Am 12.5.2021 hat eine Gruppe von ca. 180 Personen unter anderem vor der Synagoge in Gelsenkirchen demonstriert. Hierbei gingen von der Gruppe sowohl antisemitische als auch antiisraelische Äußerungen aus. Die Demonstranten nutzten den Deckmantel der Solidaritätsbekundungen zur Palästinensern im Nahen Osten, um ihrer Judenfeindschaft freien Lauf zu lassen.Zugleich hat die Stadt Hagen die gehisste Flagge Israels nach einigen Beschwerden von Bürgern abgenommen. Damit sollte die Solidarität zur israelischen Bevölkerung, die unter den Raketenbeschuss der Hamas leidet, bekundet werden. Die Hamas gilt u.a. in
Deutschland als Terrororganisation. Beschwerdegrund war, dass durch das Hissen der Flagge der Eindruck der einseitigen Parteinahme erweckt werden würde.
Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse lohnt sich eine kurze Erinnerung daran, dass die freie Meinungsäußerung Grenzen kennt und dass im Kontext dieser aktuellen Ereignisse die Schwelle zur strafbaren Beleidigung schneller überschritten sein kann, als mancher glauben mag.
Was ist eigentlich Antisemitismus? Antisemitismus wird gemäß der
Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), der auch Deutschland angehört, wie folgt definiert:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“
Antisemitisch einzuordnen sind somit beispielsweise Zeichnungen und Symbole, die die angebliche Macht von Juden (also eine Vorstellung von diesen) abbilden, wie der Jude Rothschild, der die Welt umfasst oder gar entmenschlichende Metaphern, wie die Darstellung oder Bezeichnung von Juden als Ratten oder Heuschrecken.
Im Zuge der aktuellen Ereignisse will man sich dann aber damit rechtfertigen, dass man lediglich legitime Kritik am Handeln des Staates Israel üben würde. Doch wo hört die legitime Äußerung einer Kritik auf (auch wenn sie anderen
Personen nicht gefällt) und beginnt die strafbare Beleidigung?
Hier muss der Einzelfall betrachtet werden unter Abwägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Betroffenen (Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 GG).
Eine solche Abwägung muss in Ausnahmefällen nicht getroffen werden. Das ist dann der Fall, wenn vom Äußernden eine sogenannte „Schmähkritik“ verlautbart wird, denn dann tritt die Meinungsfreiheit hinter den Schutz der persönlichen Ehre als
Ausfluss der Würde des Menschen zurück.
Hierbei ist zu beachten, dass eine überzogene oder gar ausfällige unsachliche Form der Äußerung, eine solche für sich genommen noch nicht zur Schmähung macht, wenn sie letztlich als (überschießendes) Mittel zum Zweck der Kritik eines Sachverhaltes dient. Hinzutreten muss vielmehr, dass bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Die Äußerung muss jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der persönlichen
Herabsetzung bestehen. Insofern ist Schmähkritik fast nur noch im Bereich der Privatfehde zu erkennen. Das ist vor allem bei Meinungsäußerungen in öffentlichen Medien (beispielsweise auch in öffentlich zugänglichen Foren wie offenen Gruppen bei Facebook oder Telegram) beachtet werden.
Die wenigsten Äußerungen im Rahmen der aktuellen hitzigen Auseinandersetzung dürften daher den engen Rahmen der Schmähkritik überschreiten.
Liegt keine „Schmähkritik“ vor, dann muss eine Abwägung im Einzelfall
getroffen werden, ob eine strafbare Beleidigung vorliegt oder nicht. Dabei ist diese Abwägung offen und verlangt eine der konstitutiven Bedeutung der Meinungsfreiheit Rechnung tragende Begründung in Fällen, in denen Äußerungen im Wege der Abwägung hinter dem Persönlichkeitsschutz zurücktreten sollen. Wichtig hierbei ist, dass es gerade keinen generellen Vorrang der Meinungsäußerung gibt, sondern sich die Grundrechtspositionen grundsätzlich gleichwertig gegenüberstehen.
Insbesondere Gleichsetzungen von herausragenden Personen des jüdischen Lebens in Deutschland (wie dem
Vorsitzenden des Zentralrates der Juden Joseph Schuster) mit führenden Nationalsozialisten oder ähnlich geartete Polemik ist im Rahmen der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Allgemeinen Persönlichkeitsrecht eine strafbare Beleidigung. Den Tatbestand (neben Volksverhetzung) erfüllen beispielsweise auch Leugnungen und Relativierungen des Holocaust.
Wichtig in diesem Zusammenhang ist noch zu erwähnen, dass auch Kollektiv- oder Gruppenbezeichnungen (bekanntes Beispiel: ACAB, was für All Cops Are Bastards steht) nicht in jedem Fall vor einer Verurteilung wegen Beleidigung schützen.
Abfällige Äußerungen über Personen, die einer größeren Gruppe angehören, sind dann als Beleidigung gemäß §185 StGB,wenn einzelne Personen aus der größeren Gruppe hinreichend individualisiert erfasst werden. Solange das nicht der Fall ist, überwiegt das Grundrecht der Meinungsfreiheit.
Wird also gegenüber einem Juden geäußert: „Ihr Juden tötet unschuldige Palästinenser, ihr Juden seid Mörder!“, dann wird hier, trotz der Sammelbezeichnung, eine Person konkret angesprochen, weshalb auch eine
strafbare Beleidigung vorliegt.
Antisemitisches Gedankengut frei zu äußern kann also durchaus strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Das ist freilich nicht in jedem Fall so. Die bekannte Täter-Opfer-Umkehr, symbolisiert durch „Judensterne“, in die das Wort „Ungeimpft“ eingeschrieben steht, ist zwar klar antisemitisch, aber nicht strafbar.
Man sollte es sich also zweimal überlegen, was man äußert und mit wem man Seite an Seite demonstriert. Nicht immer kann man sich mit dem Verweis auf die Meinungsfreiheit davon
freisprechen. Zudem sollten sich hier in Deutschland Juden und jüdische Einrichtungen Attackierende (verbal wie physisch) einmal fragen, was Juden in Deutschland eigentlich mit einem extrem komplexen und vielschichtigen Konflikt im Nahen Osten zu tun haben. Die Antwort lautet: Nichts.