Meine Freundin Marie war ein zauberhaftes, aber schüchternes Mädchen.
Mit einem zarten, aber ehrlichem Lächeln ging sie auf jeden Menschen zu ohne aufdringlich zu wirken. Sie war eine außergewöhnliche Schönheit mit einer tollen Figur und ausdrucksvollen Augen. Ihr guter Ruf und der ihrer Familie waren weithin bekannt. Kein Wunder, dass alle Burschen unserer Clique hinter ihr her waren. Besonders Phil, dieses Rabenaas wollte sie unbedingt auf seine Speisekarte setzen, doch gegen mich hatte er einfach keine Chance. Ausgerechnet Phil, der bei jedem Wanderpokal, der durch die Durchreiche kam, sofort zugriff. Ich denke da nur an Liz
oder Pam. Auch die Frauen unseres Dorfes betrachteten Marie mit Wohlwollen, denn sie unterstützte ehrenamtlich einige soziale Projekte. Ihr ruhiges Wesen und ihre Hilfsbereitschaft wurden überall geschätzt. Ihr schulterlanges, rotblondes Haar glänzte golden im Sonnenlicht, wenn sie leichtfüßig wie ein junges Reh über den Dorfplatz ging. Wie ich die frechen Sommersprossen liebte, die sich wie Zuckerstreusel über ihr ganzes Gesicht verteilt hatten.
Marie war eines der Mädchen, die schon während der Schulzeit der Lehrerin die Schularbeitshefte der ganzen Klasse nachhause tragen durften, während sich andere noch mit Klingelstreichen die Zeit
vertrieben.
Ja, das war meine Marie – das Mädchen mit dem Fagott. Die Musik war ihre große Leidenschaft und bei einem Konzert hatten wir uns einst auch kennen gelernt. Lang, lang ist es her. Doch was soll das? Warum bekomme ich dieses Mädchen plötzlich nicht mehr aus dem Kopf? Vorbei ist vorbei, versuche ich mir einzureden , während ich lustlos durch den Wald schlendere. Allein macht alles nur halb soviel Spaß.
Noch ist es Winter und die Bäume tragen keine Blätter. Kahl und leer, grau in grau.
Genauso sind auch meine Gedanken im Moment. In einer kleinen Mulde suhlen sich Wildschweine im Schlamm. Ich halte kurz inne, um nicht zu stören. Wie ich sie beneide. Eine Fangopackung wäre jetzt nicht zu verachten und würde mir sicherlich gut tun, doch ich bin meilenweit von jeglicher Zivilisation entfernt und langsam wird mir kalt.
Instinktiv beschleunige ich meine Schritte und summe leise eine bekannte Melodie. Doch habe ich mich wirklich um Maries Glück bemüht oder war ich nur auf mein eigenes Wohlergehen bedacht gewesen?
Marie zog jedenfalls ihre Konsequenzen.
Von einem Tag auf den anderen war sie für
mich nicht mehr zu erreichen, reagierte nicht auf meine Anrufe und wechselte blitzschnell die Straßenseite, wenn wir uns zufällig irgendwo begegneten. Das hat meinem Selbstvertrauen einen gewaltigen Schlag versetzt und schmerzt noch immer höllisch. Vielleicht lag es auch an meinem kleinen Sprachfehler. Ich kann einfach nicht „Ja“ sagen, besonders in Anwesenheit eines Priesters ist mir das eine Unmöglichkeit.
Es war aber auch für uns alle eine schwere Zeit. Dieses verdammte Virus aus dem Osten bescherte uns eine Pandemie und trachtete uns nach dem Leben. Corona beherrschte die Welt. Homeoffice, lockdown, dashboard, unser Englisch wurde immer besser, leider unser
Leben immer mehr eingeschränkt. Neue Tierarten, wie der Babyelefant trabten durch unsere Wohnzimmer und wir rannten maskiert durch die Gegend. Das war auch schon das einzige Zugeständnis an den Fasching, der fünften Jahreszeit. Unser aller Leben spielte sich zwischen Küche und Wohnzimmer ab, ab und zu ein Ausflug ins Bad um die Hände zu waschen. Keine Familientreffen, keine Konzerte, keine Partys, ja nicht einmal Gottesdienste waren erlaubt. Strenge Ausgangssperren rund um die Uhr, die auch kontrolliert wurden. Wir versuchten natürlich etwas kreativ zu sein, doch Marie hielt sich streng an die Ausgangsbeschränkungen. Eines Tages erfuhr ich rein zufällig, dass zu Begräbnissen fünfzig Personen kommen
dürften, natürlich alle nur mit Maske, aber immerhin. Das war die Lösung für unsere sozialen Kontakte, die wir alle schon so vermissten. Sofort liefen die Handys heiß. Es war der Fasching, der ja längst schon tot, natürlich unverzüglich zu Grabe getragen werden musste. Ein alter Brauch, der uns jetzt gerade recht kam. Es galt viel zu organisieren. Alkohol in rauhen Mengen, natürlich nur zur Desinfektion, kleine Häppchen gegen das Hungergefühl und das Wichtigste einen möglichst großen Sarg für den Transport, den die sechs stärksten Burschen übernehmen wollten. Als Totengräber wurde einstimmig Phil gewählt. Seine Trinkstärke hatte er ja schon oft unter Beweis gestellt. Sogar Marie war diesmal dabei, mit gesenkten Augen und
blassem Gesicht folgte sie dem Treiben. Es war das letzte Mal, dass sie mit mir sprach.
Hinter dem alten Waldfriedhof gibt es ein kleines Jagdhaus, das im Winter meist leer steht. Gut geeignet für einen Leichenschmaus. Eine Idee, die Zustimmung fand.
Wir schritten zur Tat und stapften mühsam durch den frischen Schnee. Endlich geschafft.
Keiner der Anwesenden sprach. Der Totengräber öffnete den Sarg – er war leer.