Kapitel 4 Lehr- und Wanderjahre 1958 wurde dann meines Vaters Geschäft enteignet, und ich musste im HO-Betrieb Buchhaltung lernen. Es machte mir überhaupt keine Freude, da ich früher wie heute mit Zahlen nicht so gut umgehen kann. Dafür kann ich aber heute noch die ganze Bürgschaft aus dem Kopf rezitieren. Im Sommer 1959 wurde mein Vater entlassen. Er plante, mit meiner Stiefmutter, uns 3 Mädchen, und dem kleinen Bruder in den Westen zu
flüchten. Wenn ich gewußt hätte, was er vor hatte, hätte ich mich wahrscheinlich geweigert. Ich war ja nach wie vor davon überzeugt, dass die dortige Regierung alles richtig machte. Damals existierte die Mauer noch nicht, und es war ohne Weiteres möglich, innerhalb von Berlin vom Osten in den Westen zu fahren. Und so fuhr ich mit meinen Schwestern über Königswusterhausen mit der S-Bahn nach Berlin, im Glauben ins Theater zu fahren. Das hatten mir meine 2 Schwestern weisgemacht. Doch sie fuhren nicht nach Ostberlin, sondern nach Westberlin. Dort erwarteten uns die Eltern mit Gerhard, meinem kleiner Bruder, die mir
eröffneten, dass wir jetzt im Westen bleiben würden. Als folgsame Tochter blieb mir nichts anderes übrig, als dazubleiben. Meine Schwester, die gerade 18 Jahre alt war, ging heimlich zurück, da sie einen Freund in Beeskow hatte und im Westen wäre sie erst mit 21 Jahren volljährig geworden. Für mich war das ein ziemlicher Schock, da sie meine Lieblingsschwester war. Aber ich durfte ja nicht zurück. Ich war minderjährig und wäre ins Heim gekommen. So hatte ich mit einem Schlag alle Freunde und alle Habe verloren. Wir kamen dann erst einmal nach Berlin- Marienfelde ins Lager und wurden 5
Tage später ausgeflogen nach Frankfurt/Main. Dann ging es mit dem Zug weiter nach Marxzell in ein Lager in der Nähe von Karlsruhe. Dort bekamen wir zu Fünft als Familie ein Zimmer zugewiesen mit Etagenbetten. Eine Gemeinschaftsküche war auch da. in der jede Familie seinen eigenen Kochherd hatte. Sowie wir dort ankamen, mussten wir uns beim Arbeitsamt melden. Meine Schwester Renate wurde als Serviererin in einem Hotel angestellt und ich bekam eine Arbeit in einem Lungensanatorium Frauenalb als Küchenhilfe zugewiesen. Ich hatte jeden Tag einen Fußmarsch von einer halben Stunde durch Berge und Täler. Die Landschaft dort ist wirklich
wunderschön. Es fuhr zwar auch ein kleines Albtalbähnli dorthin, aber das war ja alles mit Kosten verbunden und so lief ich also zu Fuss. In der Küche dort wurde aus Gründen der Ansteckungsgefahr alles weggeworfen, was aus dem Speisesaal kam, was mich aber nicht hinderte, vieles einzupacken und nach Hause mitzunehmen, So kam meine Familie ganz gut über die Runden. Aus der Zeit fällt mir noch ein, dass im Lager einige Russlandheimkehrer waren, die der deutschen Sprache nicht mehr so mächtig waren. Da ich im Russischen immer gut war, erbot ich mich, Ihnen beim Ausfüllen der vielen Formulare, die
auf sie zukamen, zu helfen. Sie waren ganz glücklich darüber. Einer gab mir sogar 30.-DM dafür. Das war für mich wie ein Lottogewinn. Und es war ja mein selbst verdientes Geld! Ich konnte nicht widerstehen, ging in den nächsten Lebensmittelladen und kaufte alles, was ich schon immer mal probieren wollte Z.B. Schokolade, Bonbons, Kaugummi, Kekse Coca Cola und einiges mehr. Man kann sich vorstellen, was ich mir von meinen Eltern anhören musste. Einer dieser Russlandheimkehrer war Waldemar. Mit meinen 15 Jahren fing ich gerade an, mich für das andere Geschlecht zu interessieren. Ich habe
nur gute Erinnerungen an ihn, Obwohl er schon 30 Jahre alt war, nutzte er nie meine Unwisssenheit aus. Wir tauschten heimlich ein paar Küsse.und er versprach mir auf mich zu warten, bis ich alt genug zum Heiraten wäre. Jeden Morgen, bevor ich zur Arbeit ging, lief ich in sein Zimmer, um mich von ihm zu verabschieden und er griff unter sein Kopfkissen,, wo schon eine Tafel Schokolade für mich bereit lag. Leider wurde er nach 2 Monaten nach Heidelberg geschickt, und wir verloren uns aus den Augen. Danach kamen wir in ein Lager nach Rastatt. Dort musste ich in einem Kaufhaus Osterartikel verkaufen. Nach
einigen Wochen wurde die Familie nach St. Peter im Schwarzwald zur Erholung geschickt. Das waren traumhafte 4 Wochen. Die wunderschönen schneebedeckten Wälder werden mir immer in Erinnerung bleiben. Im Hotel „Zum Goldenen Hirschen“ hat es uns sehr gut gefallen, zumal ich mich auch im Service dort etwas nützlich machte. Dadurch bekamen wir sogar eine Woche Verlängerung. Von dort aus nahm mein Vater Kontakt zu einem alten Jugendfreund aus Pommern, der in Bremen wohnte ,auf . Der half ihm, in Bremen sesshaft zu werden. Erst kamen wir wieder in ein Lager in Lesum. In den Lagern wohnten wir übrigens immer
alle in einem Zimmer und schliefen in Hochbetten. Damals wurde gerade ein neuer Stadtteil in Bremen gebaut, die Neue Vahr. Dort bekamen wir bald eine 4 Zimmerwohnung. Das war ein ganz neuer Luxus für uns nach dieser ganzen Lagerzeit. Mein Vater kaufte dann eine Behelfsbaracke, die als Laden dienen sollte. Es gab ja weit und breit keine Geschäfte. So fing unser neues Leben an. Meine Schwester Renate und ich machten einen Kassenkurs. Damals erschienen gerade die ersten elektronischen Registrierkassen. Der Laden wurde eingerichtet und so hatte mein Vater wohl ein ganz schönes
Einkommen. Ich war zu der Zeit voll in der Pubertät. So blieb es nicht aus, dass ich anfing mit der Männerwelt zu flirten. Einmal erwischte mich meine Stiefmutter während der Arbeit dabei, und stellte mich vor der Kundschaft als nichtsnutzig und faul hin. Ich fühlte mich so gedemütigt und sagte zu ihr, dass sie Schuld hätte, wenn ich mal weglaufen würde. Daraufhin bekam ich mit 16 Jahren die schlimmsten Prügel meines Lebens von meinem Vater,Er schlug mit dem Kleiderbügel zu, so dass ich am nächsten Tage nicht aus dem Hause gehen konnte. Heute weiß ich, dass diese Jahre für jeden Jugendlichen schwierig sind. Aber
damals fragte keiner danach. In der Geschichte Deutschlands ereignete sich etwas Unvorstellbares. Die DDR baute am 13.8.1961 über Nacht eine Mauer quer durch das ganze Berlin, die Westberlin von Ostberlin hermetisch abriegelte. Damit wollten sie die Fluchtation aus Ostdeutschland verhindern, die doch in den letzten Jahren sehr zugenommen hatte. Ein Aufschrei ging durch das gesamte Volk. Ganze Familien und Freunde wurden getrennt, die sich bisher noch über das noch offene Berlin hatten sehen können. Auch für mich hatte das Folgen. Denn bisher hätte ich mich noch mit meiner Schwester Margrit ,die ja in
Beeskow geblieben war, in Berlin treffen können. So war auch das unmöglich geworden. Uns blieben also nur noch die Briefe, wobei wir auch nicht wussten, ob diese nicht geöffnet und gelesen wurden. Denn durch unsere Flucht stand ja auch meine Schwester Margrit unter Beobachtung der Stasi. Mit 18 Jahren fiel ich dann auf einen Lügner rein, ich wurde schwanger. Ich wurde ja nicht aufgeklärt und die Pille gab es damals noch nicht. Mein Vater hatte immer nur gesagt: „ Mach ja keine Dummheiten“. Doch was waren für mich Dummheiten ? Ich suchte doch nur Liebe. Doch Walter hatte mir verschwiegen, dass er schon verheiratet
war und schon 2 Kinder hatte. Das war schon ein großer Schock für mich. Was sollte ich wohl tun? Wohnten doch in der Vierzimmerwohnung meiner Eltern schon 9 Personen. - Meine Eltern, meine Schwester Renate, ihr Mann Dieter deren 2 jähriger Sohn, mein Bruder Gerhard, meine Tante Käki mit ihrem Sohn, die kurz vor der Mauer noch zu uns kam, um bei meinen Eltern den Haushalt zu führen und ich. - Wir waren 9 Personen. Wo sollte denn nun noch ein Baby groß werden! Am 1. Oktober 1962 wurde ich von einer Tochter entbunden. Ich nannte sie Gabriele. Nun hatte ich etwas für mich allein, dass
ich richtig liebhaben konnte. Mein Vater besorgte mir eine Wohnung, was damals nicht einfach war. Es wollte ja keiner an eine uneheliche Mutter vermieten. Dann folgten 4 Jahre absoluten Stress. Tagsüber hatte ich Gabi bei einer Pflegefamilie, die 2 km entfernt wohnte. Das hieß, jeden Morgen eine halbe Stunde Fußmarsch dorthin, dann ins Geschäft, abends wieder das Gleiche zurück, das Kind gebadet, gefüttert und ins Bett gebracht. Dann kam noch das Windelwaschen Die Windeln wurden damals noch im großen Wäschetopf gewaschen, danach in der Badewanne gespült, Man kann sich vorstellen, wie es in der Wohnung roch. Eine
Waschmaschine war noch ein Traum für jede Mutter, Doch ich biss die Zähne zusammen, denn mein kleines Mädchen entschädigte mich für alles. Und ein Gutes hatte das Alleinleben für sich, ich begann die Freuden des Lebens kennenzulernen. Ich besuchte mit einer Freundin Tanzlokale , in denen man noch zum Tanzen aufgefordert wurde von der Männerwelt. Es stärkte enorm mein Selbstbewusstsein, wenn die Tänze sogar vorbestellt wurden. Übrigens machten damals richtige Kapellen noch die Tanzmusik. Als Babysitter hatte ich Udo, den Bruder meiner Freundin, der mein Vertrauen sichtlich genoss und es sich bei Chips und Cola bei mir gemütlich
machte. Ich hatte bei einem Preisausschreiben 1000.- DM gewonnen., und so kaufte ich mir meinen 1. Fernseher. Morgens hielt ich mich mit „Hallo wach“, das war ein Aufputschmittel, was es in der Apotheke frei zu kaufen gab, auf den Beinen. Mein Vater durfte ja nichts von meinem“ lockeren „Lebenswandel wissen. Ich kaufte mir einen kleinen Plattenspieler. Ich glaube, ich war der größte Fan von Udo Jürgens. Stundenlang konnte ich vor meinem Gerät sitzen , und bei Kerzenschein seinen Herz -Schmerzliedern lauschen. Auch Christian Anders, Adamo, Gilbert Becaud, Francoise Hardy und Daliah Lavi
gehörten unter anderem zu meinem Repertoire. Ich glaubte ja immer, dass es die große Liebe gab, die in den Liedern besungen wurde. In jeder freien Minute verschlang ich die 3 Groschenromane von Courths- Mahler und machte mir so ein bestimmtes Bild von der Liebe. Später brachte mich der Mann einer Freundin, ein Schriftsteller, an die anspruchsvollere Literatur heran. Und so wurde ich so langsam erwachsen.
FLEURdelaCOEUR Oh je, leicht hattest du es wirklich nicht! Ich bin nach der Grundschule für die 4 Oberschuljahre aufs Internat gekommen, wo es mir aber sehr gut gefallen hat. Liebe Grüße fleur |