. „Aber ich schätze, Esther, Stella und all die anderen, die an deine Unschuld glauben, kennen dich gut genug. Außerdem hat mich mein Bauchgefühl noch nie im Stich gelassen.“ Mein Blick lag auf seinem breiten Rücken. „Wusstest du, dass du Stella sehr ähnlich bist? Ich meine, ihr hasst mich beide aus tiefstem Herzen, aus irgendeinem Grund, den ich nicht kenne. Aber es ist mir egal.“ Ich fröstelte und musste schlucken, bevor ich fortfuhr.

„Manche würden behaupten, ich würde aus Angst handeln. Immerhin ist derjenige, der mich angegriffen hat,

immer noch da draußen. Aber das ist es nicht“, stellte ich überraschend fest. „Ich habe mein Leben lang das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden. Es wird mich also nicht umbringen. Aber die Tatsache, dass meinetwegen unschuldige Menschen in Gefahr gebracht werden, damit kann und werde ich nicht leben.“ Ich seufzte und fuhr mit meiner Hand durch mein langes Haar. „Also überleg dir gut, ob die Person es wert ist, beschützt zu werden. Glaubst du, sie würde das Gleiche für dich tun?“ Jace rührte sich nicht, also beschloss ich, dass es für heute genug war, und ging.

Kapitel 12

Jace hatte den Rest der Nacht kein Auge

mehr zugemacht. Immer wieder musste er an das Gespräch mit Layla denken. Wütend schlug er mit seinen Fäusten gegen die steinige Wand.

Was hatte sie sich nur dabei gedacht? fragte er sich leise fluchend. Man hielt ihn für schuldig, wieso also glaubte sie, dass er log, und las ihm die Leviten. Sie muss verrückt geworden sein. Das war die einzige, sinnvolle Antwort auf seine Frage. Dieses Mädchen kannte ihn nicht so gut, wie sie zu glauben schien. Aber warum war er nur so wütend?

Er schlug ein weiteres Mal gegen die Steinwand und spürte, wie sie leicht vibrierte.

„Ist dir eine Laus über die Leber

gelaufen, oder warum bist du so angepisst?“ Jace drehte sich um, sah in das grinsende Gesicht von Wyatt. „Nicht auch noch du“, seufzte Jace.

„Ich weiß gar nicht, was du meinst“, stieß er sich von der Wand ab, an der er zuvor lässig gelehnt hatte. „Ich bin dein Henker, wenn du es so willst.“ Er machte eine tiefe Verbeugung, doch sein Grinsen sagte Jace, dass er etwas im Schilde führte. „Du hast den anderen ganz schönen Respekt eingeflößt, jetzt haben sie eine Heidenangst vor dir und deinen Wutausbrüchen.“ Er wedelte mit dem Strick, den er in seinen Händen hielt. „Ich soll dich damit fesseln und zu deiner Verhandlung bringen.“ Jace

seufzte, trat näher an das Gitter heran und bot seine Hände an, damit Wyatt sie fesseln konnte. Wyatt sah ihn mit seinen blauen Augen verwundert an. „Du weißt, dass ich keine halben Sachen mache.“ Jace nickte und trat einige Schritte zurück, damit Wyatt seine Zelle öffnen konnte. „Du verwunderst mich immer wieder, Jace“, bemerkte Wyatt, während er Jaces Hände auf den Rücken fesselte.

„Ich hatte mit Widerstand gerechnet. Irgendwie bin ich sogar ein wenig enttäuscht“, hob er seinen Blick, doch Jace wich seinem Blick aus.

„So, fertig. Noch ein paar letzte Worte, bevor ich dich in die Höhle des Löwen bringe?“ Jaces Verschwiegenheit wertete

Wyatt als Antwort und führte ihn ab. Den ganzen Weg über redete Wyatt über seine Frau und seine kleine Tochter, doch Jace war immer noch bei Laylas Worten. Ich kann es nicht ertragen, wenn unschuldige Menschen meinetwegen in Gefahr geraten, murmelte er vor sich.

„Hast du was gesagt?“ Jace zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. Er musste wieder einen klaren Gedanken fassen, damit er im Verhör keinen großen Fehler begann. Konzentration war jetzt das Wichtigste, sonst würde der Tag mit einer Katastrophe enden. Entschlossen hob er seinen Blick und trat in das große Gebäude ein, das sein Schicksal in den Händen trug. Mit Jaces Betreten

verstummte der Saal abrupt und er spürte die Blicke seiner Kameraden auf sich. Er erschauerte und Versuchte, seine Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren, doch dann traf er Laylas Blick. Sie wirkte müde und wütend, schien jedoch wild entschlossen zu sein, etwas zu verhindern, das schon beschlossene Sache war.

„Jace Sullivan“, ertönte die dunkle Stimme von Connor, seinem Anführer.

„Dir wird zur Last gelegt, Layla Randall aus blindem Zorn angegriffen und sie schließlich schwer verletzt zurückgelassen zu haben. Außerdem wird dir unterstellt, mit dem schwarzen Orden

zusammenzuarbeiten.“ Ein leises Raunen ging durch den Saal. „Hast du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen?“ Ihm hatte es die Stimme verschlagen. Irgendetwas lief hier gründlich schief. Keiner hatte zuvor behauptet, dass er mit den Hexenmeistern gemeinsame Sache machte. „Dein Fluchtversuch, kurz vor deinem ersten Verhör, ist wohl Antwort genug.“ Jace wollte schreien, doch dann sah er, wie seine Mutter weinend ihr Gesicht an Esthers Schulter verbarg. Sein Blick wanderte weiter zu seinem Vater, der beschämt neben Connor stand und seinen Blick mied. Nein!, dachte er sich. Er durfte sie keiner Gefahr aussetzen. Sein Blick wanderte zu Eric, der

bemitleidend neben Stella und Tabea stand. Zu guter Letzt blieb sein Blick wieder bei Layla hängen. Warum konnte er sie nicht einfach ignorieren? Weil sie nicht irgendwer war, antwortete seine innere Stimme. Sie muss genauso beschützt werden wie all die anderen in diesem Saal. Er verzog sein Gesicht angewidert und wendete seinen Blick ab.

„Da niemand deine Taten bezeugen kann und du weiterhin stillschweigst, wirst du die Konsequenzen tragen und mit sofortiger Wirkung verbannt.“ Verbannung also, dachte er und war erleichtert, dass es ihn nicht schlimmer traf. Er wollte gerade sein Urteil annehmen, als die schwere Tür hinter

ihm aufgerissen wurde. „Entschuldigung für die Verspätung“, keuchte Evie vor Anstrengung. „Dieser verdammte Verkehr hat mich länger aufgehalten, als ich gedacht hätte.“ Sie lächelte Layla an. „Ich hoffe, Sie haben noch kein folgenschweres Urteil gefällt?“, wendete sie sich jetzt an Connor.

„Evangeline“, begrüßte er sie überrascht, aber freundlich. „Du weißt, dass ich immer sehr erfreut bin, dich zu sehen, aber es ist gerade ziemlich unpassend …“

Sie schüttelte den Kopf und unterbrach ihn. „Ich scheine genau im richtigen Zeitpunkt gekommen zu sein.“ Layla, die bereits zu Evie getreten war, übernahm

das Wort. „Ich hab zwar keine Erinnerungen an die besagte Nacht und kann Jaces Unschuld nicht beweisen, aber jemand anderes kann es.“ Layla deutete auf den Laptop, den Evie bei sich trug und auf den Tisch vor sich aufstellte.

„Als ich angegriffen wurde, war ich tatsächlich allein. Aber da gibt es ja noch den edlen Retter, der so gnädig war, mich da draußen nicht sterben zu lassen.“ Connor wollte etwas erwidern, doch Esther nahm ihm das Wort ab. „Layla, mein Kind, es ist ehrenwert, dass du Jace helfen willst, aber es ist unmöglich, dass wir Adam vor dem Gericht zitieren. Er untersteht unseren

Gesetzen nicht.“

Layla verschränkte die Arme beleidigt und sah Connor grimmig an, lächelte aber schließlich.

„Ich wurde bereits ausführlich auf die Gesetzeslage hingewiesen.“

Sie drehte sich zu Tabea und Stella und zwinkerte ihnen zu. „Wir haben uns die ganze Nacht den Kopf zerbrochen und schließlich einen Weg gefunden.“ Evie fuhr den Laptop hoch, während Layla ihren Blick wieder auf Connor richtete. „Laut Gesetz darf kein Magier oder ein anderes Wesen den geweihten Boden des Wolfsreviers betreten, richtig?“ Connor nickte.

„Doch dies ist kein alltäglicher Fall,

denn es gibt zwei gravierende Unterschiede zum Normalfall.“

Jace lehnte sich zurück und horchte gebannt auf Laylas Stimme. „Es hat lange gedauert, bis wir etwas gefunden haben, aber würdest du uns bestätigen, dass es in bestimmten Fällen, wie zum Beispiel bei familiären Bindungen, zur Ausnahmesituation kam?“

Hatte sie etwa vor …? Jace starrte sie überraschend an. Sie war klüger, als sie aussah, doch ihr Plan hatte einen Haken. „So steht es geschrieben“, antwortete Connor ihr. „Nun, wie wir alle wissen, ist Adam Gray der Sohn von Kassandra Gray und der Bruder der hier anwesenden Evangeline Gray.“

Sie lächelte Evie an. „SeinVerwandtschaftsgrad zu einer Wölfin erlaubt ihm also, anwichtigen Ereignissen des Rudels teilzunehmen.“

„Das ist doch lächerlich!“, ertönte Erics Stimme aus dem Hintergrund. „Der Junge ist ein Bastard und trägt die Macht eines Magiers in sich.“

„Ich muss Eric leider recht geben, Layla. Er gehört zwar theoretisch zur Familie, aber unser Abkommen mit der Gilde der Magier verbietet es uns, ihn in unsere Angelegenheiten einzubinden.“

„Und trotzdem habt ihr Adams Anschuldigungen ernst genommen und nicht an ihnen gezweifelt.“

Sie hatte den Nagel auf den Kopf

getroffen. „Jaces Festnahme beruht allein auf Adams Beschuldigungen und trotzdem weigert ihr euch, ihn anzuhören.“ Layla hielt inne und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ihr würdet ihn also für etwas bestrafen, was er womöglich nicht getan hat. Nur weil ihr zu stolz seid, einen Zeugen, der nicht aus euren Reihen kommt, zu befragen?“

Sie hielt inne und sah herausfordernd über die Anklagebank und lächelte.

„Da bin ich aber froh, dass wir auch hierfür eine Lösung gefunden haben.“

Unruhig lief sie auf und ab, als brauchte sie mehr Platz für ihre Ausführungen.

„Wenn ich also zusammenfassen darf:

Adam hat eigentlich das Recht, anwesend zu sein und als Zeuge zu fungieren, doch sein Magierstatus verbietet es ihm auszusagen, weil er das Gebäude nicht betreten darf.“ Layla wartete, bis Connor bestätigend nickte. „Aber sagen wir mal, er könnte anwesend sein, ohne dieses Gebäude jemals betreten zu haben, wäre daran nichts zu ändern, oder?“

Verdammt, fluchte Jace innerlich. Er wusste genau, vorauf Layla hinaus wollte, und es passte ihm gar nicht. „Ich brauche keine Hilfe von diesem Arschloch“, knurrte er, doch Layla ignorierte ihn.

„Dann wäre eine Skype-Schaltung also die Möglichkeit, Adam aus freiem Willen

anzuhören? Ganz ungezwungen, versteht sich natürlich.“

Es hatte die ganze Nacht über gedauert, aber schließlich hatte ich mit Hilfe von Tabea ein Schlupfloch im Gesetzesbuch gefunden. Evie war schließlich auf die Idee mit dem Laptop gekommen und hatte Adam dazu überredet, eine Aussage zu machen.

„Adam hat sich bereits einverstanden erklärt, uns seine Version zu den Vorfällen zu erläutern, es fehlt nur noch Ihr Einverständnis.“ Connor seufzte und kapitulierte schließlich.

„Das ist nicht dein Ernst, Connor!“, trat Eric wütend vor. „Seit wann laden wir Magier ein und schenken ihnen auch

noch genügend Respekt, um ihnen Gehör zu schenken?“

„Es reicht jetzt, Eric!“, knurrte Connor. „Wenn er dazu beitragen kann, die besagte Nacht zu rekonstruieren, dann soll er sprechen.“ Er nickte Evie zu, die darauf den Stream öffnete.

„Ich bin überrascht. Ich bin davon ausgegangen, dass ich meine Zeit vergeude“, erschien Adam auf der gegenüberliegenden Wand. Unter seinen Augen lagen tiefe Augenringe, außerdem schien sein blasses Gesicht in sich zu fallen. „Die Mädchen waren ganz schön überzeugend“, begrüßte Connor Adam. „Also, was kannst du uns zur besagten Nacht erzählen?“

„Ich war die letzten Tage etwas angeschlagen und durcheinander.“ Connor nickte verständlich und sah von mir wieder zu Adam. „Ich fand Layla, gefangen in einem Bannzauber in der Gasse. Sie war von drei mächtigen, nach meiner Meinung Magiern umgegeben, die sie mit irgendeinem Zauber belegt hatten. Ihrer Wölfin hat das gar nicht geschmeckt, kann ich euch sagen“, abwesend strich er über seine Schulter und zuckte bei seiner Berührung leicht zusammen.

„Da habt ihr es!“, giftete Eric. „Es waren wieder diese Magier, die ihr Abkommen gebrochen haben. Sie haben es darauf ankommen lassen.“ Connor sah

ihn warnend an. „Sie trugen schwarze Mäntel und weiße Masken“, zischte Adam wütend. „Sie gehören nicht zu uns!“ Adam wurde rot vor Zorn. „Das ist heute nicht unser Thema“, beendete Connor damit den Streit, der in der Luft hing. „Mir wurde berichtet, dass du Jace von Anfang an beschuldigt hast. Warum?“

Adam sah Jace angewidert an, dann wanderte sein Blick von Layla zu Evie. „Wie gesagt, ich war etwas angeschlagen. In letzter Zeit habe ich ziemlich viel Energie beim Heilen abbringen müssen.“ Connor nickte und lächelte ihn freundlich an. „Wir sind dir eine Menge schuldig, ohne dich wären

wir ganz schön in Schwierigkeiten geraten.“ Adam schien sich etwas beruhigt zu haben und sah jetzt wieder Connor an. „Während ich mit den drei Hexenmeistern kämpfte, trat ein weiterer Anhänger des schwarzen Ordens aus dem Schatten und brach den Bannkreis, um die bewusstlose Layla zu verschleppen.“

„Das ist lächerlich! Alle wissen, dass kein Wolf imstande ist, einen Bannkreis zu lösen. Nur Magier und mächtige Hexen können sich daraus befreien!“

Adam sah wütend zu Eric. „Ich habe gesehen, wie sich die Person in einen schwarzen Wolf verwandelte!“, giftete er ihn an. „Er hat zur Flucht angesetzt, aber mir ist es gelungen, ihn mit letzter Kraft

an seiner rechten Flanke zu treffen.“

Jetzt grinste er unverschämt. „Ich schätze, ich habe ihn ganz ordentlich verletzt“, sah er zufrieden zu Connor, der ihn zu verstehen schien.

„Als wir Jace festsetzen konnten, war eine bereits verheilte Wunde erneut aufgerissen. Wenn ich darüber nachdenke, war das der Grund, warum wir ihn festnehmen konnten.“ Irgendwie verlief es gar nicht nach meinem Geschmack. Die Zeit war knapp gewesen, deswegen hatte Evie mich nicht über die ganze Aussage unterrichten können und ich hatte auch nichts über Jace Verletzung gewusst. Dieser Idiot, dachte ich mir. Warum saß er nur da und machte

nicht den Mund auf? Am liebsten hätte ich geschrien, er soll sich endlich zusammenreißen und die Wahrheit sagen, doch es war nutzlos. Er würde es durchziehen und wenn es bedeutete, seine Familie zu verlassen, dann würde er mit erhobenem Haupt gehen.

„Nun, ich könnte euch den Beweis bringen.“ Ich zuckte bei Adams Stimme zusammen und hörte, wie die anderen die Luft anhielten. Irgendetwas hatte sich an Adams Aura verändert. Seine Augen glänzten nicht mehr voller Leben, sondern nur noch kühl und abgeklärt. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. „Dazu brauche ich nur ein wenig Blut von allen potenziellen Verdächtigen.“

„Vergiss es!“, knurrte Eric.

„Er wird uns nur in den Dreck ziehen und wer weiß, was für einen Voodoo-Zauber er mit unserem Blut anstellt!“

„Wir vollziehen keinen Voodoo“, knurrte nun auch Adam, während das Bild zu flackern begann.

„Ihr wolltet meine Hilfe, nicht anders herum. Ich habe nur meiner Schwester nachgegeben.“

Connor nickte. „Wir sind dir sehr dankbar dafür, aber was willst du mit unserem Blut anstellen?“ Adam zuckte zufrieden mit den Schultern und das Bild wurde wieder klar. „Ich bin der Sohn meines Vaters und ein mächtiger Heiler. Ich habe seine Studien weitergeführt,

sodass ich meine Magie auch Tage später noch im Blut eines anderen wiedererkennen kann.“

„Schwachsinn!“ Eric lief rot an. „Das ist unmöglich. Der Angriff auf Layla war vor zwei Tagen. Es ist unmöglich, Spuren seiner Magie im Blut aufzuspüren.“

Eric und Adam würden wohl keine Freunde mehr werden, dachte ich mir, und auch Connor konnte die Feindseligkeit der Männer spüren.„Es geht um deinen Neffen, Eric. Um deine Familie“, erinnerte er ihn. „Wenn es beweist, dass mein Sohn unschuldig ist, werde ich mein Blut zur Verfügung stellen“, meldete sich eine Frau zu Wort, die Jace zum Verwechseln ähnlich sah.

Sie krempelte ihren Ärmel hoch und trat vor. Mich beschlich das gleiche seltsame Gefühl, das ich gespürt hatte, als ich Jace das erste Mal begegnet war. Sie muss beschützt werden, dachte ich und Jace schien derselben Meinung zu sein.

„Das ist unnötig!“, knurrte Jace, der nun von den zwei Wächtern an seiner Seite zurückgehalten werden musste. „Ihr habt euren Täter, lasst meine Mutter aus dem Spiel!“ Connor ignorierte ihn und sah zu Adam. „Wie können wir sicher sein, dass du uns die Wahrheit sagst?“ Adam zuckte mit den Schultern.

„Gar nicht. Ihr müsst mir schon vertrauen. Ihr könntet jedoch eine weitere Probe von euren Leuten

untersuchen lassen und ich könnte ihnen erklären, worauf sie achten müssen.“

„Connor, das ist lächerlich! Lass dich darauf nicht ein!“, knurrte Eric.

„Kannst du mir vielleicht mal verraten, was heute mit dir los ist, Eric? Jace hat immer zu dir aufgeschaut, warum weigerst du dich jetzt, dass wir seine Unschuld beweisen wollen? Erkläre es mir, Bruder“, unterbrach der Mann, der die ganze Zeit über neben Connor gestanden hatte. Mit einem ernsten Gesichtsausdruck drehte sich der Mann nun zu Connor um.

„Ich bin damit einverstanden. Eine Verbannung ist kein Urteil, das man voreilig beschließen sollte“, meinte er

nüchtern. Als er zu mir sah, zog mich seine große Narbe, die quer über sein Auge verlief, magisch an.

„Es geht um die Sicherheit unserer Familie. Und um die Sicherheit des ganzen Rudels!“ Er hatte Connor anscheinend überzeugt, denn er nickte.

„Hiermit beantrage ich eine Untersuchung des Blutes von Jace Sullivan. Weitere Proben von Mitgliedern des Rudels sind freiwillig einzureichen.“

Kapitel 13

Plötzlich ging es Schlag auf Schlag. Im ersten Moment gingen alle ihren gewohnten Arbeiten nach. Connor verlangte nach einem Arzt, während

andere versuchten, die schwarzhaarige Frau dazu zu überreden, keine Blutprobe abzugeben. Und im nächsten Moment jagte eine starke Druckwelle durch den Saal, die Evie mit ihrem Laptop an die steinige Wand schleuderte. Einen Wimpernschlag später spürte ich, wie jemand sein Messer gegen meine Kehle drückte.

„Warum beschützt ihr sie? Sie ist ein Bastard!“, knurrte Eric. „Wenn ihr euch einen Zentimeter rührt, schneide ich ihr die Kehle durch!“ Warnend drückte er mir das Messer an die Kehle. Ich hielt währenddessen die Luft an und versuchte, Ruhe zu bewahren.

„Was soll das, Eric?“, knurrte Ethan

seinen Bruder an. „Das sollte ich dich fragen, Ethan. Sie ist das Resultat der Untreue deiner Frau. Wieso nimmst du sie in Schutz?“

„Sie gehört zur Familie!“, brüllte Ethan ihn an. „Und wir schützen unsere Familie, schon vergessen?“ Eric lachte schallend auf. „So wie ihr damals auf mich aufgepasst habt, großer Bruder?“ Er schüttelte den Kopf. „Ihr habt mich den Hexenmeistern ausgeliefert und aufgegeben. Du warst es doch, der alle gerettet hat. Nur deinen Bruder hast du nicht beschützen können.“

„Das Mädchen hat damit nichts zu tun! Lass sie gehen!“

Wieder lachte Eric schallend los. „Sie

ist doch an allem schuld. Sie müsste tot sein, aber sie ist zäher, als ich dachte.“

„Du bist schuld an ihren Unfällen.“ Eric drehte sich auf dem Absatz um und sah Esther an. „So ein herzensguter Mensch, unsere Esther. Von dir hätte ich wirklich mehr Unterstützung erwartet. Immerhin hat sie deiner Familie genauso viel Schaden zugefügt wie meiner.“ Angewidert funkelte Esther ihn an.

„Wage nicht, uns in eine Schublade zustecken. Wir haben deren Fehltritt bereits verziehen, du hingegen hast nicht mal mit der Wimper gezuckt, als du Tabea in Gefahr gebracht hast. Verdammt, Tabea hätte in dem Feuer umkommen können!“, fluchte sie.

„Warum mussten die Mädchen sich auch einmischen?“

Stella stellte sich vor ihre Mutter, dessen Gesicht nun wutverzerrt war. „Sind sie nicht reizend?“, richtete Eric sich jetzt an mich. Ich hatte nicht viel von dem Gespräch mitbekommen, denn mit der kleinsten Bewegung riskierte ich mein Leben. So war ich überrascht, als Eric mich mit sich riss, sodass ich gezwungen war, Jace in die Augen zu sehen. „Sie alle lieben dich, obwohl du erst deine Schwester in Gefahr und schließlich deinen Bruder hinter Gittern gebracht hast.“

Kleine schwarze Pünktchen schwirrten vor meinen Augen und begrüßten das

Schwindelgefühl. „Erstaunliche Leistung, wenn du mich fragst.“ Familie? Schwester? Bruder? In mir drehte sich alles und ich verlor langsam jegliches Gefühl für meine Umgebung. Er wendete sich um und starrte nun die Mutter von Jace an.

„Cynthia, meine liebe Schwägerin, ist übrigens deine abscheuliche Rabenmutter“, zischte er. „Ich frage mich wirklich, warum sie nach all dem, was passiert ist, immer noch zu dir halten.“ Doch dann schien ihm ein Licht aufzugehen. „Sie wissen nicht, was du mit deinen Eltern angestellt hast, oder?“ Er schüttelte enttäuscht mit dem Kopf.

„Du hast ihnen verschwiegen, dass du

das ahnungslose Paar, das dich aufgezogen hat, auf dem Gewissen hast“, fand er eine Erklärung und lächelte. „Du hast sie getötet, weil du die Kräfte der ersten Verwandlung unterschätzt hast. Stimmts?“ Er rüttelte an mir, als er keine Antwort von mir bekam. Langsam, aber sicher begann sich mein Bewusstsein zu verabschieden, doch Eric schlug mir mit seiner freien Hand wütend ins Gesicht. Diesen Moment der Unachtsamkeit nutze Jace und hechtete mit einem gewaltigen Satz auf Eric zu und schlug ihm das Messer aus der Hand. Tränen verschleierten meine Sicht, während ich zu Boden ging. Um mich herum brach Chaos aus. Eric konnte nur mit einigen

Schwierigkeiten den Hieben von Jace ausweichen, doch schließlich gewann er die Oberhand und nutzte sie zur Flucht.

„Sie wird euer Untergang sein!“, schrie Eric.

„Ihr werdet euch alle noch wundern, wozu sie fähig ist.“

Mit jeder Sekunde, die verstrich, verschwamm die Umgebung um mich herum und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. In diesem Moment wünschte ich mir mehr als alles andere auf der Welt, dass ich nie in diesem Krankenhaus gelandet und somit auch nicht auf Esther getroffen wäre. Ich war mir bewusst, dass die Leute

ringsherum mich anstarrten, doch das war mir egal.

Ich wollte einfach nur noch die Augen schließen und aus diesem Albtraum aufwachen.

„Layla?“ Ich wich bei Esthers Berührung zurück. Die Kraft, den Kopf zu heben, um ihrem enttäuschten Blick standzuhalten, fehlte mir. „Evie!“, rief ich verzweifelt. „Kannst du mich bitte hier wegbringen“, flehte ich sie weinerlich an. Ich spürte, wie sich eine weitere Person zu mir stellte, verstand jedoch kein einziges Wort, das sie miteinander wechselten. Erst als Evie sich zu mir hinunterbeugte, sah ich in ihr blutiges Gesicht. Ich hob meine zittrige

Hand, doch sie schüttelte den Kopf.

„Mit mir ist alles in Ordnung. Bis wir zu Hause sind, ist alles wieder verheilt“, lächelte sie mich an. Sobald ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, senkte ich meinen Blick zu Boden und verließ mit Evie das Gebäude.

Während der Fahrt herrschte eine drückende Stille zwischen mir und Evie. Schließlich hob ich langsam meinen Kopf und traf im Rückspiegel auf den besorgten Blick von Evie. Inzwischen waren ihre Verletzungen so gut verheilt, dass nur noch blaue Flecken zu sehen waren.

Ich runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts. Erst als Evie den Motor

ausstellte, sah ich sie an. „Versprich mir, dass du Adam nichts davon erzählst“, flüsterte ich. „Ich will nicht, dass er es weiß.“ Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle.

„Bitte!“, flehte ich sie an und wartete, bis sie nickte. „Ich erzähl ihm nur das, was er wissen muss. Den Rest überlasse ich dir.“ In diesem Augenblick kam Adam aus dem Haus gestürmt und bombardierte sie mit Fragen. Er sah mich kurz an, nickte und ging dann weiter. Evie öffnete die Autotür. „Kommst du mit rein, oder willst du im Wagen erfrieren?“

Ich wartete, bis Adam nicht mehr zu sehen war, bevor ich ihr ins Haus folgte.

„Adam hat noch einiges zu erledigen. Er wird vor morgen früh nicht nach Hause kommen“, erklärte sie mir.

„Du musst hundemüde sein. Ich werde dir ein paar Sachen rauslegen. Geh doch schon mal ins Bad.“ Sie deutete auf eine Tür. Ohne ein Wort nickte ich und schloss die Badezimmertür hinter mir.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich schon regungslos unter dem warmen Wasser stand, bevor ich das Wasser ausstellte und mich in ein flauschiges Handtuch wickelte. Den Blick in den Spiegel mied ich, denn ich wusste, dass mir nicht gefallen würde, was ich dort zu sehen bekam. Die Lichter waren bereits

alle erloschen, als ich das Bad mit Evies Shorts und einem ihrer T-Shirts verließ. Ich ließ mich auf das Sofa nieder, doch trotz aller Müdigkeit wollte sich der beruhigende Schlaf nicht einstellen. Zu sehr fürchtete ich mich, mich mit den Ereignissen des Tages auseinanderzusetzen. Ich starrte an die Wand, bis mir irgendwann die Augen doch noch zufielen.

Ein leises Rascheln weckte mich schließlich aus meinem unruhigen Schlaf. „Es tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.“ Adam sah mich besorgt an.Hatte Evie ihm etwa alles erzählt? Ich sah ihn an, las aber keinerlei Abneigung oder Hass in seinen Augen. Da war nur

dieser traurige Blick, als wüsste er genau, wie ich mich fühlte. Ich wendete mich ab und sah auf meine Hände.

„Wo ist Evie?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, sie ist kurz zum Bäcker oder so.“ Abrupt stand ich auf und fasste einen Entschluss.

„Sag ihr, dass ich noch etwas Dringendes zu klären habe.“

„Sie müsste jeden Moment …“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich muss es jetzt tun.“ Bevor mir irgendwer zuvorkam, dachte ich und vermied es, Adam anzusehen.

„Danke. Danke, dass ich hier übernachten durfte.“ Adam rief mir noch etwas hinterher, aber ich war schon verschwunden.

Kapitel 14

Evie blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während sie gemütlich vor sich hin trödelte. Als sie vor zehn Minuten Adam entdeckt hatte, war sie nochmal um den Häuserblock gelaufen, um Layla die Chance zu geben, Adam auf den neusten Stand der Dinge zubringen. Evie seufzte. Der gestrige Tag musste für Layla ein Schock gewesen sein. Nicht nur, dass sie vor ein paar Tagen erfahren musste, dass ihre leiblichen Eltern ihr etwas von ihrem Erbgut mitgegeben hatten. Nein, jetzt erfuhr sie auch noch, dass die Familie, die sie weggegeben

hatte, die ganze Zeit in greifbarer Nähe war. Evie schüttelte den Kopf. „Ich würde glatt verrückt werden“, murmelte sie vor sich hin. Das war auch der Grund gewesen, warum sie ihr Versprechen gegenüber Layla gehalten und kein Wort zu ihrem Bruder gesagt hatte. Außerdem würde Adam austicken, wenn er erfuhr, wer Layla in Wirklichkeit war. In den letzten Tagen hatte er sich verändert. Weg waren die Trübseligkeit und der Selbsthass, in dem er die letzten Jahre gefristet hatte. Ob das nun gut oder schlecht war, konnte sie noch nicht einschätzen. Eins jedoch war klar, Layla hatte einen großen Teil dazu beigetragen, dass Adam wieder am Leben teilnahm. Er

verließ wieder das Haus und traf sich mit Freunden. Mach dir keine Sorgen, ich bleib bei einem Freund, hatte er gesagt, als er uns entdeckt hatte. Natürlich hatte er mehr erfahren wollen, doch Laylas Blick schien ihm auszureichen und er überließ ihr das Feld.Schon damals, als Layla beinahe überfahren wurde, war es Adam gewesen, der beschlossen hatte, ihr zu helfen und sie ins Krankenhaus zu bringen, erinnerte sich Evie. Irgendetwas schien die beiden unweigerlich zu verbinden und sie hoffte inständig, dass es nicht diese Tragödien waren. Als das Haus in Sichtweite kam, beschloss Evie, dass sie ihnen genug Zeit gelassen hatte, und kramte nach ihrem Hausschlüssel.

Als sie hörte, wie jemand das Wasser der Dusche abstellte, holte sie drei Tassen aus dem Schrank und füllte die Brötchen in den Brotkorb. Gerade dachte sie noch stolz, wie gut Layla die ganzen Vorkommnisse wegstecken konnte, als die Badezimmertür sich öffnete und Adam nur mit einem Handtuch um die Hüfte den Raum betrat.

„Adam?!“

„Wer denn sonst?“, grinste er sie an und sah sich um. „Oder hast du etwa jemanden versteckt“, neckte er sie. Evie blinzelte ein paarmal, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können.

„Wo ist Layla?“ Er zuckte mit den Schultern. „Sie lässt dir ausrichten, dass

sie unbedingt noch etwas zu erledigen hat. Tut mir leid, aber sie war in ihrem Vorhaben nicht mehr zu stoppen.“ Evie begann zu fluchen.

„Was ist denn los?“

„Was los ist?“ Sie kramte wütend nach ihrem Handy.

„Da draußen läuft irgendein Irrer herum, der sie lieber tot als lebend sieht. Verdammt, Eric hat behauptet, sie hat ihre Eltern getötet.“ Sie hielt sich das Handy ans Ohr. „Ist sie bei Euch?“ Abermals fluchte sie. „Ich bin in einer halbe Stunde bei euch. Sag den anderen Bescheid, damit wir sie suchen gehen können.“ Sie legte auf und sah in das entsetzte Gesicht ihres Bruders.

„Es tut mir leid, dass ich dir das nicht genauer erklären kann, aber wir haben keine Zeit.“ Sie wendete sich ab, hielt dann jedoch inne.

„Was würdest du an ihrer Stelle tun?“ Adam brauchte nicht zu antworten, denn Evie wusste nur zu gut, was in ihrem Bruder vorging. Wütend ging er in sein Zimmer und schlug die Tür zu. „Wenn ich mich verwandle, bin ich schneller. Du kannst dann später nachkommen.“ Mit diesen Worten verließ sie fluchtartig das Haus.

Wütend fegte Adam seinen Schreibtisch leer. Warum ist mir nichts an Laylas Verhalten aufgefallen? fluchte er,

während er ein paar Bücher durch den Raum beförderte. Er hatte sich schon gewundert, als er seiner Schwester alles über den Ausgang des Verhörs aus der Nase ziehen musste. Jace ist unschuldig. Layla wird heute hier übernachten. Ja, mir geht’s gut, waren ihre Worte gewesen. Schließlich hatte er genickt und behauptet, dass er sich mit einem Freund traf. Nun, eigentlich war Andrew kein richtiger Freund, aber er schuldete ihm noch einen Gefallen.

Ich hatte mir doch geschworen, direkt nach meinem Besuch beim Präsidium jede Einzelheit von Evie herauszukitzeln, raufte er sich die Haare. Nun war es zu spät. Aber wer

hätte schon ahnen können, dass es so schlimm war? Seufzend setzte er sich auf seine Bettkante. Er hatte doch nur helfen wollen. Sein Blick blieb an der Akte hängen, die verstreut über den Boden lag. Fluchend hockte er sich hin und begann, die Blätter wieder einzusammeln, als Evies Worte durch seinen Geist wanderten. Eric hat behauptet, sie habe ihre Eltern getötet. Was würdest du an ihrer Stelle tun?

Diese Frage plagte ihn selbst schon sein Leben lang, jedoch hatte er nie den Mut gefunden, seine Gedanken in die Tat umzusetzen. Layla jedoch war anders. Sie hatte niemanden, der sie in dieser Welt festhielt. Keine Familie. Keine

Freunde, die sie zurücklassen würde. Das dachte sie zumindest.

Er musste zurück an das Gespräch denken, das er mit ihr geführt hatte, als sie nach seiner Heilung aufgewacht war. Der Tod ihrer Eltern hatte sie schwer mitgenommen und hatte tiefe Wunden hinterlassen, die immer noch nicht verheilt waren. Sie würde eine Dummheit begehen, daran bestand kein Zweifel. Er musste sie finden, bevor ihr etwas geschah. Er versuchte seine Gedanken zu verdrängen, mahnte sich zur Konzentration und fragte sich, was er an ihrer Stelle tun würde.

„Bingo!“, sagte er einige Minuten später, zog sich seine Jeans und ein

T-Shirt über und verließ die Wohnung.

Kapitel 15

Das Sonnenlicht brach sich im Laub der Bäume, das leise im Wind raschelte. Ich hockte ganz allein auf dem Friedhof, vor dem Grab meiner Eltern, und starrte auf die Todesdaten. Ich legte meine Hand auf den sonnenerwärmten Granitstein und las die Inschrift Willow und Keith Oliver für die Ewigkeit miteinander vereint. Sanft strich ich über den Grabstein, während ich mit der anderen Hand die Tränen wegwischte. „Ich vermisse euch“, schluchzte ich, hob meinen Kopf und sah in das grelle Sonnenlicht. „Was hab ich nur getan?“, schrie ich und schreckte damit die in den Zweigen sitzenden

Vögel auf. „Ich hab euch doch geliebt“, schluchzte ich leise. Die Erschöpfung der letzten Tage würde bald ihren Preis fordern, aber ihr nachgeben würde ich nicht. Erst als sich ein unheimlicher Schmerz durch meine Schläfen bohrte, wusste ich, dass sich jemand an mich herangeschlichen hatte. Zu spät, war mein letzter Gedanke, bevor ich das Bewusstsein verlor.

Hämmernde Schmerzen dröhnten in meinem Kopf, als ich wieder zu mir kam. Zitternd ertastete ich den kalten Steinboden unter mir. Ich öffnete die Augen, doch mich erwartete nur einsame Dunkelheit.Wimmernd tastete ich mich

weiter, bis ich auf etwas Unsichtbarem stieß, das mich zurückschleuderte. Ich jaulte vor Schmerz auf, als ich auf den harten Boden aufschlug. „Ich hätte härter zuschlagen sollen“, ertönte eine Stimme aus der Ferne, die mich zusammenzucken ließ. Automatisch wich ich einige Zentimeter zurück und ignorierte den Schmerz. Verzweifelt kniff ich meine Augen zu, doch mir gelang es nicht, etwas zu erkennen. Als mir ein leicht metallischer Geruch in die Nase stieg, begann ich unwillkürlich zu würgen. „Nanana, wir wollen doch nicht, dass du uns wieder verlässt. So macht es doch viel mehr Spaß, dich zu quälen.“ Jemand trat mir auf die Hand, sodass ich die

Knochen bersten hörte. Ich schrie vor Schmerzen auf und schluchzte. Eric dagegen lachte schallend auf.

„Deine Qualen werden mir mehr Spaß bereiten, als ich es für möglich gehalten habe.“Ich spürte einen stechenden Schmerz an meiner Schulter. Unmittelbar darauf rann etwas Warmes meinen Arm herunter. „Ich werde dich bluten lassen, gleich nachdem ich dir sämtliche Knochen gebrochen habe. Du wirst mich später noch anflehen, deinem Leben ein Ende zu setzen.“ Seine Hand legte sich um meinen Hals, hob mich hoch und drückte mir dir Luft ab. Mittlerweile gelang es mir, leichte Schemen wahrzunehmen, doch es war immer noch

zu wenig, um Eric zu erkennen. Als ich meine Augen schloss, schlug er mir ins Gesicht. „Diese Ohnmachtsanfälle werden langsam langweilig, findest du nicht?“, schleuderte er mich durch den Raum. Ich versuchte, mich aufzurichten, doch der Schmerz erinnerte mich nicht nur daran, dass mein Arm gebrochen war, sondern auch an die Fesseln an meinen Beinen. Ich robbte rückwärts in der Hoffnung, genügend Abstand zwischen mir und Eric zu bringen.

„Weißt du, was mich immer wieder erstaunt? Dass das gejagte Opfer immer noch glaubt, fliehen zu können, obwohl der Jäger viel mächtiger und schlauer ist als die dumme, blinde Beute“, lachte er.

„Findest du nicht auch, dass dieser Blendungszauber etwas für sich hat? Irgendwie sehr erregend, findest du nicht?“

Übelkeit stieg in mir auf und ich begann wieder zu würgen. „Ich könnte dir Schmerzen bereiten.“ Blitzartig wendete ich mich der Stimme zu. „Oder ich könnte dir die Luft abschnüren“, kam es jetzt von rechts.

„Oder ich könnte dich für dein Vergehen bluten lassen“, kam es nun von links. Ich schrie vor Schmerzen auf, als ich spürte, wie sich sein Messer in mein Bein bohrte. „Leider führen all diese Möglichkeiten zu einem viel zu schnellen Tod, den ich dir jedoch nicht zusage.“

Als ich seinen Atem in meinem Gesicht spürte, spuckte ich ihn an. Wütend schlug er zu, bis ich einige Meter weiter mit dem Körper hart aufschlug und ich meinen Kopf an etwas Kantigem stieß. Lächelnd nahm ich zur Kenntnis, wie Eric zu fluchen begann, bevor mir ein donnerndes Kampfgebrüll in die Bewusstlosigkeit folgte.

Es hatte etwa zwanzig Minuten gedauert, bis Adam herausgefunden hatte, wo man Laylas Eltern begraben hatte. Er hatte alles stehen und liegen lassen, war in seinenFord Taurus gestiegen und raste nun unaufhaltsam über die Straße Richtung Alder-Grove-Friedhof.

Dies war der einzige Ort, an den er selbst geflüchtet wäre, wenn er von Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen geplagt würde. Lag er mit seiner Einschätzung falsch, dann konnte er nur hoffen, dass die anderen mehr Glück bei ihrer Suche hatten. Es dauerte eine Weile, bis er den schwarzen Grabstein der Familie Oliver gefunden hatte, doch von Layla fehlte jede Spur. Er seufzte, beugte sich hinunter und berührte die zwei weißen Lilien, als er plötzlich stutzte. Blut. Und es ist noch ganz frisch. Fluchend richtete er sich auf und wünschte sich, er habe diesmal mit seiner Vermutung unrecht und Layla

lebte noch. Der Friedhof war ungewöhnlich leer, als ihm etwas am Wegrand auffiel. Vorsichtig schlich er sich an, denn je näher er dem mit Rhododendron bepflanzten Wegrand kam, desto übler wurde der Gestank. Er glaubte den Überraschungsmoment auf seiner Seite zu haben, als er sich der Person näherte, doch jemand war ihm schon zuvor gekommen. Adam drehte die Leiche mit dem Fuß um und sah die klaffende Wunde an seiner Brust, bevor er dem Mann die Maske vom Gesicht riss.

Der blonde Mann, dessen Gesicht vor Angst erstarrt war, verdiente sein Mitleid nicht. Adam holte sein Handy aus der

Tasche, fotografierte die Leiche und setzte seinen Weg fort. Die zahlreichen toten Hexenmeister und das viele Blut wiesen ihm den richtigen Weg. Wenn man die Brutalität betrachtete, musste hier eine ganze Armee am Werke gewesen sein, doch ihn beschlich das Gefühl, dass dem nicht so war. Bei der dritten Leiche angekommen, hörte er unerwartet ein lautes Krachen. Sofort ließ er von der Leiche ab und trabte zum Ort des Kampfes. Er würde schon herausfinden, wem er für die gute Tat zu danken hatte, war sein letzter Gedanke, bevor er eine nahegelegene Gruft erreichte, aus dem er schmerzvolles Stöhnen vernahm. Adam ignorierte seine

guten Vorsätze, diesmal Hilfe anzufordern, und stürmte in die Gruft. Mit einer Drehung wich Adam dem durch den Raumfliegenden Körper aus.

„Du“, knurrte jemand von der anderen Seite. Adam drehte sich um und sah in das blutige Gesicht von Jace. Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus, er konnte nichts dagegen tun. „Dein neues Make-up steht dir ausgezeichnet.“ Jace brummte irgendetwas, während er demzweiten Angreifer einen Boxhieb versetzte.  Nun waren es nur noch sechs Magier die sich auf Jace abgesehen hatten.„Was willst du hier?“

„Nun, eigentlich wollte ich zu Layla.“

Adam sondierte den Raum und stockte, als er den zusammengefallenen Körper von Layla entdeckte. Das Pentagramm leuchtete ringsherum hell auf, während eine weitere Person sich über Layla beugte. „Jetzt hol sie hier schon raus!“, brummte er. Adam machte einen Sprung nach vorne undversetzte einem Hexenmeister einen Kinnhaken, der überrascht zu Boden ging. „Das wollte ich schon die ganze Zeit über ausprobieren.“

„Ich weiß, du hörst dich gern reden, aber wenn es dir nichts ausmacht, spielst du jetzt den edlen Helden und rettest die Jungfrau in Not und überlässt mir, verdammt nochmal, die Drecksarbeit!“

Adam schluckte einige Beleidigungen hinunter und kniete sich zu Boden und betrachtete das Pentagramm.

„Interessant!“, murmelte er. Es war nicht irgendeine Magie, die hier wirkte. So einen starken Bannzauber hatte er bislang noch nirgendwo zuvor gesehen. Nur ein sehr mächtiger Hexenmeister oder Magier konnte solche Magie aufbringen, um den Bann aufrechtzuerhalten. Seine Besorgnis galt jedoch nicht dem Auflösen des Pentagramms, sondern den Folgen seines Handelns. Denn jeder Bann hatte seine Schwächen, doch dieser hier war speziell und er wusste nicht, was er damit heraufbeschwören würde. „Warum dauert

das denn so lange?“, keuchte Jace.

„Irgendetwas beunruhigt mich.“

„Du bist überfordert.“ Man konnte förmlich den Sarkasmus in Jaces Stimme hören, doch Adam ignorierte ihn. „Ich kann ihn aufheben, aber …“

„Aber was?“, schickte Jace dennächsten Magier zu Boden.

„Ich weiß nicht, wir könnten damit etwas viel Schlimmeres auslösen.“ Jace lachte schallend auf.

„Noch schlimmer? Falls du es noch nicht bemerkt hast, kämpfen wir bereits um unser Leben, schlimmer geht’s also nicht mehr“, keuchte er, als er einemweiteren Schlag parieren musste. Jaces Entschlossenheit nahm Adam die

Entscheidung ab. Adam schloss den Kampf um sich herum aus und gab sich seiner inneren Ruhe hin, bevor er langsam seine rechte Hand auf die Markierungen des Pentagramms legte. Unter ihr begann es leise zu knistern, während er leise Worte vor sich hinmurmelte. Der Boden unter ihm bebte und die Luft um ihn wurde dünner. Seine Hand begann zu zittern und er hätte aufgegeben, wenn nicht Jaces Gesicht in dem Moment vor seinem inneren Auge aufgeblitzt wäre. Diese Entschlossenheit in seinen Augen und die Endgültigkeit, die er ausstrahlte.

Verdammt!, fluchte er. Er durfte nicht aufgeben. Nicht, nachdem er Jace da

draußen kämpfen sah, während er hier saß und unfähig war, das zu retten, weswegen sie hier waren. Mit geschlossenen Augen verlieh er den Worten, die er sprach, mehr Kraft. Plötzlich zerriss ein qualvoller Schrei seine Konzentration. Erschrocken riss er die Augen auf und sah, wie dieHexenmeister zu Asche zerfielen.

Jace ging erschöpft zu Boden. Er schüttelte den Kopf und deutete ihm, weiterzumachen. Adam drehte sich wieder um und sah auf seine Hände, die bereits trocknende Risse aufwiesen. Er würde auf keinen Fall aufgeben und zusehen, wie sich dieser Kerl an den Schmerzen von Layla ergötzte. Er schrie

die Worte nun, sodass sie von den Wänden der Gruft abprallten, die bereits zu bröckeln begannen. Der Bann löste sich und entfesselte damit eine Kettenreaktion aus. Meterhohe Flammen stießen aus dem Steinboden und zogen einen Kreis um Adam. Er schrie und sah zu, wie Jace bewusstlos zu Boden fiel. Adam spürte, wie unter seinen Füßen der Boden vibrierte. Eric hingegen amüsierte sich prächtig.

„Du hast es tatsächlich geschafft. Viel Zeit, in deinem Erfolg zu baden, wird dir wohl nicht bleiben.“ Eric wandte sich um und spazierte gemütlich über Layla hinweg, aus der Gruft hinaus.

Kapitel 16

Bei jedem Versuch, den Flammen zu entkommen, schrie Adam auf und der flammende Ring zog sich zusammen. Er sah zu Jace hinüber, der sich immer noch nicht rührte. Dann wanderte sein Blick zu Layla.

Frustriert musste er mit ansehen, wie sich eine Pfütze aus dicker roter Flüssigkeit um sie herum bildete. War das sein Ende? Er schüttelte den Kopf. Es war einfach nicht fair, dass er mit ansehen musste, wie er eine unschuldige Person mit in den Tod riss. Doch dann passierte etwas Erstaunliches. Die Vibrationen des Bodens endeten, als der Raum mit einem goldenen Glanz überflutet wurde und die tiefen Risse

sich schlossen. Laylas bewusstloser Körper bäumte sich auf und ein himmlischer Gesang erklang, der ihm Tränen in die Augen trieb und ihn glücklich einstimmen ließ. Erfreut breitete er seine Arme aus, um die Melodie willkommen zu heißen, als das grelle Licht wieder erlosch.

Layla fiel wie ein nasser Sack zu Boden und Adam tat es ihr erschöpft gleich. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Flammengefängnis ebenfalls verschwunden war. „Was …?“, er schüttelte den Kopf. Er würde später genügend Zeit haben, sich den Kopf zu zerbrechen. Sobald er sie alle hier herausgebracht hatte. Er stolperte

hinüber zu Jace. Als er sich überzeugt hatte, dass er noch lebte, kroch er auf allen Vieren zu Layla. „Oh mein Gott!“, fluchte er. Ihre Kleidung war zerrissen und mit ihrem eigenen Blut verschmiert. Reglos lag sie da, während er nach ihrem Puls fühlte und ihre Atmung überprüfte. Ein leises Bröckeln hinter ihm mahnte ihn zur Eile. Denn lange würde die Gruft den dicken Rissen in den Wänden nicht mehr standhalten können.Einplötzliches Husten riss Adam aus seinen Gedanken. „Bring sie hier raus!“, krächzte Jace.

„Aber …“ Der Boden erbebte und brachte Adam zum Schweigen. Jace funkelte ihn wütend an.

„Verflixt! Bring sie hier raus, sonst

gehen wir alle drauf.“ Er schloss die Augen und versuchte, seinen angespannten Körper zu entspannen. Er begann zu zittern. „Das Gebäude wird gleich einstürzen. Verschwinde!“, schrie Jace ihn an und verlieh damit seinen Worten mehr Druck. Adam murmelte irgendetwas Unverständliches und erhob sich fluchend. Jace schloss die Augen und gab sich seinem Schicksal hin, als er unsanft aufgehoben und über Adams Schulter geworfen wurde. „Hey!“

„Fresse!“, keuchte Adam. „Ich lasse niemanden zurück!“ Er zog Layla in seine Arme und taumelte zurück, als er sich erhob. „Scheiße, Mann. Hast du schon mal über eine Diät nachgedacht?“

Adam schloss die Augen, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, als er etwas knacken hörte. „Ich würde liebend gern ein Kaffeekränzchen mit dir abhalten, aber dafür müssen wir erst mal lebend hier rauskommen“, antwortete Adam auf Jaces unverständliche Worte. Wie ein Betrunkener taumelte Adam auf den Ausgang zu. Das hoffte er zumindest, denn hinter ihm stürzten schon die ersten Mauern ein. Er atmete tief durch und ignorierte den Schwindel, der ihn überkam, und rannte mit Gebrüll ins Freie und fiel fluchend auf den grünen Rasen.

Keuchend drehte er sich auf den Rücken

und sah zu, wie die Gruft endgültig in sich zusammenfiel. Er atmete ein paarmal tief ein und legte seinen Arm schützend vor die Augen. Der erste Schritt war geschafft und er hatte überlebt. Doch nun musste er sie alle in Sicherheit bringen, denn eine eingestürzte Gruft würde nicht lange unentdeckt bleiben. Und die Polizei war nun wirklich nicht das, was er gebrauchen konnte. Mühsam erhob er sich und suchte nach … Layla.

Laylas Körper lag nur einige Meter vor ihm. Und Jace …

Oh nein, fluchte er, als er zu schwanken begann.

Nicht ohnmächtig werden, befahl er

seinem Körper und hielt nach Jace Ausschau.

„Ich bekomme keine Luft mehr, Arschloch.“ Sollten etwa das die letzten Worte sein, bevor er ins Gras biss? Plötzlich spürte er, wie ihm etwas in die Seite stach. Er schreckte zusammen, bereit, sich dem Kampf zu stellen. Irgendetwas bewegte sich hinter ihm. Ruckartig drehte er sich um, bereit, einen Schlag auszuteilen. „Bisschen schreckhaft, was?“, versuchte Jace ihn anzugrinsen. Adam taumelte zurück.

„Hör zu …“, begann Adam. „Jetzt fang bloß nicht mit irgendwelchem Geschwafel, von -Ich habe dein Leben gerettet, du bist mir was schuldig- an.“

Jace versuchte, sich aufzurichten und sah hinüber zu Layla. „Kümmere dich um sie.“

„Scheiße, du blutest, Mann!“ Adam starrte auf die Wunde am Bauch, die Jace nun mit der Handfläche verdeckte. „Fass mich nicht an!“, knurrte Jace. „Ich komm schon klar. Kümmere dich um Layla, die ist schon eine ganze Weile bewusstlos.“ Jace senkte seinen Blick, während Adam sich langsam erhob. „Verdammt! Wenn ich höre, dass du abgekratzt bist, dann töte ich dich gleich nochmal. Rein spaßeshalber.“ Adam erhob sich und ging auf Layla zu und zog sie in seine Arme. „Wenn du ihr etwas antust, dann werde ich dich über den Tod hinaus

heimsuchen, damit wir uns da verstanden haben“, rief Jace ihm hinterher.

Adam ignorierte ihn und trabte, mit Layla in seinen Armen, über den leer gefegten Friedhof und brachte Layla zu seinem Wagen. Ohne sie loszulassen, öffnete er die hintere Tür und legte sie sanft auf den Rücksitz. „Du musst durchhalten!“, flüsterte er ihr zu und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor er auf den Fahrersitz stieg und losraste. Nervös tippte er eine Nummer in sein Handy. „Alder-Grove-Friedhof. Jace ist verletzt und braucht Hilfe.“ Ohne weitere Erklärungen legte er wieder auf und trat das Gaspedal durch.

Der Tod. Das musste er sein. Ich versuchte, meine Augen zu öffnen, war jedoch zu erschöpft und ließ es bleiben. Alles tat weh. Mir war übel und Schmerzen am ganzen Körper quälten mich. Krampfhaft versuchte ich mich zu erinnern, was geschehen war. Doch die Bilder meiner Erinnerungen schafften es nicht durch den dichten Nebel. Ohne einen triftigen Grund begann ich zu schluchzten. Ich rollte mich zu einer Kugel zusammen und wartete auf meine Erlösung, doch die leichten Vibrationen um mich herum wollten mich nicht gehen lassen. „Verlass uns nicht, Layla.“

Es war die drei wunderschönsten Wörter, die ich je gehört hatte. Ich

schluchzte und spürte, wie die Vibrationen und das leise Summen lauter wurden.

Adam überprüfte erneut den viel zu ruhigen Puls und die flache Atmung.

„Oh nein … Was …?“

Wer auch immer im Türrahmen erschienen war, fand nicht die Worte, um den Satz zu beenden. Dann spürte Adam einen Arm auf seiner Schulter. „Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen“, sagte die Stimme ruhig zu ihm. Adam schüttelte den Kopf und drehte sich um.

„Ach du lieber Himmel ...“, fluchte Evie. „Mach keinen Unsinn, Adam. So wie du aussiehst, kannst du unmöglich …“

„Wir haben keine Zeit, sie ins Krankenhaus zu bringen. Sie wird es nicht überleben“, zischte er. Er hörte sie fluchen. Sanft legte er seine Hand auf Laylas angeschwollenes Gesicht und verharrte auf ihrer aufgeplatzten Lippe. Laylas Stöhnen ließ ihn zusammenzucken.

„Geh, Evie. Bitte!“, sagte er nachdrücklich, als sie sich weiterhin weigerte, ihn allein zu lassen. „Ich brauch all meine Konzentration, wenn ich ihr helfen will. Also geh!“ Er hörte seine Schwester fluchen und die Tür ins Schloss fallen.

„Was hat er dir nur angetan?“ Seine Schultern sackten zusammen und er ließ sich auf die Bettkante nieder. Vorsichtig legte er seine Hand auf ihre und drückte sie sanft. „Wir bekommen das schon wieder hin“, flüsterte er und ließ seine Hand aufleuchten.

Fluchend ließ Evie sich aufs Sofa fallen und fuhr durch ihr langes, blondes Haar. Schreckliche Bilder der Folter spukten durch ihre Gedanken. Was hatte man ihr nur angetan? Ihre Haut war mit Blutergüssen übersät, wenn man von dem ganzen Blut und den verdrehten Knochen mal absah. Sie wusste, dass sie sich nicht so elend fühlen durfte, aber …

Keiner wusste davon, aber da gab es etwas zwischen ihrem Bruder und ihr, was über die natürliche Zwillingsempathie hinausging. Ihr war fürchterlich schlecht geworden, als sie mit den anderen Layla verzweifelt gesucht hatte. Kurz darauf hatte das Handy geklingelt und es hatte sie nicht gewundert, dass er es gewesen war. Sie hatte seine kurzen Anweisungen weitergegeben und war schließlich heimgekehrt, um sich davon zu überzeugen, dass Adam nichts fehlte. Wutentbrannt hatte sie die Qualen ignoriert, die in der Luft lagen, und war ins Zimmer gestürmt. Sie wollte ihm eine Standpauke halten, die sich gewaschen

hatte, doch dann hatte sie seinen angespannten Körper gemustert und ihre Wut war versiegt.

Oh nein, war das Einzige, was sie bei ihrem Anblick hatte erwidern können. Und dann hatte sich Adam umgedreht. Sein blasses Gesicht war vor Schreck verzerrt und trotzdem funkelte Entschlossenheit und Bedauern in seinen Augen. Von da an hatte sie gewusst, dass man ihn nicht aufhalten konnte, und den Rückzug angetreten. Nun starrte sie auf die geschlossene Tür. Egal, was drin passieren würde, etwas würde heute Nacht zerstört werden, da war sie sich ganz sicher.Das Klopfen an der Tür ließ sie zusammenfahren. Schwankend stand

sie auf und öffnete die Tür.

„Wo ist sie?“, drängte sich Jace zwischen den Frauen durch. Tabea sah sie entschuldigend an. „Wir wollten ihn nach Hause bringen, aber er wollte einfach nicht.“

„Wo?“,knurrte er abermals und trat in die Wohnung.

„In seinem Zimmer. Er versucht, sie zu heilen.“Wütend raste Jace auf das geschlossene Zimmer zu, wurde jedoch von Stella aufgehalten. „Du hast versprochen, dich auszuruhen, wenn wir dich herbringen“, drückte Stella ihn auf das Sofa. Jace brummte irgendetwas Unverständliches, verschränkte die Arme

vor seiner Brust und starrte auf die geschlossene Zimmertür. „Es bringt nichts, wenn du den einzigen Heiler tötest, der ihr helfen will.“Sie verstummten, als plötzlich ein lautes Poltern aus dem Zimmer zu hören war. Noch bevor jemand Jace aufhalten konnte, sprang er vom Sofa auf und riss die Tür auf.

Fluchend befreite Adam sich von den Brettern seines Bücherregals, als die Tür krachend aufgerissen wurde. „Verschwindet!“,fauchte er und richtete sich auf. Jace packte ihn am Kragen, warf ihn erneut gegen die Wand und hielt ihn gefangen in seinem Griff.

„Was machst du mit ihr?“,brüllte Jace ihn an. Blitzschnell hob Adam seinen Arm und umfing mit seiner Hand Jaces Arm.

„Lass. Mich. Los!“, drückte er fest zu undfunkelte ihn an. Jace riss ihn weg, als hätte ihn ein Schwarm Insekten gestochen. Schwankend ging er an ihm vorbei.

„Geht!“,fluchte Adam und legte erneut seine Hand auf Laylas Arm, um gleich wieder im Bücherregal zu landen. Er klopfte sich den Staub von der Hose und machte sich erneut auf den Weg zum Bett, doch bevor er auch nur in Laylas Nähe kam, riss ihn Evie weg.

„Was tust du da!“, beklagte Evie sich.

Adam wendete sich ihr zu undstarrte ihr direkt in die Augen. „Ich muss ihr helfen!“,knurrte er. „Sie darf nicht sterben“, riss er sich los.

„Sie will sich nicht helfen lassen, weil sie denkt, dass sie ihre Eltern getötet hat. Aber das stimmt nicht!“ Erneut flog er durch den Raum. „Sie darf sich nicht die Schuld geben. Ihre Eltern waren es, die sie im Stich gelassen haben, nicht sie!“ Und abermals wurde er ins Regal geschleudert.

„Ihre Eltern haben sich umgebracht und sie allein gelassen!“,schrie er nun und ging zitternd in die Knie. „Sie darf sich keine Schuld geben“, flüsterte Adam. Geschockt sah Evie, wie ihrem Bruder

Tränen in die Augen stiegen. Sie machte einen Schritt auf ihren Bruder zu, als sie von Jace aufgehalten wurde.

„Wir sollten ihn seine Arbeit machen lassen.“Wütendschlug Evie auf seine Brust ein.

„Es wird ihn umbringen, siehst du das nicht!“ Jace nahm ihre Schläge hin, während er sie behutsam aus dem Zimmer schob. Evie brach schluchzend zusammen.

„Es wird ihn nicht umbringen. Nicht, wenn er alles tut, um ihr zu helfen. Nur Hilflosigkeit kann uns etwas anhaben“,flüsterte Jaceund verließ schleichend die Wohnung. Schweigend folgte ihm Stella, während Tabea ihre

Freundin tröstend an die Brust zog.

„Es wird alles gut.“ Ein erneutes Krachen, gefolgt von einem Fluchen, ließ die beiden zusammenzucken.

Adam rappelte sich wieder auf und sah hinüber zum Bett. Sie blockierte seine Heilkräfte, aber wie sie es anstellte, war ihm ein Rätsel. „Entweder lässt du mich dich jetzt heilen, oder ich muss dich zu deinem Glück zwingen.“ Er ging erneut an ihre Seite, doch als er spürte, dass sie ihn immer noch abwehrte, zog er schnell seine Hand weg.

„Du wolltest es ja nicht anders.“ Er riss seine Kommode auf, holte einen Koffer heraus und dankte Gott dafür, dass er

immer ein Erste-Hilfe-Set vorrätig hatte.

„Ich habe noch nie jemanden verloren, für den ich verantwortlich war.“ Bei seiner Lüge zuckte er leicht zusammen und verscheuchte die aufkommenden Bilder seiner Vergangenheit. Desinfektionsspray und jede Menge Verbandsmaterial später betrachtete er sein Werk zufrieden.

„Jetzt kannst du uns zumindest nicht mehr verbluten.“ Nachdem er Layla ein Schmerzmittel verabreicht hatte, ließ die Anspannung ihres Körpers nach. Ein letztes Mal kontrollierte er Puls und Atmung und überprüfte ihren Blutdruck, bevor er sich erschöpft gegen die Wand lehnte und die Augen schloss. „Ich hab

dir doch gesagt, dass ich dich nicht sterben lasse.“

Kapitel 17

„Du musst wieder zurückkehren“, hauchte der Nebel.

„Layla, mein Kind. Du musst zurück in deine Welt.“

Erschrocken riss ich meine Augen auf. „Mum?“ Ich sah mich um, doch ich war allein zwischen den dicken Nebelschwaben. „Ich … Ich …“ Die Worte erstickten in meiner Kehle.

„Du trägst keine Schuld.“

„Dad?“ Ich begann zu frieren und dann spürte ich es. Ein sanfter Druck auf meiner Schulter. Tränen suchten ihren Weg über meine Wangen. „Nicht weinen,

mein Kind. Du brauchst keine Angst haben“, wirbelte die Stimme des Nebels. „Kehr zurück in deine Welt. Deine Zeit ist noch nicht gekommen, um hier zu verweilen.“

Der Nebel löste sich auf.

„NEIN!“

Ich schrie und wollte aufspringen doch irgendetwas drückte mich herunter. Reflexartig wehrte ich mich. „Layla. Layla, du bist in Sicherheit.“ Mein Schreien wurde zu einem leisen Wimmern, gefolgt von einem Stöhnen. Ich versuchte, meine Augen zu öffnen, doch ich schaffte es nicht. „Ich geb dir jetzt etwas gegen die Schmerzen.“ Ich

vernahm ein leichtes Stechen und versank wieder in die endlose Schwärze meiner Gedanken.

Mit einem Zischen zog Adam seine Latexhandschuhe aus und sah hinunter auf den schlaffen Körper von Layla.Fünf Tage. Layla hatte fünf Tage kein Lebenszeichen von sich gegeben. Nicht dass er in besserer Verfassung gewesen war. Im Gegenteil, denn die ganze Sache mit Layla und dem Kampf gegen die Hexenmeister hatten ihn ganz schön geschlaucht. Es war die erste Dusche, die Adam sich gegönnt hatte, seitdem er begonnen hatte, Layla zu behandeln, als er spüren konnte, dass sie jeden Moment

aufwachen würde. Und kaum hatte er das Wasser abgestellt und sich eine Hose übergezogen, vernahm er auch schon einen Schrei aus seinem Zimmer. Sofort war er hingeeilt, als Layla auch schon um sich schlug. Sofort hatte er nach ihren Armen gegriffen, damit sie sich nicht selbst verletzen konnte und sich wieder beruhigte. Ohne Erfolg.

Schließlich hatte er ihr das bereitstehende Schmerzmittel gegeben und …

Sie hatte aufgehört zu schreien, doch er wusste, dass es nicht die Schmerzen waren, die sie so panisch hatten werden lassen. Gerade wollte er sich umdrehen und das Zimmer verlassen, als er ein

leises Stöhnen vernahm.

„Layla?“ Er sank auf seine Knie und hielt ihre Hand.

„Layla, hörst du mich?” Keine Reaktion.

„Du bist in Sicherheit. Wir haben dich gefunden und in Sicherheit gebracht“, drückte er ihre Hand.

„Was, wenn ich gar nicht gerettet werden wollte?“, krächzte sie leise, während Tränen über ihre Wangen liefen.

„Ich habe sie gesehen“, schluchzte sie. „Ich wollte sie so gern in die Arme schließen und um Vergebung anflehen. Doch sie wollten mich nicht.“

„Scht“, legte Adam seine Hand auf ihre Wange und trocknete sie. „Vielleicht war es noch nicht an der Zeit für ein Wiedersehen.“

„Das haben sie auch gesagt“, flüsterte Layla, bevor sie wieder einschlief.

Ich hatte wirklich merkwürdige Träume gehabt. Größtenteils mussten es schreckliche Albträume gewesen sein, denn meine Muskeln waren ziemlich angespannt und schmerzten. Außer den schemenhaften Bildern vor meinen Augen hatte ich keinerlei Erinnerungen mehr an meine Träume. Seufzend öffnete ich die Augen und blickte mich in dem dunklen, unbekannten Zimmer um. Nervös versuchte ich mich aufzurichten, doch der Schmerz ließ mich aufjaulen und zurück in das weiche Kissen fallen.

Wo war ich nur? Ich hob meinen Arm und starrte auf die verbundene Hand. Dann blickte ich an meinem Körper hinunter, der ebenfalls mit zahlreichen Verbänden und Pflastern bedeckt war. War das ein Krankenhaus? Verschwommen nahm ich die Konturen einer Kommode und von den gegenüberliegenden Bücherregalen, die bis zur Decke reichten, und einem Schreibtisch wahr. Doch irgendwie passte dieses Zimmer nicht in das Muster eines sterilen, weißen Krankenhauszimmers. Verzweifelt versuchte ich mich zu erinnern. Verzweiflung. Angst und Hilflosigkeit. Erlösung. An mehr konnte ich mich nicht

mehr erinnern. Plötzlich öffnete sich die Zimmertür, sodass ein kleiner Lichtstrahl in das Zimmer fiel. „Du bist wieder zurück“, hörte ich Erleichterung in der männlichen Stimme, die ich nicht zuordnen konnte. Ich schloss die Augen und tat so, als würde ich schlafen, während ich den leisen Schritten, die auf mich zukamen lauschte. Irgendetwas klickte und ich spürte, wie die Matratze unter mir unter dem Gewicht des Ankömmlings nachgab.

„Layla. Layla, sieh mich an.“ Der Fremde zog die Decke von meinem Kopf, doch ich hatte zu viel Angst, um die Augen zu öffnen.

„Ich weiß, dass du wach bist, Layla“,

sagte die Stimme ruhig. Die Hand, die sich auf meine Stirn legte, ließ mich erschauern.

„Fieber“, stellte er erstaunt fest. Dann umfasste er mein Handgelenk.

„Der Puls ist in Ordnung.“ Als er die Hand wegzog, protestierte ich stöhnend. Ich öffnete die Augen und sah in die zwei wunderschönsten graublauen Augen, die ich je gesehen hatte. „Da bist du ja“, lächelte er mich an. „Wie geht’s dir?“ Als ich nicht antwortete, legte er erneut seine Hand auf meine.

„Adam.“ Ich zuckte zusammen, als ich mich sprechen hörte. Er nickte.

„Kannst du dich an das erinnern, was passiert ist?“ Ich schüttelte den Kopf,

was mich an die schrecklichen Kopfschmerzen erinnerte. Ich stöhnte auf und kniff die Augen zu.

„Ich kann dir etwas gegen die Schmerzen geben, wenn du willst.“ Ich nickte.

Als die Schmerzen nachließen, sah ich ihn dankend an.

„Ich sollte den anderen Bescheid geben.“ Als er Anstalten machte aufzustehen, klammerte ich mich an seine Hand und sah ihn panisch an. Er griff nach meiner Hand und streichelte sie behutsam. „Du musst keine Angst mehr haben. Wir haben dich da rausgeholt. Jetzt wird alles wieder gut.“ Ich schlucke, ließ ihn aber nicht los.

„Also gut“, gab er nach und setzte sich auf die Bettkante. Ich spürte, wie er leicht zusammenzuckte, als ich mich seufzend an ihn kuschelte. Doch ich brauchte jetzt seine Nähe, seine Wärme und konnte darauf keine Rücksicht nehmen.

Adam brauchte etwas, um sich in Laylas Gegenwart zu entspannen, doch schließlich legte er seine Beine auf die Decke und strich ihr langsam übers Haar. Er hatte es geschafft. Er hatte ihr Leben gerettet, oder nicht? Aber weswegen hatte er nur das ungute Gefühl, dass er ihre Situation schamlos ausnutzte, als sie ihn näher an sich zog? Layla seufzte

erleichtert auf, während er sich auf ihre regelmäßigen Atemzüge konzentrierte.

„Weißt du, ich könnte dich auch heilen“, meinte Adam nach einer gefühlten Ewigkeit. Doch sie war bereits wieder eingeschlafen. Erleichtert schloss er ebenfalls die Augen und lehnte sich für einen Moment zurück. Er genoss das Gefühl der Erleichterung, bevor er sich vorsichtig von Layla löste, aufstand und sein Zimmer verließ. Während er leise die Tür hinter sich schloss, tippte er bereits eine SMS und schickte die freudige Nachricht, die von Laylas Aufwachen berichtete, ab. Es dauerte keine Minute, als seine Schwester antwortete: „Wie geht’s ihr? Und wie

geht’s DIR?“ Adam fuhr sich seufzend durchs Haar, während er überlegte, was er antworten sollte. Denn das waren die ersten Worte, die sie miteinander wechselten, nachdem sie sich so richtig gestritten hatten. Nachdem Evie ihren Vater benachrichtigt hatte, war dieser natürlich total ausgeflippt und hatte ihm schreckliche Vorwürfe gemacht. Irgendwie hatte er sie ja verstehen können, denn er war ein lausiger Patient, der sich von oben bis unten hatte bedienen lassen, wenn er nicht gerade schlief. Er hatte ihr große Sorgen bereitet und ihm war es scheißegal gewesen. Doch genau diese Auseinandersetzung mit ihr und seinem

Vater hatte ihn zu Kräften gebracht, sodass er nun fast wiederhergestellt war. Sein Handy piepte erneut und er las die Nachricht von Tabea:„Sobald ich hier fertig bin, komm ich sie besuchen.“ Adam schüttelte den Kopf.„Ein wenig müde, aber sonst gut. Layla ist gerade wieder eingeschlafen. Sie braucht jetzt ihre Ruhe. Besuche erst wieder am Nachmittag“, beruhigte er gleich beide Frauen und legte das Handy auf den Tisch, als es erneut piepte.

„Danke.“ Es war das einzige Wort in Esthers SMS und trotzdem konnte man die Bedeutung deutlich spüren. Er sah auf die Uhr, die über dem Flachbildschirm hing. Ihm blieben noch

zwölf Stunden, bevor hier die Hölle los sein würde. Er legte die Beine hoch und starrte auf die Decke über dem Sofa, das seit einigen Tagen sein Domizil war, und hing seinen Gedanken hinterher.

Geräusche, die aus dem Nebenzimmer drangen,weckten mich. Keuchend wand ich mich, doch der Lärm wollte nicht nachlassen. Ich hob den Kopf und sah auf die geschlossene Tür. Jemand stritt sich dort draußen lautstark. Schließlich versuchte ich, mich aufzurichten, und schwang meine Beine über die Bettkante. Dort verharrte ich, denn der Schwindel wollte nicht von mir lassen. Die Tür öffnete sich leise, stöhnend schloss ich

die Augen wieder, damit ich das grelle Licht aussperren konnte.

„Sie ist wach.“ Es folgte ein Poltern und schließlich wurde die Tür aufgerissen. Ich stöhnte auf, doch meine Versuche aufzustehen wurden je unterbrochen, als etwas meinen Körper hinunterdrückte. „Das ist keine gute Idee“, sagte jemand sanft zu mir. Ich sah auf und lächelte mein Gegenüber an. „Adam.“ Er nickte, dann sah ich mich um und entdeckte Tabea und Evie. Ich schämte mich für meine Schwäche und versuchte, gleich noch mal aufzustehen. Meine Knie gaben nach, doch Adam fing mich auf.

„Ist gut“, meinte er beschwichtigend und hob mich wieder aufs Bett. Ich

senkte meinen Blick und unterdrückte die Tränen, die sich mir aufdrängten.

„Geh, Adam“, forderte Evie ihn auf. Sie zerrte an seinem Körper, doch er rührte sich keinen Zentimeter.

„Du hast doch behauptet, dass sie Ruhe braucht.“ Jetzt setzte sich Tabea auf die andere Seite des Bettes. „Ich will mit meiner Schwester allein sein.“ Adam zuckte bei dem befehlshaberischen Ton zusammen. Fluchend gab er den Bemühungen seiner Schwester nach, verließ mit ihr das Zimmer und stürmte in den trüben Tag hinaus.

Sobald die Tür ins Schloss fiel, brachen die Tränen aus mir heraus. Schweigend

tätschelte Tabea mir aufmunternd das Haar. „Schon gut“, flüsterte sie mir zu. Mein Körper begann zu beben und Tabea erstarrte.

„Wenn du Schmerzen hast ...“ Nein, dachte ich. Es waren nicht die höllischen Schmerzen, die mich erzittern ließen. Es lag auch nicht an der Übelkeit, die in diesem Augenblick in mir aufstieg.

Schwester, geisterte Tabeas Stimme in meinem Kopf. Ich schluchzte. Es war die unerklärliche Wärme, die sich in meiner Brust ausbreitete und mir die Luft abschnürte. Jemand machte sich Sorgen um mich. Dieser Streit zwischen Adam und den beiden Frauen. Sein besorgter Blick, als er mich auffing. Evies

verständnisvolle Stimme und Tabeas tröstende Hand auf meinem Rücken.

„Wir haben uns alle schreckliche Sorgen um dich gemacht“, bestätigte Tabea ihre Gedanken. Sie waren alle so stark gewesen und ich hatte jämmerlich versagt und allen Sorgen bereitet, zerfraß mich nun der Selbsthass.

„Danke“, murmelte ich und ließ meine Tränen versiegen.

„Ich …“ Tabea schüttelte den Kopf, als würde sie bereits wissen, was ich zu sagen hatte. „Du gehörst zur Familie, das war selbstverständlich.“ Wieder einmal traten mir Tränen in die Augen, doch ich wischte sie mit der unversehrten Hand fort. „Was Eric dir angetan hat …“ Sie

stockte, was ich nur zu gut verstand.

Immerhin sprachen wir hier nicht von irgendjemandem, sondern über ein Familienmitglied. Verdammt, er ist ihr Patenonkel, fluchte ich innerlich.

„… hat er uns auch angetan und es ist unverzeihlich“, beendete Tabea ihren Satz, während sie sich die Hand auf die Brust legte und sich verbeugte. „Ich hoffe, du kannst uns eines Tages verzeihen.“

Ich erstarrte und hielt die Luft an. Erst als ich bemerkte, dass Tabea sich nicht rühren würde, bevor ich nichts erwiderte, löste sich die Anspannung in meinen Muskeln und ich riss sie an mich. Wir schluchzten, trösteten uns gegenseitig,

bevor wir uns ansahen und grinsten.

„Willkommen in der Familie, Layla.“ Bei ihren Worten zuckte ich leicht zusammen. Familie. Ich schloss die Augen und plötzlich traten blutrote Bilder vor mir auf. Ich rückte von Tabea weg. Ich hatte bereits eine Familie verloren, wie sollte ich das nochmal durchstehen. Ich hatte getötet, wer versprach mir, dass es nicht wieder geschehen würde? Und diesmal würde ich mich sicherlich daran erinnern können. Den Schmerz meiner Abweisung konnte ich förmlich riechen, dafür brauchte ich Tabea nicht in die Augen zusehen. „Ich kenne nicht die Einzelheiten, aber so wie Jace und Adam aussahen, müssen sie

dich direkt aus der Hölle befreit haben“, murmelte sie verletzt.

„Bevor du also das Weite suchst, lass dir bitte von Adam helfen.“ Tabea erhob sich vom Bett und schritt zur Tür. „Tabea …“, hielt ich sie auf. „Ich … Ich bräuchte deine Hilfe“, murmelte ich und lief rot an.

Kapitel 18

Leise pfiff der Wind durch die Straßen und ließ die Blätter in den Baumkronen rascheln. Adam wusste nicht, wie viel Zeit seit seinem fluchtartigen Verschwinden vergangen war. Es mussten Stunden gewesen sein, in denen er ziellos durch die Straßen geirrt war. Erst als er vor dem Zero eintraf, einer Bar,

wo es nur so von Jugendlichen in seinem Alter wimmelte,  kam er wieder zur Besinnung. Wenn es sich vermeiden ließe, sich zu betrinken, würde er diesen Weg wählen. Also hatte er die Bar wieder verlassen und trabte zurück.

Scheiß auf die Gesetze, fasste er einen neuen Entschluss. Er hatte vor, seine Pflichten als Arzt ernst zu nehmen und Layla zur Ruhe zu zwingen. Niemand würde dazwischenfunken, weder seine Schwester noch irgendein sorgender Blutsverwandter. Er war bereit, einen Kampf bis aufs Blut hinzunehmen, um zu verhindern, dass Layla in nächster Zeit das Zimmer verließ. Sicher, meldete sich seine innere Stimme. Du bist ja so

objektiv. Es hat rein gar nichts mit dir und deinen Ansichten zu tun. Wen willst du eigentlich hier verarschen? Er ignorierte das leise Lachen seiner inneren Stimme und öffnete die Haustür. Und alles änderte sich.

„Adam?“ Er musste blinzeln, bevor er sich von Layla abwenden konnte, die verzweifelt versuchte, mit ihrer unverletzten Hand den Reis auf die Gabel zu hieven.

Er sah seine Schwester an, die auf der Sofakante saß. „Layla … Layla hat sich bereit erklärt, dass du dir ihren Arm ansehen darfst, bevor sie uns verlässt.“ Ein Kloß bildete sich in seinem Hals, als

er seinen Blick wieder auf Layla richtete. Ihr feuchtes, schwarzes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Verdammt, sie durfte nicht gehen.

Nicht bevor du sie gerettet hast? lachte die Stimme in seinem Kopf.Mach dich nicht lächerlich. Du kannst sie nicht vor der bösen, großen Welt beschützen.Er schüttelte den Kopf. „Adam, alles in Ordnung?“ Evies Stimme ließ ihn zusammenfahren und er beendete seinen inneren Kampf. Langsam ging er auf Layla zu.

„Darf ich mir das mal ansehen?“, fragte er sie ruhig, zog sich aber gleich wieder zurück, als sie bei seiner Berührung

zusammenzuckte. „Layla. Layla, sieh mich an.“

Er wartete, bis sie ihren Blick hob und ihn mit ihren leeren grünen Augen ansah.

„Ich werde dir nicht wehtun, das verspreche ich dir“, wich er ihrem Blick nicht aus. Sie nickte, legte die Gabel zur Seite und reichte ihm den verletzten Arm.

„Sieh hin, Layla. Sieh zu, was ich jetzt tue.“ Layla richtete ihren Blick auf seine Hand, die bereits ihre Verbände lösten. „Es wird womöglich ein bisschen kribbeln, aber nicht wehtun“, sagte er ruhig. Layla nickte und sah gespannt auf ihre angeschwollene Hand.

Plötzlich sprühten blauweiße Funken aus

seinen Fingern und legten sich auf ihre Haut. Ein erleichtertes Seufzen klang aus ihr, während sich ihre Augen schlossen und sie den Kopf in den Nacken legte.

„So ist es gut“, sagte Adam beruhigend. „Ich werde jetzt meine Hand von deiner lösen und mich um deinen Arm kümmern.“ Er hielt einen Moment inne, doch Laylas Verschwiegenheit nahm er als Erlaubnis an. Langsam wanderte seine rechte Hand über den Arm.

Zunächst hatte ich Angst vor Adam gehabt. Er schien ziemlich sauer gewesen zu sein, als er verschwunden war. Selbst Evie schien sich nicht sicher gewesen zu sein, als Tabea mir ins Bad geholfen

hatte. Trotzdem hatte sie mir, nachdem Tabea gegangen war, Reis gekocht und mir ein paar Klamotten geliehen. Und jetzt? Ich fragte mich, ob ich in meinem ganzen Leben etwas Vergleichbares erlebt hatte.

Diese Wärme, die durch meinen ganzen Körper floss, und das zarte Kribbeln auf meiner Haut, während Adams Hand sich auf meinem Arm legte. Ich vergaß alles um mich herum und genoss es, bis das Leuchten verglühte und ich protestierend die Augen aufschlug. Doch dann sah ich in das kalkweiße Gesicht von Adam und seine leeren grauen Augen und bekam ein schlechtes Gewissen. „Du solltest dich jetzt etwas ausruhen“, erhob er sich

leicht schwankend, doch niemand schien es aufzufallen.

„Ich sollte besser gehen“, erhob ich mich ebenfalls, doch Adam baute sich drohend vor mir auf und verschränkte die Arme.

„Hab ich mich nicht klar ausgedrückt? Du wirst dich jetzt ausruhen“, knurrte Adam.

„Wie bitte?“, stemmte ich die Arme in Hüften.

„Adam, vielleicht sollten wir …“

„Lass es gut sein, Evie“, brachten wir sie gemeinsam zum Schweigen.

„Du hast mir nichts zu sagen!“, funkelte ich ihn wütend an.

„Ach ja? Ich bin dein Arzt und ich sage,

du bleibst!“

„Geh mir aus dem Weg!“, schrie ich ihn an.

„Warum willst du gehen, Layla? Gib mir einen Grund, warum ich dich allein in die Nacht entlassen soll?“, forderte Adam mich heraus.

„Ich …“

„Stimmt ja, du hast keinen vernünftigen Grund. Denn irgendwo da draußen lauert Eric auf dich und wartet nur darauf, dass du einen falschen Schritt machst, damit er dich endlich umbringen kann! Aber genau danach suchst du, nicht wahr?“, fragte er wütend.

„Klär uns auf, Layla. Warum sehnst du dich nach dem Tod?“

Ich brachte kein einziges Wort über meine Lippen.

„Du denkst, der Tod ist die Lösung, damit du wieder bei deinen Eltern sein kannst, oder?“ Er hielt inne und funkelte mich an.

„Tut mir leid, aber der Tod ist nicht die Lösung, die du suchst. Denn mit deinem selbstsüchtigen Verhalten würdest du genau das zurücklassen, was du zu suchen glaubst!“ Stinksauer beugte er sich zur Seite und griff nach der Akte, die dort lag, und warf sie mir vor die Füße. „Du glaubst, du hättest deine Eltern getötet?“

Er lachte bitter auf. „Glaub mir, ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man das

glaubt. Aber du hast kein recht dazu. Verdammt, du hast nicht das verdammte recht, das zu glauben!“, schrie er. „Was soll´s. Mach, was du willst, aber belästige nie wieder meine Familie mit deinen Problemen. Wir haben unsere eigenen.“

Zitternd beugte ich mich hinunter, griff nach der Akte und erstarrte. „Woher …?“ Mir stockte der Atem, als die Bilder, die ich vor langer Zeit verdrängt hatte, aus der Akte zu Boden fielen. „Nein“, hauchte ich und ließ die Akte wieder fallen. „Nein!“, schrie ich und rannte zu dem einzigen Ort, wo ich jetzt sein wollte – das Bad. Ich schloss mich ein, beugte mich über die Toilettenschüssel

und würgte. Lautstark hämmerte es gegen die Tür. „Verschwindet!“, schrie ich. Den lautstarken Streit und das darauffolgende Türknallen ignorierte ich. Ich schluchzte und meine Sicht färbte sich rot, als Bilder von längst vergangenen Tagen vor meinem geistigen Auge vorbeizogen.

Dieser Tag war irgendwie anders, das wusste das kleine Mädchen. Schlendernd machte sie sich schließlich auf den Heimweg und zog ihn so lang wie möglich hin. Die Klassenlehrerin wollte mit ihren Eltern sprechen, da sie wiederholt nicht aufmerksam dem Unterricht gefolgt war. Doch es war nicht nur der Ärger, den sie zu erwarten

hatte, nein, denn die Bestrafung würde darin bestehen, dass ihre Mutter ihren Unterricht besonders hart gestalten würde. Sie verzog angewidert das Gesicht und bog in die Straße ein, in der sie wohnte. Nur zu deutlich nahm das Mädchen die Stille ihrer Umgebung wahr. Nicht einmal die Nachbarn von gegenüber stritten sich wie üblich.

Ihr liefen Schauer über den Rücken, während sie zurück an den Morgen dachte. Vater hatte sie in den Arm genommen und gesagt, dass sie heute das erste Mal allein in die Schule gehen würde, während ihre Mutter nervös mit ihren Büchern hantierte. Sie hatte nachgefragt, was los sei, doch bevor er

antworten konnte, hatte Mutter ihn weggezogen. „Du wirst jetzt gehen!“ Das Kind hatte es, so naiv es war, hingenommen und war aufgebrochen. Versöhnlich gestimmt, um den Ärger zu dämpfen, war sie gleich in den Garten gegangen, um ihren Vater beim Kaffeetrinken zu beobachten. Doch niemand war im Garten. Nicht einmal ihre Mutter, die sonst immer mit ihren Pflanzen sprach. Sie drehte sich zum Haus, das ihr plötzlich so groß vorkam. Sie schluckte den Kloß, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, hinunter und machte einen Schritt vor den anderen, als wüsste sie bereits, was sie drinnen erwarten würde. Das Erste, was sie vernahm, war

die bedrückende Stille, die über dem Haus lag. Schleichend ging sie durch den Wohnraum um die Ecke …

Sie schrie und sackte in die Knie. „Vater … Mutter.“

Verzweifelt nahm das Mädchen die blutüberströmten Hände ihrer Eltern in ihre und schluchzte.

Ich musste mich übergeben. Schluchzend sah ich auf meine zitternden Hände, an denen das Blut meiner Eltern haftete. Immer noch spürte ich die angewiderten Blicke meiner Familie auf mir, als wäre ich es, die Schuld an diesem Unglück hatte. Halt, das hatte ich ja auch.Ich legte meinen Kopf zwischen die Knie

und wünschte mir, dass alles wieder gut werden würde. Doch das wurde es nicht. Denn das viele Blut, in dem meine Eltern zu schwimmen schienen, würde für immer in meinem Kopf bleiben.

„Layla“, klopfte Evie leise an die Tür. Ich reagierte jedoch nicht.

„Ich weiß, dass du das nicht hören willst. Und ich bin wahrscheinlich die falsche Person, die dir das erklären kann, aber …“ Evie fluchte leise und ließ sich gegen die geschlossene Tür nieder.

„Ich will gar nicht wissen, was damals passiert ist …“ Sie versuchte sie es abermals.

„Es sei denn, du willst darüber reden.“ Sie wartete kurz ab, doch ich antwortete

ihr nicht. „Ich hab mir die Bilder angesehen und … Nun, ich weiß, dass du Erics Worten Glauben schenkst, was ich dir nicht verüble, aber …“ Sie stockte erneut. Anscheinend war ihr das Gespräch genauso unangenehm wie mir, aber sie würde nicht eher aufgeben, bevor ich mich wieder beruhigt hatte. Zitternd erhob ich mich also, schlich zur Tür und lehnte mich an sie.

„Mum und Dad … Ich meine Keith und Willow … ähm Mr und Mrs Oliver“, stammelte ich und wurde rot.

„Diese Menschen sind ein wichtiger Bestandteil deines Lebens, das muss dir nicht peinlich sein. Sie haben dich großgezogen und dich zu dem Menschen

gemacht, der du jetzt bist.“

„Ich hab sie gefunden“, flüsterte ich. „All das Blut … Ich … Ich weiß auch nicht, aber …“ Übelkeit stieg mir wieder auf.

„Ich kam nach Hause und der ganze Fliesenboden war voller Blut“, zitterte meine Stimme.

„Layla?“, hörte ich Evies gebrochene Stimme. „Würdest du … würdest du mich reinlassen?“, wimmerte sie leise. Ich riss erschrocken die Augen auf und drückte mich gegen die geschlossene Tür. Ich war noch nicht bereit, jemandem gegenüberzutreten. Schon gar nicht jemandem, vor dem ich praktisch meine Hosen heruntergelassen hatte.

„Wir haben unsere Mutter verloren“, flüsterte sie leise. „Wir haben sie beim … wir haben sie verloren und sind nach all den Jahren immer noch nicht darüber hinweg“, schluchzte sie leise.

„Mein Dad hat sich von uns abgewandt, da wir unserer Mutter so ähnlichsehen. Und Adam …“ Evies Schluchzer wurden deutlicher.

„Er … er hat am meisten verloren. Er musste mit ansehen, wie unsere Mutter den letzten Atemzug tat, und konnte es nicht verhindern.“

Ich erstarrte.

Der Tod wird dir deine Familie nicht zurückbringen,jagte Adams Stimme durch meinen Kopf.Du glaubst, du hast

deine Eltern getötet? … Ich weiß, wie es sich anfühlt. Aber du hast kein Recht dazu! Kein Recht! Kein Recht!

Schreiend hielt ich mir die Ohren zu, doch die letzten Worte von Adams Stimme verstummten nicht. Evie klopfte panisch gegen die Tür und schrie, doch ich konnte nicht abschalten, denn immer wieder tauchten die Bilder meiner Eltern vor meinem geistigen Auge auf, wie sie sich traurig von mir abwandten und ich zur Schule ging. Schließlich gelang es mir, den Schlüssel im Schloss zu drehen, bevor ich auf dem glatten Boden zusammenbrach.

„Es tut mir alles so leid!“, schluchzte ich. „Es tut mir leid“, hauchte ich und

spürte, wie Evie sich neben mich hockte und meinen Arm berührte.

„Ich hätte es besser wissen müssen … Ich …“, schluchzte ich an Evies Schulter.

„Ich glaube, meine Mutter würde dich mögen.“ Verwundert hob ich mein Gesicht und sah in das tränenüberströmte, aber gleichzeitig erlöste Gesicht.

„Du weißt gar nicht, wie viel du für mich und Adam getan hast, oder?“ Sie wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht.

„Du hast meinen Bruder aus der Hölle der Einsamkeit geholt. Du hast ihm eine Aufgabe gegeben, für die es sich lohnt zu leben.“ Ich verstand immer noch kein

einziges Wort, doch Evie sah mich lächelnd an.

„Du weißt es wirklich nicht“, flüsterte sie leise.

„Seit wir dir begegnet sind, hat sich unser Leben verändert, Layla. Und nicht nur unseres, sondern auch das von Tabea und Stella, und natürlich Jace.“ Sie hielt kurz inne. „Ich weiß nicht, wie du das angestellt hast, aber du hast uns alle ein Stück neues Leben gegeben und dafür werden wir immer in deiner Schuld stehen.“

Klar, dachte ich bitter. Ich war aufgetaucht und hatte keine Zeit verloren, gleich alle in mein Elend hinunterzuziehen und in Gefahr zu bringen.

Tabea wäre beinahe den Flammen erlegen, die mir gegolten hatten. Jace hatte ich unbewusst hinter Gitter gebracht und Adam …

Tja, wie oft hatte er mir das Leben gerettet und war dadurch in eine missliche Lage gegenüber seiner Familie geraten. Ich schüttelte den Kopf.

Ich war auf dem besten Weg, wieder etwas zu verlieren, was mir am Herzen lag. Ich erstarrte. Hatte ich das gerade wirklich gedacht? Ich kannte diese Leute erst seit ein paar Tagen. Wie konnte man in der kurzen Zeit jemanden ins Herz schließen? Ich wusste es nicht, aber ich musste etwas dagegen tun. Sie sollten

nicht das gleiche Schicksal erleiden wie meine Eltern. Das konnte ich nicht noch einmal ertragen, ohne dass es mich innerlich zerriss. Mein Zittern ließ langsam nach und ich sah Evie in die Augen.

„Oh, nein. Glaub ja nicht, dass du uns schützen kannst, wenn du jetzt verschwindest“, schluchzte sie und schlang ihre Arme um ihren Körper.

„Eric ist zwar hinter dir her, aber … aber wir sind jetzt ein Teil von dir, also wird er uns wohl kaum verschont lassen.“ Da war ich ganz ihrer Meinung. Ich würde verschwinden und damit Eric von seiner Familie fernhalten. Evie schüttelte den Kopf.

„Glaubst du, du lebst lang genug, um ihn bei Laune zu halten? Er hat bereits bewiesen, dass er mit seiner Familie gebrochen hat. Er wird also nicht davon zurückschrecken, uns einem nach dem anderen das Leben zu nehmen.“ Evie hatte recht. Aber sie zu verlassen war das Einzige, was ich tun konnte, oder nicht?

Seufzend legte ich meine Hand auf mein Haar, bis mir einfiel, dass ich sie zusammengebunden hatte. Evie lächelte bei der Geste, als wüsste sie bereits, dass sie gewonnen hatte. Sie erhob sich, streckte ihren Körper und ließ ihre Knochen knacken. „Und mach dir keine Sorgen um Adam. Er kann manchmal echt

theatralisch sein, wenn es um jemanden geht, dem er sich verpflichtet fühlt.“ Ich starrte sie fassungslos an.

Warum sollte Adam sich mir verpflichtet fühlen? Er hatte doch klipp und klar gesagt, dass ich ihm nicht weiter auf die Nerven gehen solle. Bevor ich jedoch nachfragen konnte, war Evie bereits an der Tür. „An deiner Stelle würde ich mich nochmal dem kalten Nass dahinten in der Ecke widmen, bevor du dich schlafen legst.“ Sie deutete auf die Dusche und ließ mich lächelnd allein im Bad zurück.

Evies Worte hatten mich berührt, somit blieb ich für dienächsten Tage ihr

Gast.Zwischenzeitlich schauten Tabea, Stella und Esther vorbei und sogar Jace hatte sich nach meinem Befinden erkundigt. Der Einzige, der weiterhin einen großen Bogen um mich machte, war Adam. Erst war ich sauer auf ihn gewesen, immerhin hatte er das bekommen, was er wollte, doch dann wurde alles noch bizarrer. Während ich mich nach einem Job erkundigte und Wohnungsanzeigen durchblätterte, hatte Adam, still und heimlich, ein paar Sachen aus seinem Zimmer geräumt und das Feld geräumt. Am gleichen Abend hatte ich Evie zum plötzlichen Verschwinden von Adam befragen wollen, doch als mich ihr trauriger Blick

traf, entschied ich mich anders. Höflich hatte ich mich für das Abendessen bedankt und war in mein vorübergehendes Zimmer, das nun, wo Adams Habseligkeiten fehlten, leer wirkte. Fluchend ließ ich mich aufs Bett nieder und fasste einen Entschluss. Ich hatte Evies Gastfreundlichkeit bereits mehr als überstrapaziert und würde das Zimmer nun räumen – ohne Wenn und Aber.

Kapitel 19

Die Nacht war recht kurz gewesen, als ich unsanft von hellen Sonnenstrahlen geweckt wurde. „Aufstehen, Schlafmütze.“ Murrend zog ich die Decke über den Kopf, doch kurz darauf

spürte ich einen kalten Luftzug und die Decke flog zum Boden. Ich blinzelte kurz und funkelte Evie an. „Glaubst du nicht, du hast für heute lang genug geschlafen?“ Ich sah auf den Wecker, der 12:17 anzeigte. So lange habe ich noch nie geschlafen, war mein erster Gedanke.

Doch das war wirklich kein Grund für einen solchen Überfall?,war der zweite. „Wie ich sehe, sind wir heute ein wenig gereizt“, grinste sie. „Hat die kleine Prinzessin etwa ein Geheimnis, das sie vor mir verheimlicht?“ Ich knurrte sie an, was mir richtig Angst einjagte.

„Warum dauert das denn so lange?“, erschien nun auch Tabea in der Tür und fing meinen wütenden Blick auf.

„OKAY“, hob sie abwehrend die Hände.

„Wir sollten dir vielleicht ein paar Minuten zum Wachwerden geben. Wir warten draußen auf dich.“ Tabea packte ihre Freundin, die erstarrt war, und zog sie mit aus dem Zimmer. Sobald die Tür ins Schloss fiel, verflog meine Wut, die nun kein Ziel mehr hatte. Ich ging die Möglichkeiten durch, die mir jetzt blieben, und stand schließlich brummend auf. An Schlaf war nicht mehr zu denken, außerdem hatte ich schon viel zu viel Zeit verstreichen lassen, die mir jetzt fehlen würde, eine neue Unterkunft zu finden. Schließlich schlüpfte ich in meine dunkle Jeans und mein braunes T-Shirt und dankte im Stillen, dass

Esther mir meine Sachen hergebracht hatte. Achtlos steckte ich meine matten dunklen Haare hoch, bevor ich ebenfalls das Zimmer verließ. Ein gereiztes Knurren entfloh meiner Kehle und zog die Aufmerksamkeit von Tabea und Evie auf mich.

„Dann können wir ja jetzt gehen“, entschied Tabea, stellte ihre Tasse auf den Tisch und ging geradewegs auf die Tür zu.

Ich rührte mich nicht und lächelte Evie herausfordernd an. Irgendetwas lag heute in der Luft, das mich entzückte. Ohne meinen Blick von Evie zu lösen, verlagerte ich mein Gewicht auf das

andere Bein und nahm freudig ihr leichtes Zittern zur Kenntnis. Mein Lächeln wurde breiter. „Braucht ihr eine extra Einladung oder kommt ihr jetzt?“, brach Tabea den Zauber zwischen mir und Evie. Gleichgültig ging ich auf die Tür zu.

„Wenn ich ehrlich bin, habe ich heute schon was vor“, baute ich mich vor ihr auf. Desinteressiert stellte Tabea sich mir in den Weg und lächelte mich an.

„Dein Problem. Du kommst erst mal mit uns mit, vielleicht kümmern wir uns danach um deine Anliegen.“ Ohne mit der Wimper zu zucken, drehte Tabea sich um und verließ die Wohnung. Ich gab mich geschlagen und folgte ihr, ohne

darauf acht zu geben, ob Evie uns folgte oder nicht. Schlagartig blieb ich regungslos stehen. Was war nur mit mir los?

Ich war nicht der Mensch, der seine schlechte Laune an anderen ausließ. Mein Blick fiel auf Tabea, die bereits in den Wagen einstieg, während ich mich umdrehte und nach Evie Ausschau hielt. Sie zog gerade die Haustür hinter sich zu und ging, ohne mich eines Blickes zu würdigen, an mir vorbei. Seufzend folgten meine Augen ihren eiligen Schritten, bis sie ebenfalls im Auto verschwand.Das laute Hupen des Autos, das darauf folgte, riss mich aus meiner Erstarrung. Langsam schlenderte ich auf

das Auto zu und nahm schließlich auf dem Beifahrersitz Platz.

„Erster Halt: Joey“, meldete Tabea sich wie aufs Stichwort und stellte das Radio an, während sie aufs Gas drückte. Auch Taylor Swifts ‘Cause I knew you were trouble‘konnte nicht die schaurige Ruhe im Auto brechen. Als der Wagen schließlich hielt, konnte ich spüren, wie Tabea erleichtert ausatmete. Nun blickte ich aus der Frontscheibe und mir wurde leicht übel, als ich entdeckte, wohin die beiden mich entführt hatten. Wie zu erwarten, war Evie die Erste, die die Autotür öffnete, um in die Freiheit zu flüchten. Kurz darauf folgte Tabea ihrem

Beispiel, und auch ich fügte mich meinem Schicksal und trat in den sonnigen Tag hinaus.

Freundlich begrüßte ich Joey und nahm direkt auf einem Stuhl Platz. Höflich folgte ich seinen Anweisungen, ihn zum Waschbecken zu begleiten, während mich immer noch ein schlechtes Gewissen wegen Evie plagte.

Selbst die stundenlangen Aufenthalte in Boutiquen und Geschäften ließ ich über mich ergehen, auch wenn es mir nicht passte, wie ein Püppchen an- und ausgezogen zu werden. Irgendwann lösten sich die ganzen Anspannungen, die in der Luft gelegen hatten, und wir hatten tatsächlich ein wenig Spaß. Dann

entschuldigte sich Evie und ging von dannen, bevor wir uns erschöpft imCafé Nova niederließen.

„Du hast dich also dazu entschlossen, deinen Mordstrip zu beenden“, nörgelte ich. Tabea musste lachen und deutete auf die Tüten, die neben mir standen.

„Ich hab dir doch gesagt, dass all das notwendig ist.“

„Schon klar, aber wir hätten bereits alles im ersten Laden besorgen können. Wir hätten nicht gleich die ganze Stadt aufkaufen müssen“, verschränkte ich die Arme, während sie mich aufmerksam musterte.

Mein schwarzes Haar fiel mir glänzend über meine Schultern und über das neue

enge, hellgrüne Top, zu dem mich Tabea hatte überreden können.

„Jetzt brauchst du nicht mehr bei mir schnorren kommen“, hatte sie zwinkernd zu mir gesagt, als ich es mir übergezogen hatte. Die helle Jeans und die neuen Turnschuhe rundeten mein neues Outfit ab. Als ich spürte, wie ihr Blick an meinem Ausschnitt hängen blieb, legte ich meine Hand beschützend über den tropfenförmigen Stein, der unter meinem Top verborgen war. Erst da sah ich, wie Tabea mir es gleich tat und ihre Finger über ihren Hals strichen.

„Ich will nicht aufdringlich wirken, aber ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, was du da um den Hals trägst.“

Ich umfasste die Halskette, als wäre sie das einzig Wichtige in meinem Leben, bevor ich den Anhänger hervorholte.

„Es ist ein Geschenk meiner … ein Geschenk“, murmelte ich und ließ den Anhänger wieder unter dem Top verschwinden.

Diese ganze Familiengeschichte verwirrte sie immer noch, dachte Tabea und lächelte mich aufmunternd zu. „Es ist wunderschön und ich kann mir vorstellen, wie wichtig es für dich und deine Eltern war. Es ist ein Andenken an sie.“ Überrascht nickte ich und fragte mich, ob sie es wirklich verstand.

„Hier seid ihr zwei also?“, lächelte Evie und setzte sich zu uns. „Ich hab euch

schon überall gesucht“, maulte sie und biss in ihren Muffin.

Während sich Evie und Tabea unterhielten, verlor ich mich immer mehr in meine Gedanken.Was passierte hier eigentlich gerade? Ich betrachtete die beiden Mädchen vor mir und musste grinsen.

Stundenlang war ich den beiden auf dem Fuße gefolgt und hatte mich einkleiden lassen. Wir hatten viel gelacht und selbst beim Friseur hatte ich mich nicht zur Wehr gesetzt. Unerwartet setzte sich das Bild der verängstigten Evie vor mein geistiges Auge. Als Evie meinen Blick spürte, lächelte sie mich an, bevor sie

sich wieder dem Gespräch mit Tabea widmete. Sie hat mir bereits verziehen, aber warum nur?Ich hatte mich unmöglich verhalten. Ich hatte mich selbst nicht mehr wiedererkannt.

Ob ich deswegen alles über mich ergehen lassen hatte? Ich schüttelte den Kopf. Vielleicht am Anfang, aber später fand ich tatsächlich Spaß am Shoppen. Bei dem Gedanken verzog ich das Gesicht und sah hinüber zu Tabea und schließlich zu Evie Ich musste lächeln. Die zwei hatten es tatsächlich geschafft, mich aus meiner Höhle herauszubekommen. Ich hatte das erste Mal in meinem Leben Freundinnen, die ich wohl auch nicht mehr loswerden

würde. Erschrocken nahm ich den Gedanken in mir auf, sodass ich nicht bemerkte, wie Tabea sich erhob.

„Ich mach mich dann mal auf den Weg. Wir sehen uns“, hob sie die Hand zum Abschied. Erst als sie das Café verlassen hatte, wendete ich mich wieder zu Evie. Ich lächelte sie an, doch Evie hatte wohl ihr dämliches Verhalten noch nicht vergessen und knibbelte nervös an ihren Fingernägeln. „Sag mal, was hattest du denn so Wichtiges noch zu erledigen, dass du so schnell gegangen bist?“ Evie hob ihren Blick und sah mich verwundert an. „Tabea wollte mir es nicht so recht sagen und mit der Sprache rausrücken.“

„Lass dich einfach überraschen“, sie

lächelte über dem letzten Schluck ihrer Latte.

Überraschen?Ich wollte schon nachhaken, doch Evie gab mir nicht die Möglichkeit dazu, denn sie rief den Kellner und bat um die Rechnung.

„Was hältst du davon, wenn wir deine Sachen ins Auto bringen und wir es uns zu Hause gemütlich machen?“ Ich zuckte mit den Schultern, was Evie wohl als Antwort reichte.

Während der Fahrt wirkte Evie etwas nervös, sodass ich gleich wieder ein schlechtes Gewissen bekam, doch bevor ich mich aufrichtig entschuldigen konnte, hielt sie bereits an und stieg aus.

Verwundert sah ich zum Fenster hinauf und bemerkte das brennende Licht im Wohnzimmer. Dann schüttelte ich den Kopf.

Nichts war verwunderlich daran, denn immerhin wohnte Evie nicht allein in der Wohnung, nicht wahr? Ein Kloß blieb in meinem Hals, als ich an die zweite Person denken musste. Adam. Ich seufzte und fuhr durch mein dichtes Haar. Seit diesem blöden Streit damals hatte ich ihn nicht mehr gesehen.

Ob er immer noch sauerwar? Wütend stemmte ich die Arme in die Hüfte. Er hatte keinen Grund, wütend zu sein. Immerhin war ich alt genug, um zu wissen, wie ich mich fühlte und ob ich in

der Lage war zu gehen.

Hatte er sich etwa um mich gesorgt? Ich zuckte mit den Schultern und erstarrte plötzlich. Er hatte schließlich genau das bekommen, was er gewollt hatte. Ich war geblieben.

„Es wird allmählich kühl, wir sollten reingehen“, riss Evie mich aus meinen Gedanken, die mit den Einkäufen hinter mir stand. Schließlich nickte ich, nahm Evie den Hausschlüssel ab, öffnete die Tür und lief prompt in Adam rein.

„Kannst du nicht aufpassen“, war das Erste, was ich ihm an den Kopf schleuderte.

Ich beugte mich zu Evie hinunter und half ihr die Einkäufe wieder in die

Taschen zu räumen. Prompt meldete sich mein schlechtes Gewissen. Ich richtete mich auf und sah direkt in Adams Gesicht und …

Wut brodelte in mir, doch bevor ich ihn angiften konnte, ging er an uns vorbei.

„Ich muss noch etwas erledigen, wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet.“

Evie nickte und sah ihrem Bruder traurig hinterher.

„Mist“, fluchte ich. „Heute ist wirklich nicht mein Tag“, murmelte ich und stieg die Treppen hoch. Ein komisches Gefühl überkam mich, als ich den Schlüssel ins Schloss steckte.

Kapitel 20

Hast du etwa ein Geheimnis vor mir?,

spukten Evies Worte in meinem Kopf. Sie waren den ganzen Tag über nett zu mir gewesen, ob wohl ich ziemlich gereizt war.

Welchen Tag hatten wir gleich noch mal?, fragte ich mich und drehte den Schlüssel nach rechts.

Unerwartet wurde mir ganz flau im Magen. Adam war nicht von oben gekommen, stellte ich fest. Meine Hand begann zu zittern. Konnten sie es etwa herausgefunden haben? War das Licht im Zimmer etwa …

„Hier hinten zieht es, wenn du also so freundlich wärst, mich reinzulassen“, beschwerte sich Evie, blieb jedoch freundlich dabei.

„Evie?“

„Hmm?“

„Sag mal, welches Datum haben wir heute?“ Evie sah zwischen den Tüten hervor.

„Können wir das nicht drinnen besprechen, diese Taschen werden schließlich nicht leichter.“

Mein schlechtes Gewissen siegte schließlich über die pure Angst, also öffnete ich die Tür und … Ich bekam einen Herzinfarkt, als ein Chor von StimmenHappy Birthday anstimmte.

„Wir haben den fünfundzwanzigsten April“, flüsterte Evie mir ins Ohr, als sie sich an mir vorbeidrängelte.Mein Blick flog durch den Raum und blieb an den

festlich gekleideten Personen hängen. Tabea trug das Kleid, das sie vor wenigen Stunden noch anprobiert hatte, während Stella in enger Jeans und T-Shirt auf mich zukam und mir einen Teller mit einem Stück Torte reichte.

„Alles Gute zum Geburtstag“, brummte sie. Ein lautes Ploppen riss mich schließlich aus der Erstarrung. Sekt sprudelte aus der Flasche und füllte die Gläser auf dem Tisch. Tabea zog mich schließlich in den Raum und umarmte mich herzlich.

„Alles Gute zum Geburtstag.“ Sie nahm mir wieder das Stück Torte aus der Hand und überreichte mir ein Geschenk. „Ich soll dir von Esther die besten

Glückwünsche ausrichten“, grinste sie und übergab mir ein eingepacktes Päckchen.

„Das Geschenk ist übrigens von uns allen.“ Ich nickte nur, da ich immer noch nicht in der Lage war, ein Wort über die Lippen zu bringen.

Ich musste erst einmal alles verdauen.

Prompt ließ ich mich auf das beigefarbene Sofa fallen. Mein Blick schweifte durch den Raum und blieb an den gelben Vorhängen stecken, wanderte dann hinüber zu den vielen blütenreichen Pflanzen. Zuletzt entdeckte ich auf dem gegenüberliegenden Sofa massenweise Kissen, die zum Kuscheln einluden.

War das etwa eine Tischdecke auf dem

Tisch und blaue Platzdeckchen an der Küchentheke? Wohin war nur die Schlichtheit in Weiß und Schwarz? Ich kniff die Augen zusammen, um die ersten Eindrücke zu verarbeiten, als Evie mir ein weiteres Päckchen und einen Umschlag in die Hand drückte.

Ich vermied den Blick zu heben, denn sie hätte nur Tränen in meinen Augen gefunden. War ich etwa gerührt?

„Woher …?“, flüsterte ich.

„Glaubst du etwa, so etwas Wichtiges wie deinen Geburtstag kannst du vor deiner Familie verheimlichen?“ Ich zuckte unbemerkt zusammen bei Tabeas vorletztem Wort. Familie. Zitternd

begann ich leise zur schluchzen. Ich hatte die letzten Tage, nun eigentlich die letzten Jahre diesen grausamen Tag gekonnt ignoriert. Geschenke? Die hatte ich seit Jahren schon nicht mehr bekommen.

Ob ich meiner Pflegefamilie das übel nahm? Nein, denn ich war es schließlich, die jeden Geburtstag mit irgendeiner Tragödie gesprengt hatte. Schulverweis. Gefährdete Versetzung. Noch mehr blaue Briefe. Abwesenheit am Geburtstagstisch.

Kein Wunder, dass sie sich schließlich dazu entschieden hatten, den Tag aus ihrem Kalender zu streichen. Welche Tragödie es wohl dieses Jahr war?,

schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Nun, ich schätze, in den letzten Tagen hatte sich wohl genügend ereignet für die nächsten fünfzig Jahre. Ich wischte mir schließlich die Tränen aus dem Gesicht und musste es ihnen hoch anrechnen, dass sie mein Geheule ignorierten.

„Öffne erst das Kärtchen“, meinte Evie, als ich das Päckchen in die Hand nahm.

Ich nickte und stutzte, als ich die Daten las. 29. April, 12 Uhr.Fragend sah ich Evie an. „Dreh das Kärtchen.“ Ich tat, wie mir gesagt wurde, und starrte auf das Emblem desNova.

„Die Besitzerin ist eine alte Freundin von mir und möchte dich gern kennenlernen.“

Evie wurde leicht rot und prompt fragte ich mich, mit wem Evie in der Stadt nicht befreundet war. Da waren Joey, der Friseur, und Ken und seine glückliche Verlobte Dana mit ihrer süßen Boutique. Ich nickte und lächelte ihr zu. Dann nahm ich mir das Päckchen vor und packte ein kleines braunes Holzschmuckkästchen aus. Ich schluckte und sah Evie fragend an.

Ich war nicht der Typ, der Schmuck trug. Was sollte ich also tun, wenn Evie …? „Für dieses Geschenk gibt es gewisse Vorrausetzungen“, unterbrach Evie meinen Gedankengang. „Jetzt nimm uns doch nicht den ganzen Spaß“, nörgelte Tabea. Evies Gesichtszüge

lockerten sich ein wenig, bevor sie mich vom Sofa zog. „Gut, das werden wir später klären, aber wir sollten es nicht hier öffnen. Tabea, würdest du mir dein Tuch leihen?“ Ein ungutes Gefühl überkam mich, als Tabea das rote Tuch von ihrem Hals löste und Evie reichte. Ich konnte Überraschungen nicht ausstehen. Evie verband mir die Augen und positionierte mich im Raum neu. Schließlich nahm sie mir das Kästchen ab und führte mich langsam durch die Wohnung und öffnete eine Tür. „Tabea, öffne doch das Kästchen und stell dich so hin, dass sie ihr Geschenk betrachten kann.“Langsam löste Evie die Augenbinde und …

Habe ich schon erwähnt, dass ich Überraschungen nicht ausstehen kann? Und was jetzt meine Augen erfasste, war genau diese Art von Überraschung, die mir immer auf den Magen schlug. Dunkle massive Möbel und dass große Bett, in dem ich die letzten Tage übernachtet hatte. Nur die hellgrauen Wände passten irgendwie nichts ins Bild. Wo waren nur die deckenhohen Bücherregale und der große Schreibtisch hin?

Ich drehte mich rechts herum, um Evie zu fragen, und blieb an Tabea und dem geheimnisvollen Kästchen hängen. Dort im schwarzen Samt lag ein silberner Schlüssel. Ich musste schlucken und nahm nun jede kleine Einzelheit in dem

Zimmer wahr. Die offene Schranktür - Waren das etwa meine Kleidungsstücke und meine alten Turnschuhe? Dann zum Nachtschränkchen. Ach du Scheiße, fluchte ich und entdeckte das Bild meiner Eltern. Ein leises Knarren ließ mich zusammenfahren. Sie haben mich allein gelassen, stellte ich erleichtert fest und ließ mich auf das Bett fallen. Erst das Stechen in meiner Handfläche erinnerte mich daran, wo ich war und was ich immer noch in der Hand hielt. Langsam lösten sich meine Finger von dem zerknüllten Papier und strichen es wieder glatt. Ich öffnete das Kuvert und las: Sieh mal zur Kommode. Ich tat, wie mir befohlen wurde, und riss überrascht

die Augen auf. Irgendwie trugen mich schließlich meine wackeligen Beine zur Kommode hin.Ehrfürchtig strich ich über das dunkle Holz, bis ich an einem der Bilderrahmen vorbeistrich. Ich hob den Blick und wurde von vier stahlenden, braunen Augen angelächelt. Zärtlich, als würde jeden Augenblick das Glas zerspringen, strich ich über die jüngere Ausgabe von Tabea und Stella. Wie alt sie wohl dort waren?

Langsam ließ ich meinen Blick wandern und blickte zu dem nächsten Bild. Es zeigte Esther glücklich an der Seite ihres Mannes. Das musste Er sein. Mein Blick verschleierte sich, zwanghaft versuchte ich, mich zu konzentrieren, bis ich

bemerkte, dass es Tränen waren, die ich nicht aufhalten konnte. Ich schluchzte und wäre zusammengebrochen, wenn ich meinen Blick nicht von dem glücklichen Paar hätte lösen können.Das nächste Bild brach jedoch sämtliche Mauern. Es schien etwas älter zu sein und wirkte bereits etwas abgenutzt, doch es war … Ich musste schlucken. Kluge, grüne Augen starrten mich unverwandt an, während eine winzige Hand ihren kleinen Finger dem Fotographen entgegenstreckte und lächelte, als würde es sagen wollen: Euch trifft keine Schuld.

Das war zu viel, sodass meine Knie nachgaben und ich zu Boden sank.

Unaufhaltsam brachen die Tränen aus mir heraus, bis es nur noch ein leises Schluchzen war.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war seit meinen Zusammenbruch, doch schließlich hatte ich mich so weit beruhigt, dass ich mich wieder aufrichten konnte. Stolz hob ich den Kopf auf die immer noch geschlossene Tür, öffnete sie und …

Keiner schien mich zu bemerken, denn es wurde weiterhin gelacht und Gläser hin und her gereicht und Kuchen verspeist. Ich beobachtete meine Gäste, doch dieser Glücksseligkeit im Raum hielt ich keinen Augenblick mehr stand, also raste ich schließlich aus der

Wohnung. Ich hätte erwartet, dass irgendjemand mein unpassendes Benehmen mit Sorge zur Kenntnis nahm und mir folgte, doch nach einigen Sekunden der Stille dankte ich Gott für die zurückhaltende Art der Frauen. Ich atmete tief durch und sah empor in den wolkenverhangenen Abendhimmel.

„Alles in Ordnung bei dir?“, drang eine vertraute Stimme zu mir hindurch und ließ mich zusammenzucken. Wie lange ich wohl schon in die Luft gestarrt hatte? „Ich hab die Tür aufgehen sehen und dachte mir, ich sehe mal nach“, kam Adam immer näher.

„Wusstest du es?“ Meine Frage war lächerlich. Immerhin hatte ich mir sein Zimmer unter den Nagel gerissen. Ich musste lachen, obwohl mir nicht zum Lachen zumute war.

„Wie habt ihr euch das vorgestellt? Hey, wir besorgen ihr einen Job und schon wird sie gezwungen sein, unser Angebot anzunehmen“, sagte ich sarkastisch. „Euer Plan hat leider eine Schwachstelle.“

„Wir wollen uns dir nicht aufzwängen, Layla. Und wir wollen ganz sicher auch keinen Platz in deinem Leben einnehmen, der bereits von jemandem besetzt ist“, antwortete er ruhig. Ich ignorierte die stillen Tränen, die sich ihren Weg bahnten.

„Du kannst ganz allein über dein Leben entscheiden. Wir wollen nur Teil eines neuen Lebensabschnittes sein.“ Ich schüttelte den Kopf. Genau hier lag doch das Problem, nicht wahr? Sie wollten mir helfen, doch das Einzige, was ich bieten konnte, waren Probleme. „Ich kann nicht …“ Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. „Wie könnt ihr nur so über mich denken. Schon seit der ersten Sekunde, in der ich in euer Leben getreten bin, hab ich nichts als Ärger und Schmerz gebracht.“ Ich drehte mich zu Adam und sah ihm direkt in die Augen. „Ich hab euch alle in Gefahr gebracht. Also warum glaubt ihr, dass sich das so

schnell ändern wird?“, schluchzte ich.

„Das wird es sicherlich nicht.“ Die Wahrheit in seinem Blick versetzte mir einen Schlag in die Magengrube.

„Aber das Leben spielt nun mal nicht immer so, wie man es sich vorgestellt hat. Es ist nicht fair und macht einen kaum glücklich. Aber hey, wir können immer noch das Beste daraus machen. Hab ich recht?“ Adams Worte hingen eine Weile in der Luft, sodass ich mich fragte, ob er wohl recht hatte. Ich schüttelte den Kopf. „Lässt du mich jetzt bitte allein?“, flüsterte ich.

Das Leben ist nicht fair, schwirrten ihm seine eigenen Worte im Kopf herum.

Adam wollte sich schon für seine Worte entschuldigen, als er sah, dass Layla die Stirn kräuselte. Lächelnd nahm er ihre Geste zur Kenntnis und dachte über seine eigenen Worte nach.

„Lässt du mich jetzt bitte allein?“ Ihre Worte waren wie ein kalter Eimer Wasser, der ihn aus seinem Gedankengang riss.

„Layla …“, versuchte er es, doch sie schüttelte den Kopf.

„Bitte geh!“, sagte sie mit Nachdruck. Er wollte sie hier nicht stehen lassen, doch sie wendete sich von ihm ab und sah in den Himmel. Seufzend nahm er ihre Abweisung hin und machte auf dem Absatz kehrt. Er würde ihr die Zeit

geben, die sie jetzt für sich allein brauchte. Sie war nicht der Mensch, der sich zu etwas zwingen ließ. Auch wenn es keinen anderen Ausweg gab. Adam griff nach dem Türknopf, als er plötzlich einen Schmerzensschrei vernahm. Schwungvoll drehte er sich um und blickte in den schimmernden Mondschein, der nun Layla vollkommen umgab. Sie schrie so laut wie sie konnte, doch so schnell, wie der Schmerz gekommen war, so schnell löste sich ihr Körper in kleine Partikel auf, und an ihrer Stelle heulte nun eine ebenholzfarbene Wölfin den Vollmond an.

„Nein!“, schrie Adam, doch die Wölfin

sprinte bereits los und verschwand zwischen den Schatten des dunklen Waldes. Er wollte hinter ihr her, als jemand ihn plötzlich von hinten packte.

„Es ist alles in Ordnung.“

„Habt ihr es nicht gehört. Ihr Schmerz, verdammt sie hatte große Schmerzen“, er begann sich gegen den Griff seiner Schwester zur Wehr zu setzen, als sich eine weitere Hand auf seine Schulter legte. „Vom heutigen Tage an wird sie nicht mehr allein da draußen sein“, sagte Tabea beruhigend und wie aufs Stichwort heulte ein weiterer Wolf auf, als würde er den Neuankömmling begrüßen.

Fortsetzung in

       Hexenseele

In Laylas Leben geht alles schief: Erst verliert sie ihren Job und dann wirft man sie auch noch aus der Wohnung. Auf sich allein gestellt, beginnt ihre Vergangenheit sie einzu- holen. Plötzlich scheint ein Leben in Freiheit in greifbare Nähe. Doch dafür müsste sie alles in ihrem Leben zurück- lassen…

Wolfschroniken:

1. Wolfsblut

2. Hexenseele

3. Wächterschwur

4. Schattenmagie

5. Kriegerherz

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Hörbuch

Über den Autor

TVB
Was man über mich wissen sollte?Ich schreibe unheimlich gern und freu mich über jede wahrheitsgemäße Kritik und Euren Kommentaren. Das Einzige, dass mich wirklich sauer macht ist? wenn Personen nicht zu den Stehen, was sie sind und sich verstellen oder die Eifersucht, wenn jemand Anderes besser ist als man selbst.

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