Das ist das Ende. Es ist zwar nicht das Ende der Welt, aber immerhin ein Ende. Mein Ende, wenn man es genauer ausdrücken möchte. Ich kann nicht sagen, dass ich es geplant hätte, es hat sich einfach so ergeben. Ich wünschte, ich hätte die Zeit für Erklärungen. Am Ende muss man einfach gestehen, dass ich nicht mehr kann. Die täglichen Schmerzen, die verlogenen Gespräche, die unwürdigen Tätigkeiten – das alles lässt sich nicht mehr aushalten. Mein Ende naht und es ist ein selbstgewähltes Ende.
Ich habe den Tag nicht geplant, ich habe nicht bedacht, was ich vielleicht vorher noch machen möchte. Ich habe mich eines Abends nur noch entschieden zu handeln. Die Schlaflosigkeit, die ständigen Kopfschmerzen und die Hilflosigkeit in den Augen meiner Eltern – wer kann so etwas auf Dauer ertragen.
Es handelte sich um einen normalen Tag mit den alltäglichen Problemen. Ich hatte seit mehr als einem Jahr Kopfschmerzen, die mich nicht mehr als drei Stunden schliefen ließen. Nachdem sich die die Sonne gelegt hatte und der Mond mich begrüßte, schlief ich unter seinem
seichten Lächeln in Ruhe ein. Nach Ablauf der drei Stunden erwachte ich, voller Schmerz, voller Leid und erschöpfter als am Abend zuvor. Es war gegen zwei Uhr nachts. Ich schlich mich aus dem Zimmer und aus dem Haus. Die Kleinstadt, in der ich lebte, hatte einen Vorteil: Es gab einen Fluss mit einer Brücke.
Es war kein riesen Fluss, auch wenn er als Amazonas des Nordens gilt. Es gab keine reißenden Fluten, bei schlechtem Wind floss das Wasser eher bergauf. Trotzdem hatten die Brücke und der Fluss etwas Gutes. Ich habe mir lange vorgestellt, wie man es richtig angeht.
Wie man richtig, sein Ende selbst setzt. Gift? Ein Messer, welches die Pulsadern aufschneidet oder vielleicht ein Stromschlag. Ich verwarf alle Formen des Suizides – sie erschienen mir als zu leicht durchschaubar. Es gab zu viele Risiken. Schließlich wollte ich mein Leben beenden und die Gesichter nicht mehr sehen. Viel weniger wollte ich mitleidige Blicke, die mir versuchten Trost und Vertrautheit zu spenden. Ich brauchte Hilfe, ich hatte schmerzen, doch helfen konnte oder wollte keiner.
Ärzte, Physiotherapeuten, Psychologen und viele mehr haben gedoktert, am Ende blieb mir doch keine andere Wahl, als
alles selbst in die Hand zu nehmen.
Liebe das Leben – aber wie, wenn man nicht weiß, was man machen soll? Wenn Leben nur Schmerz, nur Leid ist, warum soll man an dem Leben festhalten? Was macht ein Leben lebenswert? Reicht es atmen zu können? Sollte nicht ein wenige mehr Freude und Spaß vorhanden sein? Es gibt immer harte Zeiten und Phasen, in denen man nicht weiterweiß.
Aber spätestens wenn man sein Kopf an die Wand schlägt, um eine andere Art des Schmerzes zu spüren, um den eigentlichen Schmerz zu überdecken, dann läuft etwas schief. Ich habe mir
gewünscht, dass ich so zuschlage, dass mir das Blut den Kopf herunterläuft. Das der Druck endlich abgebaut wird. Das der ganze Schmerz, der mich zu vernichten droht, ein Ende hat.
Die Überlegungen führten zu einzig richtigen Selbstmordvariante. Ich würde auf die Autobrücke klettern, über die Rehling steigen und auf den Parkplatz am Fluss springen. Dort gab es eine Bootsanlegestelle, eine Kunstmühle und Silos. Wenn man es richtig anstellte, konnte man sicher auf dem Betonboden des Parkplatzes landen und dann ins Wasser rollen. Tod, Vergessen und Fischfutter – dann hätte vielleicht alles
einen Sinn gehabt. Ein paar Fische und Aasfresser hätten mich kosten dürfen – es wären viele Mäuler gestopft.
Ich ging in der Nacht die Straße herunter. Sie macht eine kleine Biegung, bei der ich rechts in einen Schotterweg abbiegen musste. Er führte Steil hinab am Wall vorbei und zum Fluss. Dort musste man den Berg hochsteigen, um zur Brücke zu gelangen. Die Brücke war älter als ich, aber meine Eltern waren bei der Einweihung dabei – alt aber nicht sehr alt! Ich suchte mir eine schöne Stelle auf der rechten Seite der Brücke aus. Ich stand zunächst an dem Geländer und blickte hinab. Ich stellte mir vor,
wie mein Körper dort unten reglos liegen würde. Das Blut läuft langsam aus dem Kopf. Es gibt eine rote Blutlache, die langsam ihr Gebiet vergrößert. Habe ich dann noch ein wenig Kraft, um mich in den Fluss zu stürzen. Es würde länger dauern, bis man mich findet.
Warum denke ich immer wieder nach und grüble? Ich stellte mir vor, was meine Eltern machen, wenn sie mich nicht im Bett finden. Meinem Vater würde es wohl nicht auffallen. Meiner Mutter dagegen sehr schnell. Sie würde mich im Haus suchen, dann im Garten und dann? Würde sie die Polizei rufen? Anfangs eher nicht. Vielleicht sucht sie mich in der
Stadt, aber kommt sie auch zum Fluss. Warum sehe ich ihr zerfurchtes Gesicht, welches plötzlich von Sorge zerfressen ist? Sie ist nur noch ein Teil ihrer selbst – was passiert hier? Soll man ein unlebares Leben weiterleben, nur um andere Menschen zu schützen? Endet die Selbstbestimmung bei der Liebe zu anderen Menschen?
Ich bin 17 Jahre alt, mein Leben war bisher ereignislos. Wer würde mich schon vermissen, außer vielleicht Eltern und Geschwister? Selbst Freunde hatten sich in der Krankheit schon abgewendet. Wofür lohnt es sich zu leben? Ich wusste es nicht. Ich ging einen Schritt weiter.
Das Geländer überstieg ich und saß dann auf der Brücke, meine Hände im Geländer verschränkt, sodass ich nicht aus Versehen falle. Ich möchte selbst springen, wenn die richtige Zeit gekommen ist. Doch wie erkennt man die richtige Zeit?
Ich machte die Kopflampe aus, die ich benötigte, um die richtige Stelle zu finden. Es war Nacht, finster und stockdunkel. Kein Licht, kein Auto, kein Mensch war erkennbar. Die Gedanken, meine Gedanken umschlossen mich. Wofür lebt man wirklich?
Mir kamen verschiedene Gedanken zum
Tod. Die Katholiken verurteilen den Selbstmord. Ich als Evangele kann Glück haben, wenn ich mich als kleiner Büßer erweise – aber wie geht das? Was bedeutet Leben? Was bedeutet Tod? Ich weiß nicht, wie ich in der Dunkelheit neue Ideen bekam, oder was dazu führte, dass ich solange grübelte. Am Ende dachte ich aber, dass die meisten Menschen nur Leben, da sie keine Alternativen und vor allem Angst vor dem Tod haben. Diese Angst war ich bereit zu überwinden. Es bedurfte nur des Loslassens vom Geländer. Warum tat ich es nicht?
Wenn das Leben die Angst vor dem Tod
ist, ist dann der Tod die Angst vor dem Leben? Bin ich, weil ich an Selbstmord denke, sofort ein Feigling? Ein Feigling, ein Angsthase, ein Warmduscher – das bin ich – egal, welche Entscheidung ich treffe.
Sobald man den Weg des Suizids geht, kann einem kein anderer Mensch mehr helfen. Das Leben, wie man es kannte, ist zu Ende. Springen oder nicht springen, mag für den Außenstehenden die wichtigste Frage sein. Wenn man aber dort auf der Brücke sitzt, ist eher die Frage, wovor hat man mehr Angst – dem Leben oder dem Tod. Am Ende ist das aber egal, man ist ein Feigling und
wird es immer bleiben. Du schaust in den Spiegel, egal in welcher Welt man dann ist, aber man ist in jedem Fall ein Angsthase.
Gedanken an Selbstmord führen den Menschen die Sinnlosigkeit des Seins vor Augen. Was soll man noch machen, wenn man nur noch ein Angsthase sein kann? Die Entscheidung, was zu tun ist, ist egal. Es gibt kein zurück. Ich dachte lange nach. War es noch wichtig, was ich dachte? Ich hatte die Sinnlosigkeit meines Lebens erkannt – wie Sisyphos, der einsehen muss, dass er den Stein nicht auf den Berg rollen kann. Ist er ein glücklicher Mensch, weil er versagt,
immer wieder aufs Neue?
In diesem Moment spürte ich ganz neue Energie, es war als würde die Erkenntnis mich glücklich stimmen. Ich war gefangen in meinem Leben, einem menschlichen Leben ohne Sinn und Verstand. Ein Leben, was zu leben ist, oder beendet werden kann. Was man tut, ist egal – man wird beides bereuen. Es wird keine weitere Hilfe geben. Damit muss man leben, wie mit einem Tinnitus, einem Rückenleiden, einer kleinen Niere oder Knochenanomalien. Kein Arzt, Psychologe oder Pfarrer kann einem helfen. Man ist allein, mit den Vorstellungen, seiner Philosophie und
der Angst. Eine Angst muss man bezwingen, damit die andere leben kann. Das Befreien von allen Ängsten ist unmöglich.
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich philosophisch gefestigt war. Ich musste an das Bild meiner Mutter denken, welches ich mir zuvor vorgestellt habe. Die Ärzte, welche meine Kopfschmerzen auf lange Haare, Mondphasen oder andere esoterische Dinge geschoben haben, würden an meinem Tod nicht schwer zu nagen haben. Meine Mutter würde daran aber sicherlich vergehen.
Ich war das jüngste Kind – sie würde es
vielleicht nicht verkraften, da ich immer auch etwas sensibel war. Sie versuchte auch alles, um mir zu helfen, aber das ist nicht immer in der Hand eines Menschen. Ich konnte es ihr nicht antun – es war zu hart.
Ich entschied mich, mein Leben in stoischer Ruhe zu leben. Ich würde ertragen, was mir die Götter aufbürden, zumindest bis meine Mutter mein Ende nicht mehr in diesem Leben ertragen muss. Es war eine recht schnelle Entscheidung, aber es war eine Entscheidung. Ich zog mich hoch, überquerte das Geländer und suchte mein Bett auf. Ich schlief nicht, auch wenn ich
wusste, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Es war eine Art Neuanfang, die kein anderer Mensch mitbekommen hat. Der Neuanfang hat Kraft gegeben, aber die Nichtigkeit meines Lebens gleichzeitig besiegelt. Es ist, wie es ist.
Die Geschichte ist nicht schön, nicht heldenhaft und meine Vorsätze habe ich nicht umgesetzt. Dennoch habe ich an diesem Tag mein altes Selbst beendet und wurde zu dem, was ich heute bin. Die Geschichte ist ein Teil von mir, von meiner Persönlichkeit, von meinem Sein. Ich erzähle die Geschichte nicht mit Stolz, trotzdem sollte sie gehört werden,
auch wenn sie eher verstört. Das war es also mein Ende und der Neuanfang – es bleibt abzuwarten, wie viele ich noch erleben werde.