Der verwaiste Sarg
oder
Auf den Spuren der Marie Scholz zum Ich
Meine Freundin Marie war ein zauberhaftes, aber schüchternes Mädchen. So oder ähnlich hatte ich noch vor einer Woche meine Trauerrede begonnen. Heute würde ich es nicht mehr sagen. Alles was ich über Marie glaubte zu wissen, war in Frage gestellt.Das Mädchen und ich waren von Kindheit an befreundet. Seit der 3. Klasse gingen wir auf dieselbe Schule. Als kleines Kind hatte sie goldene Haare, die ihr engelhaftes Gesicht einrahmten. Jedem, der sie sah, kam der Gedanke, sie sei nicht von dieser Welt. Irgendwie stimmte das auch. Sie kam aus Ungarn. Sonderbar still war Marie. Ich dagegen das hässliche Entlein, eher etwas kräftig, rothaarig,
sommersprossig, aber nicht so keck wie Püppi Langstrumpf, eben Ida.Es war die Musik, die uns verbannt.Jeden Dienstag und Donnerstag erprobten wir unser Können, wetteiferten mit unseren schiefen Tönen. Sie mit demFagott, ich mit der Querflöte. Von 1. Tag an, an dem das blonde Mädchen unsere Schule betrat, gehörten wir der ansässigen Straßenclique an. Unsere Gang traf sich jeden Tag im Hinterhof der Wichert Straße 42. Eine Wohnanlage gebaut noch vor dem 2. Weltkrieg. Die Fassaden waren trist und grau. In der Mitte des Hofes gab es ein Blumenrondell. Ausgelassen spielten wir Einkriegezeck, turnten, zum Ärgernis der Anwohner auf der Teppichklopfstange. Ich erinnere mich, als wäre es erst heute gewesen, es war einer der ersten Frühlingstage, dieSonne schien, als unsere Gruppe beschloss uns
die Zeit mitKlingelstreich zu vertreiben. Unser Opfer sollte die dicke, alte Frau Strohbach werden. Sie war wahrlich ein wandelndes Fass, wohnte Pattere und hatte stets die Vorhänge zugezogen. Natürlich klingelte der Chef unserer Bande. Sofort rannten wir alle hinter das Gebüsch gegenüber der Tür. Alle bis auf Marie. Sie blieb einfach stehen. Stand da wie gebannt. Starrte auf die geschlossenen Vorhänge. Was war nur in sie gefahren? Wir riefen nach meiner Freundin, doch sie reagierte nicht. Knarrend ging die Tür der Strohbachen auf. Fragend schaute die Alte auf Mariechen. Da kniete sich unser Engel hin und begann zu weinen. Die gute Frau versuchte den Tränenfluss zu ergründen. Als sie sich keinen Rat mehr wusste, schlurfte sie in die Wohnung und kam mit einem riesigen Lutscher heraus. Streicht
dem Mädchen über das Haupt und reichte ihr die Süßigkeit. Sofort grinste das Kind bis über beide Ohren, stand auf und lief an uns vorbei die Straße hinunter. Wir klingelten nie wieder bei der Alten. Samstags gingen wir gemeinsam zum Bäcker Brötchen für das Sonntagsfrühstück zu kaufen. Mit hochrotem Kopf stammelte ich herunter, was ich bringen sollte, immer 6 Brötchen bitte. Für mich war jeden Sonnabend Premiere. Marie legte nur stumm ihren Zettel auf den Tresen. Die Verkäuferin sah sie immer mitleidig an. Vielleicht dachte sie, Mariechen könne nicht sprechen. Zum Schluss gab die Bäckerin ihr immer eine Schnecke mitZuckerstreusel drauf. Diese ließen wir uns vor dem Laden munden, wobei meine Freundin nur die Streusel aß.
Über die Jahre hinweg war Marie im
Fagottspielen eine wahre Meisterin geworden, so dass es keinen verwunderte als sie zum Musikstudium zugelassen wurde. Von da trennten sich unsere Wege. Sie zog nach Weimar in eine Studenten – WG. Ich ging zur Polizei, erhielt eine kleine Neubauwohnung mit Küche undDurchreiche.Während Marie eine steile musikalische Karriere hinlegte, schlug ich mich zur Kriminalpolizei durch. Meine Freundin und ich sahen uns immer seltener. Jeder war irgendwie in seiner Welt gefangen.Als wir uns das letzte Mal begegneten, hätte ich sie fast nicht wiedererkannt. Sie war schon immer dünn, doch jetzt war sie Haut und Knochen. Ihre blonde Pracht war einem schwarzem Etwas gewichen. Das Schlimmste war, dass sie verwahrlost wirkte. Sie, die immer die Frau von Welt war. Ich spürte, etwas nicht stimmte.
Lud sie in ein Spabad ein. Als wir entspannt in derFangopackunglagen, fragte ich was mit ihr passiert sei. Sie wich mir aus. Es wird wieder, das war alles was sie erwiderte.In den Monaten danach schickte sie mir Karten von der ganzen Welt. Nirgends war ein Absender verzeichnet. Ich wollte mich bei ihr bedanken, ihre warme Stimme hören. Doch egal wann ich versuchte sie zu erreichen, ihr Telefon war aus. Zunehmend eindringlichere Nachrichten hinterließ ich auf ihrem Anrufbeantworter. Nachts schreckte ich manchmal schweißgebadet hoch, glaubte das Telefon zu hören. Die Angst, dass ihr etwas zugestoßen war, wurde immer größer. Ich recherchierte nach ihrer Agentur. Diese teilte mit, dass sie den Vertrag gecancelt hätte. Gehört hatten sie nichts. Ich beschloss nun auf dem
Dienstweg nach ihr zu suchen. Egal wie ich den Computer fütterte, es gab keinen Eintrag von einer Marie Scholz. In keinem Melderegister des Landes. Auch ihre Eltern waren unbekannt verzogen. Der Kartenfluss war versiegt. Öfter träumte ich sie sei ertrunken, erhängt oder brannte. Sie rief nach Hilfe. Und ich konnte nicht zu ihr. Was sie sagte verstand ich nicht, vielmehr ich begriff es nicht. Was meinte Marie? Ich hätte nur sehen müssen. Wo war sie? Dann plötzlich klingelte mitten in der Nacht das Telefon. Ich brauchte einige Sekunden bis ich begriff, dass es real war. Endlich! Die Freude währte nur eine oder zwei Sekunden, bis ich hörte, aber nicht verstand, was mir die Stimme am Apparat sagte, Marie sei tot. Nicht verschollen, nicht krank, tot. Tot! Nebel waberte in meine Wohnung. Verkrampft
hielt ich den Hörer noch in der Hand, als Maries Mutter bereits das Gespräch beendet hatte. Wage erinnerte ich mich am nächsten Morgen, dass ich zugesagt hatte an der Trauerfeier in 2 Wochen teilzunehmen.
14 Tage später flog ich über das Mittelmeer nach Rhodos. Als ich aus dem Flieger stieg, kam mir eine Hitze entgegen. Ich zitterte. Das Taxi brachte mich die wenigen Kilometer vom Airport zur Heiligen – Kreuz – Kapelle. Davor standen nur drei Personen. Was ungewöhnlich anmutet, fanden sich doch immer Touristen dort ein.Schweigend umarmte ich die beiden alten Leute. Maries Mutter war noch immer eine adrette Person. Ihr Vater dagegen sah genauso blass wie ich aus. Er stand wackelig auf einen Gehstock gestützt. Neben ihnen stand derPriester. Er trat an
mich heran, ….die Eltern hätten den Wusch, dass ich ein paar Worte sage.Wie hypnotisiert folgte ich ihm in die Kapelle. Auf einer Steinplatte lag der geschlossene Sarg. Ich stellte mich neben ihn, stützte mich halb drauf, als könnte meine Freundin mir Kraft geben. Mit schwankender Stimme erzählte ich von Marie. Meine Freundin Marie war ein zauberhaftes….Ich weiß nicht, wie lange und was ich sprach, als sich wohl einen Schatten an der Pforte der Kapelle sah. Vielleicht lag es nur an meiner verschwommenen Sicht? Als ich erneut hinschaute war die Tür eindeutig zu. Doch irgendetwas Weißes sah ich auf dem Gang liegen. Es zog mich magisch an. Die Worte versiegten, wie in Trance lief mein Körper auf diesen hellen Fleck zu. Meine Hand hob ihn auf. Noch heute, eine Woche danach läuft mir ein kalter
Schauer über den Rücken. Es konnte nur ein übler, sehr böser Scherz sein, es durfte nicht wahr sein! In roten Buchstaben brannten die Worte :“Mein Beileid. Nichts ist wie es scheint. Finden Sie Marie diesesRabenaas!”Fassungslos starte ich die Schrift an. Das durfte nicht sein! Doch der Zweifel hatte schon seinen Fuß erhoben. Maries Eltern hielten sich an den Händen, schauten bang zu mir herüber. Als der Totengräber an den Sarg trat, hallte ein ohrenzerberstender Schrei durch die Halle. Ich stürzte auf ihn zu. “ Öffnen Sie den Sarg! Ich muss Marie sehen!” Verdutzt schaute mich der Priester an, trat neben mich, legte seine Hand auf meine Schulter. “Bitte!” sagte ich leiser aber eindringlich.Keiner der Anwesenden sprach. Der Totengräber öffnete den Sarg – er war leer.
VoRWORT DER ANDEREN ART
Zum Verständnis, dies ist mein Beitrag zur Schreibpartie 88.
Zugleich ist dies nur der Anfang eines Schreibprojektes. Durch die Wortspielerei hat sich bei mir eine Idee manifestiert, welche ich nicht in nur ein paar Zeilen bündeln kann. Trotzdem dachte ich, es wäre interessant, wie ihr meinen bisherigen Entwurf findet. Also immer her mit Kritik. Eigentlich schreibe ich ja Gedichte. Somit ist das quasi fast mein Erstling.
Ich musste ganz schön kürzen, damit es auf die Seitenzahl passt.