Ich denke oft an dich - Marie
SP 88 - Hauptbeitrag
Vorgaben: Sonne, Rabenaas, Priester, Fagott, Durchreiche, Klingelstreich, Zuckerstreusel, Fangopackung.
Ich denke oft an dich - Marie
Meine Freundin Marie war ein zauberhaftes, aber schüchternes Mädchen. Wir kannten uns aus der Schule. Sie erzählte mir gern von ihren Träumen, einmal die Welt zu bereisen, von einem Ort zum anderen zu tingeln und sich einfach davonzu- stehlen.
Jahre später, unser Kontakt war nach meiner Hochzeit abgerissen, erfuhr ich, dass sie in die Großstadt gezogen und
dort in Bahnhofsnähe abgestiegen sei. Dem Gerede nach arbeitete Marie offiziell in einem Sonnenstudio, aber
ihre Haupteinnahmen erzielte sie als Prostituierte. Für mich war das völlig abwegig. Mir kamen Sätze zu Ohren, wie: "Sie verdiene sich an der Durchreiche der Gefühle, sei wohl so eine Art Fangopackung für die Seele."
Das war vollkommen absurd und jeder, der dermaßen abfällig von ihr redete, war in meinen Augen ein Rabenaas, welches sich auf ihre Kosten wichtig zu machen versuchte.
Nein, in meiner Erinnerung war Marie ein Mensch, bei dem man nicht nur kurz einen Klingelstreich machte, sondern ganz im Gegenteil, jeder wollte sie kennenlernen.
Marie, der Zuckerstreusel auf dem Kuchen, ist und bleibt für mich etwas Besonderes. Sie wäre in einem Orchester zwar nicht die Oboe, die den Ton angibt, aber das zauberhafte Fagott, welches die Zuhörer begeistert. Und nun sollte sie für einen Zuhälter anschaffen? Meine Freundin würde nie als Angebetete mit ihrem Auserwählten von einem Priester getraut? Unvorstellbar!
Nun hat sie sich also wirklich einfach davongestohlen, dachte ich auch, als ich eines Tages zu ihrer Beisetzung gebeten wurde. Einer der Geladenen meinte zu mir: "Sie wird gerade noch einmal aufgebahrt, um ihr Lebewohl
zu sagen. Wer möchte, kann sie jetzt ein letztes Mal sehen." Ich nickte und folgte ihm schweren Herzens in die Kapelle. Wir standen an der Bahre. Keiner der Anwesenden sprach. Der Totengräber öffnete den Sarg - er war leer.