Kapitel 2
Kindheit in Beeskow
So stand mein Vater nun mit 6 Kindern allein da. Inzwischen hatte er eine Bleibe für uns gefunden . Leider nicht in Bautzen, wo wir uns schon eingelebt hatten, sondern weit weg in der Mark Brandenburg, in Beeskow . Wir bekamen dort eine Wohnung und mein Vater eröffnete ein Lebensmittelgeschäft. Er war Kaufmann. Die Übersiedlung stand nun bevor. Die Schwester meiner Mutter, Tante Hannel, begleitete uns. Einer musste ja für uns sorgen, während mein
Vater sein neues Geschäft aufbaute. Später erzählten meine Geschwister, dass Tante Hannel ein Auge auf unseren Vater geworfen hatte. Die meisten jungen Männer waren ja im Krieg gefallen, vermisst oder in Gefangenschaft geraten. So war jede junge Frau erpicht darauf, irgendwie noch einen Mann zu bekommen, selbst wenn er 6 Kinder mit brachte. Doch leider war unsere Tante keine sehr herzensgute Person und versorgte uns mehr mit Schlägen als mit Liebe. Ich habe keine guten Erinnerungen an diese Zeit. Nachts musste ich immer mit einem Kämmchen im Haar schlafen. Wenn ich im Schlaf das Kämmchen gelöst hatte, schlug mir
meine Tante mit einem großen Hornkamm auf die Finger. Sie war wohl mit 6 Kindern überfordert. Ich bin jeden Morgen schon mit Angst aufgewacht. Nachts bin ich oft geschlafwandelt und man musste mich zurück ins Bett bringen. Da ich die Jüngste war, sollte ich abends immer als Erste ins Bett gehen. Ich weiß noch , dass ich mich stets im Dunkeln gefürchtet hatte.
Das Haus, in dem unsere Wohnung war, grenzte unmittelbar an einen Garten. In diesem Garten war ein großer Kirschbaum, dessen Zweige bis in unseren Hof reichten. Der Besitzer Herr Lehmann fand es nur eigenartig, dass an diesen Zweigen niemals Kirschen waren.
Wir wussten angeblich auch nicht warum. Meine größeren Schwestern und mein älterer Bruder waren so mutig, über den Zaun zu klettern, um an die dicksten Kirschen zu gelangen. Dabei brach ein Zweig ab. Man kann sich ausmalen, was das für ein Theater war. Ich dagegen war viel diplomatischer. Ich setzte mich immer an ein kleines Tischchen in Positur, wenn Herr Lehmann zum Gießen kam, lächelte ihn mit meinem süßesten Lächeln an und sagte brav: „Guten Tag Herr Lehmann“ Meist griff Herr Lehmann dann in sein Körbchen und ich bekam eine Handvoll der wundervollen roten Pracht.
Neuerdings fuhr unser Vater immer öfter
am Sonntag mit dem Rad weg, hinten auf dem Gepäckträger einen Blumenstrauß. Etwas hämisch sagte dann unsere Tante: „Euer Vater geht schon wieder auf Brautschau“. Wir konnten zwar mit diesem Ausspruch wenig anfangen, doch eines Tages im Jahr 1949 kam mein Vater mit der Nachricht, dass wir eine neue Mutter bekämen.
An einem Sonntag mussten wir alle antreten. Das Haar wurde frisch gebürstet, eine Schleife hinein gebunden, die Sonntagskleider angezogen , die Hände und die Fingernägel nachgesehen, standen wir in Reihe und Glied und erwarteten die Dinge, die da kommen sollten. Und sie kamen in Gestalt einer
dunkelhaarigen schlanken Person in einem grünen Kleid. Sie hatte für alle Kinder ein Geschenk dabei. Meine Schwestern bekamen rosa und hellblaue Haarbänder. Nur ich, als Jüngste bekam eine blau-weisse Tasse. Was sollte ich mit 5 Jahren damit anfangen? Ich wollte auch ein Haarband. Meine Rache kam etwas später, natürlich ungewollt. Ich fragte sie: „Weißt Du, wie Du aussiehst?“ Sie verneinte. Da kam es bei mir wie aus der Pistole geschossen : Wie ein Frosch ! Mein Vater erstarrte und fragte, wie ich denn um Himmelswillen auf so etwas käme. Ich antwortete , und sah sie dabei an ;
„Na, weil du ein grünes Kleid anhast.“
Man kann sich vorstellen, dass damit unsere Fronten wohl für alle Zeiten geklärt waren .
Sie haben dann geheiratet, und Tante Hannel verließ uns wieder. Sie zog nach München. Nun wurden Hühner und eine Ziege angeschafft. Uns Kindern oblag es, mit der Ziege auf die Weide, die etwas außerhalb der Stadt war, zu gehen. Um auf die Weide zu gelangen, mussten wir über einen mit Wasser gefüllten Graben springen, was mit der Ziege am Strick nicht immer einfach war. „Hansi spring!“ Einer zog vorne, und einer schob hinten. Doch Hansi, so hieß die Ziege wollte nicht immer so wie wir. Sie bockte., und
einmal bin ich mit voller Montur in den Graben gefallen. Wenn es hieß, dass ein Huhn geschlachtet würde, bin ich weggelaufen zu meiner Freundin. Das war mir ein Gräuel. Ich hatte einmal mitbekommen, dass das Huhn noch ohne Kopf weiter geflattert war. Der Hackklotz mit den blutigen Federn blieb mir auch ewig im Gedächtnis. So bekam man mich auch nicht dazu, das Fleisch zu essen.
Der Onkel Tobias vom Rias ist da,
was wird er wohl heute uns bringen
er bringt uns zum Lachen
will Freude uns machen
erzählen und spielen und singen
so klang es jeden Sonntag morgens um 10.00 aus dem Radio, Dann „Die Riaskinder besuchen Onkel Tobias“. Das war der Auftakt zu unserem heißgeliebten Kinderfunk. Erlaubt war er zwar nicht, weil es ja ein Westsender war, und wir lebten in der DDR.
Doch wir stellten das Radio leise, und so konnte es auch kein Fremder hören. Mit einem „Schade“ drehten wir das Radio wieder aus, nachdem die Kinder sangen:
Der Onkel Tobias vom Rias war da,
für heut sind zu Ende die Lieder
es hat uns gefallen
drum sagen wir allen
Am Sonntag , da kommen wir wieder
Jeden Samstag Abend saß die ganze Familie nach dem Abendbrot am Tisch. Große Zeitungen waren ausgebreitet, ein großer Topf mit Leim stand in der Mitte. Und alle mussten wir Lebensmittelmarken, nach Dekaden ausgerichtet auf die Zeitungen kleben. Damals bekam jeder Haushalt diese Marken für Butter und Zucker zugeteilt.
Mein Vater musste diese dann jeden Monat abrechnen. Anschließend ging es in die Badewanne. Dazu wurde der Ofen, der in der Küche stand, angeheizt und alle 6 Kinder kamen nacheinander in die Wanne. Ich war als Jüngste die Letzte. Da war das Badewasser schon fast kalt und auch nicht mehr sehr sauber. Wir wurden mit einer ziemlich harten Wurzelbürste und Kernseife abgeschrubbt. Sonntags morgens wurde dann für jedes Kind frische Wäsche rausgelegt. Nach dem Frühstück ging meine Stiefmutter an den Stubenschrank der immer abgeschlossen war,schloss ihn auf und holte eine Tafel Schokolade heraus. Jeder bekam einen Riegel von
dieser Köstlichkeit. Um das Silberpapier stritten wir uns später, als die Schokolade alle war. Nun beschloss meine Stiefmutter mit im Geschäft zu arbeiten.
Eine Haushälterin wurde eingestellt, und so wuchsen wir quasi allein auf. 1950 wurde mein kleiner Bruder Gerhard geboren und ich eingeschult,. Ich kann mich erinnern, dass ich die meiste Zeit, wenn ich nicht auf meinen kleinen Bruder aufpassen musste,bei meiner Freundin Christiane verbrachte. Sie hatte so eine nette Mutter. Wir durften auf einem kleinen Puppenherd köstliche Dinge mit Haferflocken Zucker und Kakao kochen, was bei uns zu Hause
undenkbar gewesen wäre. Aber Christiane war ja auch ein Einzelkind und hatte Verwandte in Westdeutschland. Sie bekamen dadurch auch immer tolle Pakete mit Lebensmitteln und Textilien. Meine beiden älteren Schwestern gingen 1952 aus dem Haus. Eine heiratete , die andere zog nach München zu Tante Hannel. Die Ferien verbrachte ich meistens in Lieberose bei Tante Anita und Onkel Karl. Onkel Karl war ein Bruder meiner Stiefmutter. Diese waren kinderlos und wohnten etwas außerhalb der Stadt. In der Nachbarschaft wohnte Traute , die gleichaltrig mit mir war. Wir beiden freundeten uns schnell an und durchstöberten von morgens bis abends
den angrenzenden Wald . An diese Zeit denke ich sehr gerne zurück, da ich dort sehr viel Freiheit genoss. Doch leider ging diese Zeit zu schnell herum.
Als mein kleiner Bruder Gerhard 3 Jahre alt war, begann ich mit ihm für den Zirkus zu üben. Mit meiner Freundin Ursel erarbeitete ich ein Programm. Ich war eine strenge Lehrmeisterin. Mein Bruder . musste sich wie ein Schlange um meinen Bauch winden, und ich drehte mich dazu im Kreise. Das war die Hauptattraktion neben vielen anderen Kunststücken. Wir spannten Wäscheleinen und hängten Decken darüber. Dann wurden für die verschiedenen Häuser Plakate
geschrieben und Eintrittskarten gebastelt. Stühle wurden hingestellt, und wir waren glücklich wenn wir bei einer Vorführung 5 Zuschauer hatten, die ja pro Kopf 20 Pfennig brachten. Der Beifall war für uns überwältigend.
Mein Vater führte zu Hause ein strenges Regime. Widerworte wurden nicht geduldet. Lügen wurden hart bestraft. Es kam schon vor, dass auch der Falsche mal Schläge einstecken musste, wenn der wahre Übeltäter nicht zu ermitteln war.
Trotz allem habe ich ihn über alles geliebt. Und sein Sinn für Ehrlichkeit hat sich bei mir fest eingeprägt. Bis heute ist es für mich ein Unding irgend
jemanden Geld zu schulden. Später bei meiner Selbstständigkeit war mir dieser Charakterzug immer sehr hinderlich. Ich hatte schlaflose Nächte, wenn mein Konto überzogen war.