Kurzgeschichte
Leben macht Angst

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"Leben macht Angst"
Veröffentlicht am 24. Februar 2022, 18 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Leben macht Angst

Leben macht Angst

Leben macht Angst

Es war ein komisches Jahr. Das hatte ich noch nie erlebt. Alle waren so genervt. Mama hatte Angst. Papa hatte Angst. Nur der Opa, der war ganz normal. Ich wusste nicht genau warum. Es war wohl eine Krankheit, oder so.


Im Dezember kurz vor Weihnachten wurde alles schlimmer. Die Supermärkte wurden geschlossen. Papa durfte nicht mehr auf den Baumarkt. Die Schule war zum zweiten Mal geschlossen. Das war bereits Anfang Frühling so gewesen. Alle haben sich aufgeregt. Vati, Mami und auch meine Geschwister. Ich fand die

Wochen ohne Schule nicht schlecht. Die Internetangebote haben auch nicht funktioniert. Ich konnte nichts machen – das war wie Ferien.


Opa hat mich immer wieder abgeholt und ist mit mir herausgegangen. Er kennt sich gut aus. Wir sind an den Fluss und zu den alten Flusswiesen gegangen. Er hat mir gezeigt, wie früher Torf gestochen wurde. Das kann man verbrennen und so heizen. Auf unseren Touren, die meine Mutter hasste, habe ich ihn gefragt, was das alles bedeutet. Er hat angefangen zu lachen, als ich ihn ausgefragt habe.


Das ist ein Problem der Erwachsenen, meinte mein Opa nur. Er hatte kurzes graues Haar und einen langen grauen Bart. Im Wald sah man das nicht so. Aber wenn er bei uns war, sah er immer sehr alt aus. Trotzdem wuselte er den ganzen Tag mit mir umher, wenn er mich abholte.


Ich fragte ihn, warum meine Eltern und die Eltern meiner Mitschüler und teilweise meine Freunde Angst haben. Vor dieser Krankheit, dem Virus – wie auch immer! Wir saßen damals auf einem großen Stein. Einem Findling, die gibt es bei uns seit der Eiszeit.


Mein Opa sah mich nachdenklich an. Er kniff die Augen zusammen. Das war immer so, wenn er angestrengt nachgedachte. Dann begann er langsam und ruhig zu sprechen. Das ist so eine Sache, sagte er. Es ist schwierig zu erklären. Erwachsene werden von Sachen, die sie selbst nicht erwarten, schnell aus der Bahn geworfen.


Ich fragte ihn, was das bedeuten soll. Er schwieg lange. Dann grinste er mich an. Weißt du, je erwachsener Menschen werden, desto besser planen sie ihr Leben. Sie versuchen eine Familie zu planen, den Hausbau, den Urlaub und die Zeit nach der Arbeit. Die Rente, die ich

bereits beziehe, weil ich mein Leben lang gearbeitet habe.


Das Problem ist, dass das Virus alle Pläne zerworfen hat. Nichts ist mehr sicher. Das Morgen ist ungewiss und letztlich kann durch die Krankheit alles vorbei sein.


Aber Opa, sie soll doch für die meisten Menschen nicht so gefährlich sein! Das ist richtig, du bist ein kluger Junge, entgegnete mein Opa.


Das Problem ist, dass die meisten Menschen Angst haben. Sie fürchten das Ungewisse. Sie fürchten die Krankheit

und die Möglichkeit des Todes. Aus dem Grund bleiben viele Zuhause. Treffen sich nicht mehr mit Freunden und feiern kaum noch. Doch das ist alles nur Angst. Sie haben so viel Angst, dass sie nicht mehr klar denken können.


Aber Opa, warum hast du keine Angst, fragte ich kurz. Ich bin schon alt, erwiderte er nur. Ich habe mein Leben gehabt. Ich habe meine Rente und plane mein Leben nicht mehr. Wenn ich Lust und Kraft habe, dann gehe ich zu deinen Eltern und nehme dich mit auf Tour. Ich habe keine Verpflichtungen mehr. Ich will nichts mehr Erleben und eigentlich nur noch ein wenig Spaß haben. Ich bin

alt, meine Tage sind gezählt. Ich möchte sie nutzen und nicht mit Angst verbringen. Ich hatte mein ganzes Leben immer wieder Angst – das ist jetzt vorbei.


Wirklich Opa, du wirkst doch immer so mutig. Vor wem hattest du denn Angst? Mein Opa dachte lange nach und fing dann nach einem großen Seufzer recht ruhig an zu reden. Du weißt doch, dass ich aus dem polnischen Gebieten stamme, die Deutschland damals besetzt hatte. Ich war 10 Jahre alt, als wir unsere Farm verloren haben und vor den Russen geflohen sind. Beim Treck ist meine Mutter gestorben. Sie hatte eine Wunde

an der Hand – sie war nicht sauber. Sie hat es nicht geschafft. Es war kein Arzt da. Aber der hätte ihr auch nicht geholfen.


Ich sah eine Träne über seine rechte Wange kullern. Dann bin ich in Berlin mit meinem Vater und meiner Schwester gelandet. Ich wurde in eine improvisierte Schule gesteckt und habe eine Lehre bekommen. Dann bekamen wir Kinder und du kennst ja deinen Vater, deine Tante und deinen Onkel. Das waren nicht gerade Musterkinder – die haben deutlich mehr Blödsinn als ihr alle zusammen angestellt. Es hätte immer etwas passieren können. Das kann immer

passieren. Ein Herzinfarkt, kann das Leben schnell durcheinanderbringen. Das hast du bei Oma doch gesehen.


Meine Oma war 10 Jahre zuvor gestorben. Sie hatte einen Herzinfarkt und kam ins Krankenhaus. Sie lag dann ein halbes Jahr im Koma. Sie soll noch gelebt haben. Sie war aber nicht mehr ansprechbar. Also quasi tot. Mein Vater hat immer gesagt, dass man an ihrem Gesicht den Gefühlszustand ablesen kann. Ich glaube er hat sich aber viel eingebildet. Nach einigen Überlegungen machte ich ein bedröppeltes Gesicht und stimmte meinem Opa leise und nickend zu.


Weißt du, begann mein Großvater, ich musste auf die harte Tour lernen, dass die Angst der größte Feind ist. Letztlich kann man seinem Schicksal nicht entrinnen, so sehr man sich auch versteckt. Selbst wenn du alles korrekt machst und so lebst, wie es die Ärzte oder sonst wer erzählt, ist es keine Garantie für ewiges Leben oder das Fernbleiben von Übeln oder Pech.


Du kennst doch die Geschichten über das alte Rom von Caesar und so weiter. Vor den alten Römern haben die Griechen weite Teile des Mittelmeeres beherrscht. Der Legende nach gab es in Griechenland

einen Mann, der Angst vor dem Tod hatte. Zu dem Zeitpunkt war der Mann schon alt. Jenseits der 50 Jahre. Sein Haar lichtete sich und er bekam eine Glatze. Er hatte damals ein Orakel über die Zukunft und seinen Tod befragt. Eine Priesterin des mächtigen Gottes Apollon hatte ihm durch den Gott sagen lassen, dass er durch ein Teil eines Hauses sterben würde.

Kurzerhand entschied sich der Mann nie mehr in einem Haus zu schlafen. Er war nur noch in der Natur unterwegs und hielt sich fern von jeglichen Häusern. Der Mann starb aber trotzdem. Eines Tages suchte ein Adler nach Nahrung. Er

hatte in Griechenland eine wilde Schildkröte erspäht und gefangen. Um sie zu knacken, wollte der Adler die Schildkröte auf einen Stein werfen. Er hielt die Glatze des Mannes für einen Stein. So wurde der alte Grieche von einem Schildkrötenhaus erschlagen.


Hätte jemand das für möglich gehalten? Wow, wirklich Großvater, erschlagen von einer Schildkröte. Der Großvater grinste leicht. Nun es ist eine Legende, aber sie hat vielleicht einen wahren Kern. Noch lustiger wäre es, wenn es die Wahrheit ist und die Menschen 2000 Jahre später sich so einen Unfall nicht mehr vorstellen können. Sie halten es dann nur

noch für eine amüsante Geschichte. Letztlich ist das wahre Leben aber meist seltsamer als jede Geschichte. Vielleicht ist es wahr, vielleicht ist es alles nur erdacht.


Das zeigt aber einmal mehr, dass wir dem Schicksal nicht entrinnen können. Wir müssen die Welt mit allen Übeln, die sie hat, ertragen, wie sie ist. Die einzige Wahl, die wir haben, ist zu entscheiden, was wir mit der Zeit machen, die wir noch haben.


Mir ist es lieber meine Zeit zu genießen. Ein Moment mit einem Lächeln wiegt im Leben mehr als Wochen oder Monate der

Furcht. Die Angst zersetzt uns, macht uns Müde und verdrängt das Leben aus uns, wenn wir kein Glück mehr fühlen.


Daher bin ich lieber fröhlich, auch wenn es keinen Grund dafür gibt. Obwohl eigentlich schon. Du bist hier, ich bin hier und die Sonne scheint – das Leben ist also schön. Falls mich das Virus holen sollte, hatte ich wenigstens noch ein paar schöne Stunden und bleibe dir nicht als trübsinniger Schatten in Erinnerung, den du von deinem Tablet kennst.


Weißt du, leben ist tödlich. Das gehört dazu. Wenn Bruder Tod anklopft, müssen

wir ihn mit aller Freundlichkeit empfangen und dann unser Leben beenden und ein Neues beginnen. Das ist sicher nicht einfach, man betritt das Ungewisse, aber ich bin nicht der erste Mensch dem das zustößt.


Entscheide selbst, wie du leben möchtest. Mit allen Genüssen, Gefahren und Freuden, aber womöglich kurz, oder eher eingeigelt in deinem Zimmer voller Angst und Sorge, dass etwas passiert. Du lebst zwar länger, aber ist es besser? Man kann auch vor Langeweile sterben, dann hat man auch nichts gekonnt. Leben macht Angst, aber sie darf nicht lähmen.


Die Tour endete nach einige Stunden und wir trafen uns noch oft zu solchen Touren, aber darüber haben wir nie mehr ein Wort verloren.

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Hörbuch

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Wandersmann

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Kommentare
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Nereus Es kommt nicht darauf an,
was wir im Alter
haben oder sind,
nur die Welt betrachten wie ein Kind

deine Erzählung kann ich sehr gut nachvollziehen, gefällt mir sehr

"Wir können unsere Geburt, unseren Tod nicht bestimmen, doch können wir bestimmen , wie wir leben !"
lieben gruß
markus
Vor langer Zeit - Antworten
Wandersmann Vielen Dank Markus, es freut mich, wenn meine Geschichten gefallen und zum Nachdenken anregen.
Vor langer Zeit - Antworten
strandgigant Moin Wandersmann!

Danke für den schönen Text.
lg
detlef
Vor langer Zeit - Antworten
Wandersmann Vielen Dank für den netten Kommentar. Es ist schön, dass dir das Buch so gut gefällt.
Vor langer Zeit - Antworten
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