Kurzgeschichte
Denise

0
"Sie hatte Ziele und den Ehrgeiz, diese Ziele zu erreichen. Dann war sie ein häufchen Elend"
Veröffentlicht am 26. Mai 2021, 12 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de
Sie hatte Ziele und den Ehrgeiz, diese Ziele zu erreichen. Dann war sie ein häufchen Elend

Denise

Titel

Ehe man es sich versieht, geht man nicht mehr zur Schule, sondern in die Berufsschule und nebenbei lernt man die praktischen Fähigkeiten für einen speziellen Beruf, in dem man nach der Ausbildung vielleicht, vielleicht aber auch nicht, anfangen wird. Aus Mädchen, die man auf dem Schulhof ärgert, werden begehrenswerte Objekte. So viele Veränderungen auf einem Schlag. Ich kam damals nicht zurecht damit. Eben noch saß ich zu Hause bei meinen Eltern. Einen Augenblick später zog ich in meine erste eigene Wohnung. Und irgendwo in dem Zeitraum habe ich sie

kennengelernt. Wir waren nie richtige Freunde gewesen. Es hatte keine sexuellen Spannungen zwischen uns gegeben. Ab und an führten wir Smalltalk. Ansonsten gingen wir getrennte Wege. Sie hatte ihre Freunde und ich hatte meine Freunde. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, wird mir ein wenig anders. Abgesehen von ihrem ansprechenden Äußeren, hatte sie Pläne gehabt. Im Gegensatz zu mir, wusste sie, was sie wollte und tat alles dafür, um ihre Ziele zu erreichen. Wäre ich damals nicht so sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen - herauszufinden wer und was ich bin, was ich wollte – vielleicht hätte ich dann die Veränderung, an ihr,

bemerkt. Von einem Tag auf dem anderen war sie ganz anders. Jetzt, mit Abstand von vielen Jahren, fällt mir das auf. Damals war ich dafür blind gewesen. Meine eigenen Probleme hatten mich für alles andere blind und taub gemacht. Der Zustand, in dem sie sich befand, als ich sie Jahre später zufällig wieder traf, war einfach nur furchtbar. Zuerst hatte ich sie gar nicht wiedererkannt, mit ihren neuen Haaren, den leeren Augen, den heruntergekommenen Look und dem verfremdeten Gesicht. Ich hatte Spätschicht gehabt und war auf dem Weg nach Hause. Weil mir jemand das Rad geklaut hatte, während ich arbeiten gewesen war, musste ich Laufen.

Wenn ich so darüber nachdenke...Wenn mir nicht jemand mein Rad geklaut hätte, wäre ich nicht gezwungen gewesen zu laufen, wäre ihr nicht begegnet und unser beider Leben wäre ganz anders verlaufen. Schicksal? Hatte da jemand seine Hand im Spiel gehabt? Plötzlich hatte sie vor mir gestanden, während ich leise vor mich hinfluchte. Zuerst hatte ich sie nicht erkannt. Sie stand schwankend vor mir und bewegte ihre Lippen, ohne ein hörbares Wort von sich zu geben. Ich fragte sie, was sie von mir wolle und sie sagte: „Nur fünf Euro.“ Und ehe ich es mich versah, ging sie runter auf die Knie und fummelte an meinem Hosenstall herum. Ich hatte

Mühe, sie wieder auf die Beine zu bekommen. „Hey, ich steh da nicht drauf.“, sagte ich im strengen Ton. „Man, ich brauch das Geld.“, lallte sie. Sie schwankte einen Schritt rückwärts und stand direkt unter einer Laterne. Ich betrachtete sie von oben bis unten und bekam Mitleid mit ihr. Daher lud ich sie zu mir ein. Das Mädchen war richtig abgemagert und brauchte eine ordentliche Mahlzeit. Nach einem kurzen Kampf, hakte sie sich bei mir unter und ich schleifte sie mehr mit zu mir, als das sie selber lief. Auf dem ganzen Weg hatten wir kein Wort gesprochen. Tausend Fragen hatten mir

auf der Zunge gelegen, aber ich wusste, das sie kaum in der Lage war mich zu verstehen, geschweige denn klare Antworten zu geben. Bei mir zu Hause angekommen, legte ich sie auf die Couch und deckte sie zu. Dann ging ich in die Küche und machte ihr ein paar Schnitten. Dazu reichte ich ihr eine Tasse heißen Tee. Sie aß langsam und ohne rechten Appetit. Als sie aufgegessen hatte, fragte ich sie endlich nach ihrem Namen. Es war, wie ein Schlag mit dem Faustkeil, als sie ihn mir sagte. Um sicher zu sein, das ich sie nicht verwechselte, fragte ich sie nach ein paar Eckdaten. Ich betrachtete sie noch einmal ganz ausführlich. Es gab

keinen Zweifel mehr. Sie war die Denise gewesen. Die Denise mit dem großen Ehrgeiz, der mir fehlte und den Zukunftsplänen, die ich auch nicht gehabt hatte. „Was ist nur aus dir geworden?“, haute ich, weil ich unfähig war zu reden. Anstatt Antwort zu geben, schüttelte sie nur sacht mit dem Kopf und legte sich hin. Ich sah, wie ihr die Tränen aus den Augen kamen. Auch ich verspürte den Druck. Noch ehe es aber dazu kommen konnte, stand ich auf, deckte sie sanft zu, löschte das Licht, schloss die Tür und verschwand in meinem Schlafzimmer. Es tat weh, jemanden so zu sehen, die einmal Großes vorhatte.

Was musste geschehen, damit so jemand ganz unten landet und für läppige fünf Euro jemanden oral befriedigen tut? Am nächsten Morgen lag sie immer noch so da, wie ich sie verlassen hatte. Ich ging zurück in die Küche und kochte für uns Kaffee. Dazu bereitete ich ein kleines Frühstück zu. Sie musste unbedingt wieder zu Kräften kommen. „Wenn du willst...Ich kann nichts versprechen...Du kannst bei mir bleiben...Ich besorge die sauberes Zeug. Sag mir nur was du brauchst.“ Sie schwieg. Es wunderte mich, das sie überhaupt aß. Und es freute mich. Als ich nach der Spätschicht nach Hause kam, rechnete ich damit, das sie nicht

mehr da sein würde. Aber sie war noch bei mir. Sie zitterte am ganzen Leib, schwitzte und ich erkannte, das sie Krämpfe hatte. Entzugserscheinungen. Hilflos stand ich im Zimmer und wusste weder ein noch aus. Sie unterdrückte Schmerzensschreie und ich sah, das sie sich übergeben hatte. Gedankenverloren saß ich bei ihr und wischte mit einem feuchten, kühlen Lappen über ihr Gesicht. So ging das ganze drei Tage lang. Dann war das Schlimmste überstanden gewesen. Die Anfälle, die dann noch kamen, waren nicht der Rede wert gewesen. Wieso sie das über sich hat ergehen lassen, konnte oder wollte sie mir nicht

sagen. Ich hatte Glück, das mein Hausarzt mir Rückwirkend einen Krankenschein ausgestellt hatte. Mein Arbeitgeber war weniger erfreut darüber. Ich musste schwören, das ich sie nie ausfragen werde, was zwischen dem lag, als wir uns das letzte mal gesehen hatten und heute. Dafür musste sie mir versprechen, das sie sich professionelle Hilfe sucht; was leichter gesagt war, als getan. Einen Termin zu bekommen, war praktisch unmöglich gewesen. Glück oder Schicksal hatte uns geholfen, doch noch einen zu bekommen. Zwar liegt es weit außerhalb, aber wenigsten bekam sie endlich die Hilfe, die sie

benötigte. Einige Zeit ist vergangen, seit damals. In der Zwischenzeit hat sie wieder Farbe im Gesicht, einen Minijob und neue Ziele. Es ist ein schönes Gefühl, anderen zu helfen und helfen zu können, die es dankbar annehmen und auch verdient haben. Denise ist auf einen sehr guten Weg. Ich wünsche ihr alles, alles Gute.

0

Hörbuch

Über den Autor

Superlehrling

Leser-Statistik
6

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Lagadere 

He! Ich glaube, ich kenne Denise auch!
Es ist schon sehr lange her, als ich einmal ziel- und planlos durch die nächtliche Großstadt stromerte. Meine Frau hatte mich ein paar Tage zuvor verlassen und ich war böse auf alles und jeden. Jedes Haus, jedes Verkehrsschild, jedes Ladengeschäft und jeder Passant - alle bekamen mindestens EINEN wütenden Blick ab.
Selbst die Straßenlaternen blieben nicht verschont und ich machte mir für später eine Gedankennotiz, was ihre Definition betraf:

"Solange, bis sie von Jugendlichen mutwillig zerstört wird, ist die Straßenbeleuchtung Teil der Straßenausstattung und dient zur künstlichen Beleuchtung von Straßen, Plätzen oder Freiräumen". [Frei nach Wikipedia)

Ich lachte grimmig und mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Fäusten schlenderte ich weiter Richtung Innenstadt.
Ich passierte gerade ein hell erleuchtetes Schaufenster, als eine junge Frau auf mich zu schwankte und irgendetwas lallte, das ich kaum verstehen konnte. Als sie gegen mich fiel, hob ich reflexartig die Hände und fing sie auf. Ihre Lippen formten ein stummes Danke und in dem merkwürdigen Mix aus Dunkelheit und Beleuchtung glaubte ich, so etwas wie ein Lächeln zu erkennen.
Hilfesuchend blickte ich mich um, aber niemand von den wenigen Nachtschwärmern interessierte sich für uns. Es war auch keine Bank in Sicht, auf der ich sie erst einmal hätte "zwischenparken" können.
Während ich noch nachdachte, was nun zu tun sei, nuschelte sie:
"5 Euro..." und sackte nach unten, um an meinem Reißverschluss zu nesteln.
"Was!?", rief ich überrascht aus, "oral und nur 5 Euro?"
Sie murmelte irgendetwas, das wie Zustimmung klang, kam aber mit dem Reißverschluss nicht weiter.
Ich zog sie in einen Hauseingang und zückte mein Portemonnaie.
Da ich schon seit Tagen auf Entzug war, gab ich ihr zwei Fünfer.....


Danach verschwimmt meine Erinnerung etwas. Aber als ich einmal die Augen öffnete, bemerkte ich, dass einige der Passanten stehengeblieben waren und uns, teils neugierig, teils angewidert, teils erheitert zusahen.
Es war mir egal.
Ich griff nach unten, zerwühlte das neue Haar der jungen Frau und als es vorbei war, zündete ich mir eine Zigarette an und fragte:
"Na? Wie war ich?"
Sie überging meine Frage und sah teilnahmslos den Zuschauern hinterher, die sich langsam zerstreuten, um ihre eigenen Hauseingänge aufzusuchen.

Da die junge Frau immer noch nicht zu stehen vermochte, rutschte ich langsam mit dem Rücken an der Wand nach unten, hielt meine Zufallsbekanntschaft fest und wir kamen ins Gespräch.
Zunächst stockend, dann immer flüssiger, erzählte sie mir, dass sie Denise hieß und dass sie vor ein paar Tagen einem Typen zunächst das Fahrrad geklaut und und ihm anschließend das gleiche Angebot wie mir gemacht hatte, nachdem das Rad nur zehn Euro gebracht hatte.

"Weißt du, der war ganz schön nett. Hat mich bei sich wohnen lassen, sich richtig um mich gekümmert und nun bin ich weltweit einer der wenigen Junkies, die in drei Tagen den kalten Entzug geschafft haben!"
Etwas wie Stolz blitzte kurz in ihren Augen auf.
Ich nickte gleichermaßen anerkennend wie zweifelnd und öffnete schon den Mund, um etwas zu erwidern, als sie kichernd einräumte:
"Hat allerdings nicht lange vorgehalten. Wie du siehst".

Ich blieb noch eine Weile bei ihr sitzen, bis sie halbwegs klar war. Dann trennten wir uns und ich trat den Heimweg an, da ich überhaupt keine Lust mehr verspürte, weiter in diese dubiose Stadt mit ihren seltsamen Bewohnern einzudringen.

Merkwürdig: Meine Wut war verflogen und einer Nachdenklichkeit gewichen, die mich dazu brachte, meine Situation neu zu betrachten.
Ich war schon fast zu Hause, als ich überrascht bemerkte, dass ich angefangen hatte, leise vor mich hin zu pfeifen.
Lächelnd schloss ich die Haustür auf und verschwand in einem neuen Leben, in dem es eine neue Frau geben würde.

An Denise dachte ich nie wieder.






LG Uli
Vor langer Zeit - Antworten
Gast Das Leben ist schon seltsam
Vor langer Zeit - Antworten
Lagadere 

Es ist ja noch so viel mehr:
aufregend, spannend, lustig, brutal, komisch, hart, interessant, launenhaft, tricky, gemein, fies, atemberaubend, beeindruckend, hinterfotzig, schön (wenn man 2x geimpft ist), kurz, beängstigend, usw.
Kurz: zum Niederknien!
(Wenn man noch jung genug ist, um ohne Ächzen und Knarren auf die Knie zu kommen)

Außerdem ist das Leben ja voller Fragen.
Wenn z.B. ein männlicher Querdenker und eine weibliche Impfgegnerin sich paaren - was kommt dabei heraus?
Ein menschlicher Crashtest-Dummy?


Vor langer Zeit - Antworten
Zeige mehr Kommentare
10
3
0
Senden

167321
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung