Kurzgeschichte
Nur wenige Jahre

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"Sie glaubte, das sie bis an ihr Lebensende mit blauen Flecken herumlaufen müsste. Da traf sie ihn."
Veröffentlicht am 04. März 2021, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Sie glaubte, das sie bis an ihr Lebensende mit blauen Flecken herumlaufen müsste. Da traf sie ihn.

Nur wenige Jahre

Titel

Für die Meisten ist es nur eine Zahl; für ihn war es die Hölle. Als wir uns kennenlernten, sagte er zu mir: „Bei zwei Dingen habe ich mich affig. Das ist mein Gewicht und mein Alter.“ Ich schwieg zu Beidem und sah zu, wie er akribisch darauf achtete was und wann er aß und sich immer wieder Neues aneignete. Dennoch… Anfangs dachte ich, das sich der rote Faden weiter hässlich durch mein Leben zieht und wollte schon die Kurve kratzen. Mein Leben war bis dahin alles andere als schön gewesen. Meine Eltern glaubten: „Wer sein Kind liebt, legt es

ordentlich übers Knie.“ Damals, als ich Kind gewesen war, war es ganz normal gewesen, das Eltern ihre Kinder verhauen. Die Einen taten es mehr, die Anderen weniger. Meine Eltern dachten sich, das zu viel nicht schaden kann; ganz im Gegenteil. Mein Mann dachte wohl genauso. Ich war eine gehorsame Frau. Als er mich für eine Andere verlassen hatte, glaubte ich, das sich das Blatt zum Positiven ändern würde. Da hatte ich mich aber gewaltig getäuscht. Ich kam vom Regen in die Traufe... Er starb bei einer Messerstecherei, in die er zufällig geraten war. Mein dritter Mann war ähnlich, wie die beiden ersten. Nur das er sich vorher Mut angetrunken

hatte, bevor er mich schlug. Und er trank täglich. Bis seine Leber eines Tages versagte. Dann traf ich ihn. Ich hielt Abstand, weil ich angst hatte, er wäre genau so, wie die anderen. Als ich ihn eines Tages auf sein Alter ansprach – er hatte sich als zwanzig ausgegeben, obwohl er viel älter war und auch viel älter aussah – wurde er barsch und meinte das ich weder ein Ton über sein Gewicht, noch über sein Alter verlieren dürfe. In diesen Punkte habe er sich nun mal affig. In einem anderem Gespräch erwähnte er: „Ich sehe das Elend jeden Tag. Ich muss nicht ständig daran erinnert werden, das ich verfalle. Ich will nicht daran denken müssen, das

ich eines Tages wieder so hilfsbedürftig bin, wie ein Baby. Und ich denke automatisch daran, wenn jemand mein Alter erwähnt. Das ich schon lange keine zwanzig mehr bin, weiß ich selbst. Ich fühl mich aber noch so jung, wie damals.“ Ich verlor nie wieder ein Wort darüber. Man könnte meinen, das er ein schlechter Kerl war. Aber das stimmt nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Er schenkte mir die schönsten Jahre meines Lebens. Meinen ersten richtigen Geburtstag hatte ich mit ihm gefeiert. Wir gingen essen, schauten uns einen Film meiner Wahl an, danach gingen wir zum Tanzen. Hinterher fragte ich ihn, was ich für ihn tun

könnte, um mich für den schönsten Geburtstag zu bedanken, den mir je jemand gemacht hat. Er wollte nichts davon hören. „Es ist dein Geburtstag, du wolltest ihn feiern, heute wird nur das gemacht, was dir Freude bereitet.“ Ich wollte ihm am Abend zeigen, wie sehr ich mich gefreut habe. Doch ich war so geschafft, das ich, kaum das ich im Bett lag, tief und fest eingeschlafen war. Jeder Tag mit ihm, war wie ein Geschenk. Bis zu seinem ersten Wutausbruch. Er kam aus dem Nichts. Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht. Damals hatte ich gedacht, das ich irgendwas damit zu tun hätte. Das ich irgendwas gesagt oder getan habe; so wie

sonst auch immer. Erst als die Wutausbrüche immer häufiger wurden, wusste ich, das etwas mit ihm nicht stimmte. Der Arzt bestätigte es mir später. Es war eingetreten, wovor er so große Angst gehabt hatte. Eine Weile pflegte ich ihn zu Hause. Aber das ging nicht gut. Gezwungenermaßen musste ich ihn in ein Pflegeheim geben. Die Momente, wo er bei klaren Verstand war, verbrachten wir mit tiefsinnigen Gesprächen und weinen. Einmal hatte er gesagt, das er froh sei, das wir keine Kinder hätten, damit sie nicht zusehen müssten, wie ihr Vater vor die Hunde geht und es ihm sehr leid täte, das ich es sehen muss. Ich bedankte

mich, für die Zeit, die ich mit ihm verbringen durfte. Die schönste Zeit meines ganzen Lebens. Es ging rasant abwärts. Am Ende hatte er nicht mehr gewusst, wer ich bin. Er hatte mich nicht erkannt. Es tat im Herzen weh. Es gab eine Zeit vor ihm und es gibt eine Zeit nach ihm. Am Schönsten war die Zeit mit ihm. Sein Grab ist schlicht. So hatte er es gewollt. Auf dem Holzkreuz steht nur sein Name. Kein Geburtstag, kein Todestag. So hätte er es gewollt.

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