Wie ist es doch im Sommer erfrischend am frühen Morgen in einem Park spazieren zu gehen! Sanft plätschert ein Bach, hohe alte Bäume säumen den Pfad. Rätselhafte Vogelrufe ertönen aus einer faszinierenden Auenlandschaft. Kurz hält sie inne, atmet die Ruhe ein. Sie wendet sich dem Ufer des glasklaren Baches zu. Wo ist er hin? Eine verwucherte Teichlandschaft erstreckt sich vor ihr. Kleine mit Bäumen und Sträuchern bewachsene Inseln inmitten von kühlem Wasser. Ein Traum. Blauschillernde Libellen huschen durch die Luft. Eigentlich schöne Tiere. Nach einigen langen stillen Minuten wandert die Frau weiter. Sie findet wieder den Bachlauf und folgt ihm bis zu einer Brücke. Vor ihr liegt die alte verfallene
Wasserburg. Sie sieht traurig aus. Bei einem der beiden Türme fehlt das Dach, am anderen wachsen kleine Sträucher zwischen den Dachziegeln. Die Burg selbst war einst prachtvoll. Einwenig von ihrem Glanz ist noch zu sehen, wenn auch nur noch die Wände stehen. Das Dach ist schon lange weg, die Vegetation hat sich ihren Weg ins Schlossinnere gebahnt. Wie alle derartigen Gebäude ist auch diese Burg gesperrt, denn jedes Betreten wäre lebensgefährlich. Die Frau geht weiter, entdeckt eine steinerne Kapelle, die an die Burg angrenzt. Sie wurde wohl kürzlich renoviert. Das Dach ist neu, auch gibt es in Blumenbehältern frische Blumen. Da kümmert sich jemand um das Anwesen.
Aber nicht um den Rest. Ist wohl nichts mehr zu machen. Die Fenster alle kaputt, die Mauer stellenweise abgebröckelt und zerstört. Schade. Ihr blutet das Herz, wenn sie Baujuwele verrotten sieht. Sie wendet traurig ihren Blick ab. Bewundernd bleibt sie vor zwei steinalten Platanen stehen und schaut hinauf in ihre Kronen. Wie hoch sie wohl sein mögen? Sie berührt den Stamm eines Baumriesen und zuckt zurück. Was war das gewesen? Sie betrachtet verwundert ihre Hand. Sie ist eisig kalt geworden, aber sonst scheint sie in Ordnung zu sein. Vorsichtig berührt sie den Stamm der Platane abermals. Eisige Kälte greift nach ihr, sodass sie erschaudert. Vor ihren Augen ändert sich die Umgebung.
Der teils verwilderte Park gleicht einem barocken Schlossgarten. Sie sieht die prachtvolle Wasserburg vor sich. Ihr kommen die Tränen, als sie die Schönheit des alten Baues sieht. Eine Kutsche fährt soeben über die Zugbrücke in den Schlosshof. Die Frau kann es nicht glauben, was sich vor ihren Augen abspielt. Plötzlich befindet sie sich vor der an die Burg angebauten Kapelle. Sie ist kein Mensch mehr, sondern ein Federvieh. Eine Gans. Die Leute um sie herum scheinen in Aufruhr und Hektik. Eine Hochzeit wird vorbereitet, das kann sie aus ihrer Perspektive klar erkennen. Oh mein Gott, die Braut ist ja wunderschön. Sie watschelt fasziniert näher. Unvorsichtig und nicht
bewusst in welcher Gefahr sie schwebt. Irgendjemand packt sie urplötzlich mit den Worten: „Hab ich dich!“ am Hals. Sie versucht zu schreien, zu schnattern, aber es kommt kein Ton aus ihrer Kehle. Sie schlägt mit den Flügeln, ringt nach Luft. Sie kann das Hackbeil sehen, dass ihr in Kürze den Kopf abschlagen wird. Nein!!!! Sie ist doch keine Gans, sondern ein Mensch, der unfreiwillig in die Vergangenheit gereist ist – als Federvieh!
„Ich mag keinen Gänsebraten“, bemerkt der Bräutigam im letzten Moment. „Lass sie frei.“ Vollkommen erschöpft flattert die Frau in ihrer Vogelgestalt zu Boden und verkriecht sich in der Kapelle. Niemand beachtet sie. Was für ein Glück! Aber wie
kann sie aus den Gänsekörper raus und durch die Zeit zurückreisen? Was hat sie im 17. Jahrhundert oder so verloren?
Als Zaungast und Gans erlebt die Frau die Hochzeitszeremonie. Es ist faszinierend und wunderschön. Aber plötzlich verändert sich alles. Die Leute lösen sich in Luft auf, als hätten sie nie existiert. Es wird laut, ein Dröhnen erfüllt die Luft. Die Frau krabbelt unter einer Kirchenbank hervor. Es ist fast finster geworden. Erleichtert bemerkt sie, dass sie wieder ihre menschliche Gestalt angenommen hat. Aber was ist das? Wieso sind ihre Hände so klein? Ist sie etwa ein Kind? Ja, ein kleines Mädchen im Nachthemd. Hilflos. Eine Explosion in ihrer Nähe erschreckt sie fast zu Tode. Sie läuft
aus der Kapelle hinaus. Es ist Nacht. Die Burg, sie brennt. Abermals eine Explosion, irgendwo im Park. Sie sieht in den Himmel. Flugzeuge? Sie ist für einen Moment verwirrt, dann überkommt sie ein eiskalter Schauder. Sie ist in Gefahr. Sie wird sterben, wenn sie hierbleibt. Sie befindet sich im Zweiten Weltkrieg. Die Burg wurde bei Bombenangriffen zerstört, auch die angrenzende kleine Kapelle auch. Sie hatte zuvor auf einer Schautafel davon gelesen. Plötzlich hat sie den rettenden Einfall: Die Platanen haben den Angriff überlebt, auch die 1000 jährige Linde, die ganz in der Nähe ist. Aber sie muss durch den Wassergraben hindurchschwimmen. Kann ihre Mädchengestalt das? Abermals kracht
es fürchterlich und der Boden bebt. Sie hat keine Zeit mehr! Einer der Burgtürme hinter ihr! Der Dachstuhl steht in Flammen. Sie muss hier weg und einen Weg durch die Zeit zurückfinden! Sie hetzt zum Wassergraben und hechtet ohne Nachzudenken hinein. Sie möchte schwimmen, aber sie kann es nicht. Sie ist ein kleines hilfloses Mädchen von vielleicht fünf Jahren. Sie strampelt mit Armen und Beinen, brüllt und schreit, aber das Wasser verschlingt sie binnen weniger Minuten.
„Alles in Ordnung?“, fragt jemand. Die Frau ist verwirrt. Sie sieht einen alten Mann vor sich, der mit seinem Jagdhund spazieren geht. „Es ist ein schöner Platz
hier zum Ausruhen. Aber es gibt dort vorne auch eine Bank, Sie müssen nicht im Gras liegen“, meint der Alte und lächelt sie an. Die Frau setzt sich auf und sieht auf ihre Hände. Danach auf ihre Umgebung. Neben ihr steht eine der mächtigen Platanen, deren Stamm sie zuvor berührt hat. Sie ist wieder zurück.
„Alles okay, danke“, murmelt die Frau erleichtert und steht auf. Was war geschehen? „Ja, ein wunderschöner mystischer Platz.“, meint sie rasch zum alten Mann, der noch immer vor ihr steht. Sie ringt sich ein Lächeln ab. Was für ein verrückter Traum!
„Diese Platane hat schon viel gesehen, wissen Sie“, erklärt der alte Spaziergänger
freundlich. „Hochzeiten, Kriege.“
Die Frau nickt. Sieht auf ihre Uhr. Sie ist erst eine knappe Stunde im Park. Es ist ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen.
„Einen schönen Tag noch“, meint der alte Mann, wendet sich seinem wartenden Hund zu und geht weiter. Die Frau jedoch bleibt am Ufer des Wassergrabens stehen und sieht noch mal zur Burg. Was für eine seltsame Geschichte. Nein, erzählen wird sie sie niemandem, denn man würde nur glauben, dass sie verrückt wäre. Sie – eine Gans! Langsam wendet sie sich von der Burg ab und wandert wieder auf den verschlungenen Wegen durch den Park zurück in ihr Leben.