Das Haus erschien in einem eigenartigen Licht. Aber sie hatte keine andere Wahl! Niki musste es wagen. Kurz hielt sie inne, sah sich um. Der dunkle Wald rauschte in ihren Ohren. Sachte drückte sie die Türklinke hinunter. Noch einmal wartete sie einen Augenblick. Nein, sie waren hinter ihr her! Wer? Das wusste sie nicht. Aber eines war gewiss: Man wollte ihr an den Kragen, sie einfangen, um sie dann zu töten. Wie ein wildes Tier.
Niki schlüpfte durch den Türspalt in das mächtige Haus. Sie kannte es nicht. Eine unsichtbare Macht hatte sie hier her gehetzt.
Niki hatte bereits eine haarsträubende Flucht hinter sich. Quer über die Felder, durch den dichten Tannenwald, einen schmalen Weg entlang zwischen knorrigen Obstbäumen hindurch. Bis zu diesem Gebäude. In pechschwarzer Finsternis. Nicht einmal der Mond schien. Der gute alte vertraute Mond! Kein Stern. Nichts!
Niki beleuchtete mit ihrem Handy ihre Umgebung. Sie befand sich in einem großen hohen Raum. Ein mächtiger steinerner Stiegenaufgang gegenüber von ihr führte in die nächste Etage. Niki war über die Höhe des Raumes erstaunt. Eine Eingangshalle mit hohen Fenstern, teilweise zerbrochen,
Marmorboden, Statuen. Niki leuchtete einer Figur ins Gesicht. Eine Frau, fein gearbeitet. Eine wahre Bildhauerkunst. Ihr Lächeln, verschwand es? Niki schüttelte den Kopf, als sie erneut die Statue anleuchtete, trotzdem lief ihr ein eiskalter Schauder über den Rücken. Sie wandte sich ab, stieg die erste Stufe hinauf und sah sich um.
Plötzlich knarrte das Tor hinter ihr. Sie hatte es doch verriegelt, oder? Die Frau erstarrte für einen Moment, dann suchte sie verzweifelt ein Versteck. Unter die Stiege! Rasch! Keuchend kauerte Niki sich unter die Steinstufen in eine Nische und schaltete ihr Handy aus. Sie wartete. Ihr Herz schlug
mittlerweile so schnell, wie das einer Maus. Niki versuchte, in der Finsternis etwas auszumachen. Eine Bewegung? Sie hielt die Luft an.
Da waren sie, ihre Verfolger, ihre Häscher! Sie standen in der Halle, starr und unbeweglich. Ein gespenstisches Glühen und eisige Kälte schien von diesen Gestalten auszugehen. Sie konnten sie zwar nicht wirklich erkennen, aber dafür umso deutlicher spüren. Sie sahen menschlich aus, aber irgendwie anders, Niki konnte es sich nicht erklären. Eines stand für die Frau jedoch fest: Ihre Verfolger waren nicht von dieser Welt. Eindeutig! Sie erschauderte. Wie
viele es waren? Niki hatte keine Ahnung. Die Wesen waren nicht zählbar, nicht physischer Natur. Die Frau suchte nach einem Ausweg, als die Gestalten den Raum nach ihr durchsuchten. Geisterhaft.
Niki wollte nur noch zurück zu ihren Kindern, ihrem Mann, auf ihren Hof, zu ihren Tieren. Hätte sie wenigstens ihren alten Schäferhund Freddie mitgenommen ... Sie wünschte, es wäre alles ein Traum und sie würde jeden Augenblick aufwachen! Aber diesmal spürte sie, dass es real war. So eine Angst hatte sie ihr ganzes Leben noch nie gefühlt! Als sich eine Gestalt ihr langsam näherte, sie konnte den
glimmenden schwebenden Lichtschein sehen, stürmte Niki blindlings los. Die Treppe aufwärts. Nahm zwei Stufen auf einmal. Stolperte durch die Dunkelheit. Stürzte und schrie vor Schmerz auf. Irgendetwas streifte sie zart. Niki rappelte sich auf, krabbelte unter Tränen auf allen vieren weiter die Treppe hinauf. Egal, was sie oben erwarten würde, nichts wie weg von hier! Sie folgten ihr, knapp! Niki wusste es, auch wenn sie es nicht wagte, sich umzudrehen. Weiter!
Oben, im letzten Stockwerk angekommen, humpelte sie nach rechts. Die Fenster? Vielleicht konnte sie irgendwie aufs Ziegeldach gelangen?
Sie blieb stehen und versuchte eines zu öffnen. Vergeblich. Eine Türe? Verschlossen, weiter! Der letzte Raum war offen, sie stürmte abermals zu den Fenstern. Versuchte sie einzuschlagen. Keine Chance. Verstecken! Niki holte das Handy hervor und schaltete es ein. Wo sollte sie sich verkriechen? In einem Schrank? Er war einer von vielen. Nein, nicht gut genug, um diesen Wesen zu entfliehen. Eine Luke? Eine kleine Türe in der Ecke des Zimmers? Wohin führte sie? Niki brach sie regelrecht mit Löwenkräften auf und kroch mit zusammen gebissenen Zähnen hinein. Der Geruch von Moder schlug ihr in die Nase.
Rasch zog sie das Türchen hinter sich zu und kauerte sich in den winzigen fensterlosen Raum. Wozu er gut war? Eine Besenkammer? Sie wollte ihn soeben ausleuchten, als sie von draußen ein Geräusch vernahm. Ein Surren. Wie fließender Strom, der bei winterlicher Kälte in Hochspannungsmasten hörbar wurde. Niki erschauderte. Sie musste Hilfe holen! Das Handy. Sie hielt es fest umschlossen. Würde sie jetzt endlich ein Funknetz haben? Sie schaute auf das Display. Nein! Abwarten. Niki zitterte am ganzen Leib. Sie schwitzte, wie nie zuvor in ihrem Leben.
Sekunden später wurde sie aus ihrem
Versteck gezerrt. Sie wehrte sich, aber vergeblich. Plötzlich war es taghell um sie herum. Drei Frauen, Mädchen, standen vor ihr und sahen sie mit dunklen seltsamen Augen an. Niki konnte keine Pupillen erkennen. Panik flutete ihre Seele, entsetzliche Furcht. Niki wollte fliehen, als die Mädchen näher kamen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Stand wie festgenagelt vor ihnen. Aus irgendeinem Grund verschwammen die drei Mädchen und wurden zu einer mächtigen Gestalt, die sich langsam vor Nikis entsetztem Blick auflöste, genauso wie Nikis eigener Körper! Niki wollte um Hilfe rufen, doch ihr fehlte die Stimme. Im
nächsten Augenblick stand sie vor einem Spiegel und erkannte sich nicht wieder. Sie war eine in grellem Licht gleißende Frau mit schwarzen pupillenlosen Augen und fließendem weißen Gewand. Nein! Niki wollte weinen, schreien, toben. Aber sie konnte nichts außer ihr Spiegelbild anstarren.
Irgendetwas zupfte an ihr und flüsterte. „Mami, Mami.“
Niki kämpfte sich in die Realität zurück und schlug die Augen auf. Ihre kleine fünfjährige Tochter kuschelte sich soeben an sie. „Mami, wach endlich auf“, flüsterte Pia. „Freddie hat schon geheult, ich hab ihn rausgelassen.“
„Danke Mäuschen“, erwiderte Niki und gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange. „Wo ist eigentlich Papa?“, fragte Niki, während sie sich die Haare aus dem schweißnassen Gesicht strich.
„Draußen bei unseren Kühen. Er hat gesagt, dass er dich mal schlafen lässt.“
„Das ist lieb von ihm“, murmelte Niki. Es wäre ihr lieber gewesen, Andreas hätte sie aufgeweckt ...
„Wo ist dein Bruder?“
„Robi ist in der Küche, Mama.“Es wurde still. Niki stieg aus dem Bett und schaute aus dem Fenster in den nebelverhangenen grauen Himmel. „Du
hast geträumt, Mami, stimmt`s?“, fragte Pia hinter ihr.
Niki neigte den Kopf. „Ja“, wisperte sie. Sie verstand nichts von Träumen und das war gut so. Diese vielen verrückten Dinge! Vielleicht würde sie ja beginnen ein Traumtagebuch zu schreiben, um diesem nächtlichen Wahnsinn einen Sinn zu geben ...