Journalismus & Glosse
1700 Jahre jüdisches Leben - Kein Grund zum Schulterklopfen

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"Im Text wird knapp versucht aufzugreifen weshalb trotz des Festjahrs noch Vieles zu tun ist"
Veröffentlicht am 28. Februar 2021, 10 Seiten
Kategorie Journalismus & Glosse
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Die Pflicht des Menschen ist seine stetige Vervollkommnung. Ich versuche dies jeden Tag ein klein bisschen, zumindest wenn es durch Bücher geschieht.
Im Text wird knapp versucht aufzugreifen weshalb trotz des Festjahrs noch Vieles zu tun ist

1700 Jahre jüdisches Leben - Kein Grund zum Schulterklopfen

Seit Jahresbeginn läuft das aktuelle Jubiläumsjahr, welches im Zeichen der ersten urkundlichen Erwähnung von Juden auf dem Gebiet, was heute Deutschland ist, steht. Aber für die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft ist das kein uneingeschränktes Festjahr – im Gegenteil! Es gibt noch eine ganze Menge anzupacken. Ich will den Versuch unternehmen, im Folgenden ein paar Dinge aufzuzählen, damit es kein stumpfes Abgekulte wird.

Fangen wir mal damit an, dass wir keinen Glitter über die Geschichte streuen. Wenn von unseren christlich-jüdischen Wurzeln gesprochen wird, dann ist das nicht unproblematisch. Man muss sich nämlich von dem Gedanken eines gemeinsamen Miteinanders von Juden und Christen in deutschen Territorien in einer verklärten Form verabschieden. Vielmehr ist die Geschichte der Juden, auch in Mitteleuropa, in vielen Epochen davon geprägt,

dass diese neben den christlichen Menschen leben aber eine Verschränkung gibt es damit nicht automatisch. Juden sind eine religiöse Minderheit in Zeiten, in denen die Bedeutung von Minderheitenrechten längst nicht so ausgeprägt war wie heutzutage.

Das Christentum erhebt für sich den Anspruch, den „alten Bund“ (der Bund zwischen Gott mit dem Volk Israel) abgelöst zu haben, also nunmehr die von Gott Auserwählten zu sein. Das Christentum grenzt sich also scharf von seiner Mutterreligion, dem Judentum, ab. Diese religiöse Abgrenzung zeigt aber in der Wirklichkeit reale Konsequenzen. Zunächst ist es die, auch wenn es zynisch klingt, Kultivierung einer Judenfeindlichkeit seit den Anfängen des Christentums. Populär die Lüge, die Juden hätten Jesus getötet, die beispielweise in Passionsspielen auch in heutiger Zeit am Leben erhalten wird, ohne sich kritisch damit auseinanderzusetzen. Die Judenfeindschaft ist

schon älter als das Christentum. Pogrome gegen jüdische Gemeinschaften fanden schon vor der Zeit statt. Diese Ab- und Ausgrenzung nimmt gerade deshalb politische Gestalt an, da es die Christen sind, die die Herrscher und die Mehrheit der Gesellschaft stellen und die Juden somit zu deren Spielball werden, die die Regeln nicht gleichberechtigt verhandeln dürfen. So durften Juden nicht in Handwerkszünfte aufgenommen werden, was aber Voraussetzung dafür war, um ein Handwerk in einer Kommune ausüben zu dürfen. Insofern verblieben ihnen nur „freie Berufe“, die heute auch noch gesetzlich so eingestuft werden, wie Rechtsanwälte oder Ärzte. Auch der Beruf des Geldverleihers war ihnen nicht verschlossen, anders als Christen aufgrund des Zinsverbots, welches nach päpstlicher Weisung für Juden nicht galt. Zudem mussten Juden im Hochmittelalter regional besondere Kleidung als Erkennungszeichen tragen, wie spitze Hüte oder

gelbe Ringe. Somit sollten sie erkennbar sein und die Vermischung mit Christen verhindert werden.

Der besondere Minderheitenstatus und der gesellschaftlich verankerte Judenhass machten Juden auch immer zu besonders geeigneten Sündenböcken. Als die Pest in Europa wütete beschuldigte man Juden, sie hätten die Brunnen vergiftet. Dies ist der Ursprung des antijüdischen Stereotyps vom Brunnenvergifter. Starb ein Kind unter mysteriösen Umständen, beschuldigte man die ortsansässige jüdische Gemeinde, am Kind verbotene Riten durchgeführt zu haben, was dann in der gewaltsamen Vertreibung gipfelte. Hostienfrevel wurde den Juden auch gerne vorgeworfen. Um ein konkretes Beispiel zu benennen wurde der Hofjude Lippold in Brandenburg, Aufseher über die märkischen Juden, beschuldigt den Tod des Landesfürsten Joachim II. herbeigeführt zu

haben. Lippold wurde hingerichtet und alle Juden aus der Mark Brandenburg vom Nachfolger Joachims „auf alle Zeiten“ verbannt. 1671 erlaubte dann Friedrich Wilhelm wieder die Ansiedelung von zunächst 50 jüdischen Familien in der Mark Brandenburg. Allein dieses Beispiel zeigt das fragile Verhältnis zur herrschenden Mehrheitsgesellschaft, welches immer wieder gelöst und erneuert werden konnte, was aber nicht in der Macht der jüdischen Bevölkerung lag.

Natürlich ist die Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland nicht nur eine Geschichte des Leidens, sondern auch immer wieder von großen kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen geprägt. Allein was die Familie Mendelsohn in Philosophie und Musik zu Wege gebracht hat, ist überragend. Auch wurde auf deutschem Boden das Reformjudentum wesentlich geprägt bzw. „erfunden“. Auch der bedeutende

Kommentator Schlomo ben Jizchak, genannt „Raschi“ wirkte in Mainz und Worms.

Als Nächstes muss man in heutiger Zeit feststellen, dass jüdisches Leben immer noch nichts Selbstverständliches in Deutschland ist, obwohl das Grundgesetz in Art. 4 Abs. 1 und 2 Religions- und Gewissensfreiheit garantiert. Synagogen brauchen Polizeischutz, jüdische Schulen sind mit hohen Zäunen und Überwachungskameras versehen. Allein jüdische Schulen sind keine Einrichtungen, die dafür da sind, dass jüdische Kinder und Jugendliche neben dem Besuch ihrer Schule mehr über ihre Religion lernen. Oft kommen Kinder an diese Schule, da sie vor den Peinigern auf ihren Schulen flüchten, da antisemitische Akte von den Schulen nicht sanktioniert werden. Nicht die Täter, sondern die Opfer weichen an Orte aus, an denen sie Juden sein können, was sie außerhalb dieser geschützten Räume nicht sein

können. An Chanukkah (dem Lichterfest) sieht man in den Fenstern z.B. keine Chanukkah-Leuchter aus Angst vor der Sichtbarkeit jüdischen Lebens und der Gefahr, die davon ausgeht, sich zu erkennen zu geben. Auch wird man an Türen jüdischer Familien keine Mesusa sehen, eine traditionelle kleine Schriftkapsel, denn auch dann würde man sich zu erkennen geben und davor haben Juden in Deutschland Angst. Beim Anschlag auf die Synagoge in Halle an Jom Kippur war zu wenig Polizei vor Ort. Angeblich wusste die Polizei gar nicht, dass an dem Tag ein hoher jüdischer Feiertag war.

Jüdisches Leben existiert in Deutschland, aber es wird von der Mehrheitsgesellschaft mit Ignoranz gestraft und Unterstützung oder ein Dialog findet selten statt. Nach Anschlägen wie in Halle stellt man sich hin, sagt, dass so etwas nie wieder geschehen darf und dann geht es wie

vorher weiter, bis zum nächsten Mal. Und die Erkenntnis, dass eine unreflektierte Kritik an Handlungen oder Äußerungen einzelner Politiker der Regierung von Israel, die dann auf alle Juden ausgeweitet wird, Antisemitismus ist, hat sich in der deutschen Medienlandschaft auch noch nicht herumgesprochen. Juden in Deutschland sind keine Vertreter des Landes Israel in Deutschland, sondern beispielsweise Deutsche, die sich über eine mangelhafte Elektrifizierung des Autoverkehrs aufregen, genauso wie Lieschen Müller.

Es gäbe jetzt noch eine ganze Menge mehr aufzuzählen, wie den grassierenden Antisemitismus in deutschen Fußballstadien, wo „Du Jude!“ zum Standardrepertoire von Beleidigungen der Gegner, des Schiedsrichters oder wem auch immer gehört. Oder auch, dass im Schnitt 25% der Bevölkerung aktuell antisemiten Thesen zustimmt, weshalb es nicht

verwundert, dass in vielen Landesparlamenten und auch im Bundestag mit der AfD eine antisemitische Partei sitzt.

Das Festjahr muss also bewirken, dass die Mehrheitsgesellschaft nicht nur feiert, dass es trotz allem jüdisches Leben in Deutschland gibt, sondern sie muss dafür dankbar und demütig sein. Vor allem muss dafür gesorgt werden, dass es in Deutschland völlig normal ist, dass jüdisches Leben sich offen und ohne Angst im Alltag zeigt und wir damit unverkrampft und ohne Vorurteile herangehen. Es ist zu wünschen, dass das Festjahr dazu etwas beitragen kann.


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RogerWright
Die Pflicht des Menschen ist seine stetige Vervollkommnung. Ich versuche dies jeden Tag ein klein bisschen, zumindest wenn es durch Bücher geschieht.

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Brubeckfan Hallo Roger,
ja es könnte doch so einfach sein: Man glaube was einem gut tut, streng oder schwach oder gar nichts, und lasse die anderen in Ruhe. Doch manche brauchen immer wieder diese Erzählungen über die bösen Feinde, keine Ahnung warum. Die Gerüchte der QOnanierer heutzutage wiederholen ja auch uralte Beschuldigungen aus antisemitischer Tradition.

Und natürlich ist eine Kritik gegen Merkel, Putin, Netanjahu kein Verdammen DER Deutschen, Russen oder Juden. Gruslig wird es andererseits, wenn man für Kritik am Expansionsdrang Orthodoxer ("dort liegen nämlich unsere Ahnen begraben") um die Ohren gehauen bekommt, man wolle wieder die Verbrennungsöfen.

Daß jüdische Einrichtungen des Polizeischutzes, der Zäune und Sicherheitszonen bedürfen, ist verständlich aber oberpeinlich. Wie schön, daß wir immer mal demokratisch auf die Lage von Minderheiten anderswo weisen können, nicht?

Ach, wir sind immer noch bei der Analyse. Wie kommen wir weiter? Wohl nur durch menschliche Begegnung.

Wertvoller Text jedenfalls.
Viele Grüße,
Gerd
Vor langer Zeit - Antworten
cassandra2010 
Tendenziell gebe ich dir recht, 1000 Jahre Judentum auf deutschem Boden sind zwar eine beeindruckend lange Zeit, aber diese war in vielen Jahren geprägt durch Hass auf die jüdischen Mitmenschen, Vorurteile, etwa, die Juden äßen Kinder und andere Idiotien mehr. Harry Heine, der große deutsche Dichter des 19. Jahrhunderts, der sich als Kosmopoliten empfand und im französischen Exil dennoch Sehnsucht nach der deutschen Sprache verspürte, wäre seiner Mutter zufolge am besten katholischer Theologe geworden. Heine hat sich 1825 protestantisch taufen lassen, um in den Staatsdienst treten zu können. Er bemühte sich gerade um eine Professur an der Münchner Universität, als ein Lustspiel seines Feindes Platen erschien, in dem dieser Heine u.a. bezeichnete als „den herrlichen Petrark des Lauberhüttenfestes“ (Heines Freund Immermann hatte Heine in einer Rezension mit Petrarca verglichen), zudem unterstellte er ihm „Synagogenstolz“ und dichtete ihm, antisemitische Klischees bedienend, „Knoblauchsgeruch“ an.

Deutschland war im 19. wie 20 Jahrhundert keine wahre Heimat für Deutsche jüdischen Glaubens, der Antisemitismus war meilenweit von dem entfernt, was Lessing in seinem Ideendrama „Nathan der Weise“ diesen in der berühmten Ringparabel schlussfolgern lässt:„Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach!“ An dieser erweist sich für den Aufklärer Lessing nämlich der Wert der drei monotheistischen Religionen und die Größe des menschlichen Herzens.. Aber der humanistische Kerngedanke fiel und fällt gerade in unserem Lande nicht bzw. zu oft nicht auf fruchtbaren Boden...

Shalom
Cassy

PS: In einer offiziellen Würdigung zu seinem 100. Todestag am 17. Februar 1956 verlautbarte die Bundesregierung: "Dieser Mann hat so vieles geschrieben, was man, von welchem Standpunkt auch immer, unmöglich billigen kann, dass es in der Tat Schwierigkeiten bereitet, vor den Augen der uns gerade jetzt ironisch aufmerksam betrachtenden Welt das allzu Abscheuliche taktvoll zu übersehen und das Großartige und Schöne um so lauter zu loben."
Der Mief der Adenauer-Ära zeigt sich, dass A. als Chef des Kanzleramtes einen Globke zuließ, immerhin Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze. Im Wilhelmstraßen-Prozess sagte er als Zeuge der Anklage gegen den dort angeklagten Stuckart aus und erklärte in diesem Zusammenhang, gewusst zu haben, „dass die Juden massenweise umgebracht wurden.“ Er habe „zu jener Zeit“ gewusst, dass „die Ausrottung der Juden systematisch betrieben wurde“, wenngleich, gab er einschränkend an, „nicht, dass sie sich auf alle Juden bezog.“
Vor langer Zeit - Antworten
RogerWright Anekdotische Beispiele gibt es genug. Die Zeit der Jahrhundertwende zum 19.Jh ist da sehr dicht. Bis 1806 eine Vielzahl offener jüdischer Häuser (Levin, Herz, Levy,...) und ab der napoleonischen Eroberung mit Fichte der erstarkende Deutschnationalismus, der von vornherein antijüdisch war. Heine, der mal äußerte, dass die Taufe zum Christentum das "Eintrittsbillet" in die deutsche Gesellschaft sei, hatte damit im Ergebnis Unrecht, was Vielen später schmerzlich klar wurde.

Vor langer Zeit - Antworten
cassandra2010 
... wobei ich meinen Harry gut genug kenne, um den Sarkasmus des Begriffes Entreebillet in seinem Sinne zu verstehen.
Vor langer Zeit - Antworten
Poesiefluegel Hallo Roger,
ich finde auch es ist ein wichtiges Thema. Allerdings sehe ich dies bezüglich aller Minderheiten. In jedem Glauben, in jedem Menschen gibt es Gutes und Schlechtes.
Aus deinen Zeilen lese ich besonders viel Schmerz und stellenweise Wut. Wut auf die Christen. Wut auf Deutschland. Das ist nicht gut.
Ich bin nicht religiös. Daher denke ich, dass ich distanziert auf das Ganze blicken kann.
Vielen ist der Unterschied zwischen Moschee und Synagoge nicht bekannt bzw den Religionen. Das macht es komplizierter für den deutschen Juden.
Allerdings denke ich auch, dass Absperrungen, Stacheldraht etc...eher provozierend wirken.
Jeder sollte , so lange er friedvoll ist, seinem Glauben nachgehen können.
Gruß Grit
Vor langer Zeit - Antworten
RogerWright Danke für den Kommentar, auf den ich kurz eingehen möchte.

1. Ja, da ist auch Wut dabei, aber wie sollte man denn nicht auch in der aktuellen Situation durchaus sauer sein? Es geht hier nicht um Wut auf Christen oder Deutschland. Auf Letzteres kann man ja nicht wütend sein. Und unsere Gesellschaft besteht ja nicht nur aus Christen. Aber in den historischen Beispielen sind es in Mitteleuropa nun einmal Christen, die gegen Juden vorgingen.

2. Ich denke nicht, dass du den Betroffenen vorwerfen willst, dass die sich gegenüber einer feindlichen Umwelt absichern. Dass es erforderlich ist, zeigen u.a. verschiedene Anschläge auf Synagogen in den letzten Jahren. Und es gibt auch Initiativen, die für Begegnungen sorgen wie "Meet a Jew".

3. Man muss nicht religiös sein um beispielsweise zu verstehen, dass man einen Juden in Deutschland nicht vorwerfen kann, was ein Politiker in Israel macht. Ebensowenig muss man schwarz sein, um zu verstehen, dass man das N-Wort nicht benutzen darf.

Viele Grüße
Vor langer Zeit - Antworten
DoktorSeltsam Ein kluger Text, dem ich ohne Einschränkungen zustimme. Das im Jahre 2021 nach Christi Geburt immer noch Menschen, insbesondere aber deutsche Menschen, ihre antisemitischen Narrative pflegen, ist schier unglaublich. Und dass es Bundesländer gibt, in denen eine offen rassistische Partei um die 20 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen erhält, ist mehr, als ich jemals befürchtet hatte.
Beste Grüße,
Dok
Vor langer Zeit - Antworten
Gast Danke für das Lob.

Dass es so ist verwundert leider nicht so sehr, wenn man sich die Entwicklungen der letzten Jahre betrachtet. Und selbst wenn die AfD weg ist, geht das Problem nicht weg.

Zeitgemäßes Gedenken wird da auch noch wichtig werden, gerade weil die letzten Zeitzeugen des Holocaust in absehbarer Zeit verstorben sein werden.
Vor langer Zeit - Antworten
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