Vorwort
Jurybeitrag zur Schreibparty 88 mit den folgenden vorgegeben Sätzen:
Anfang -> Meine Freundin Marie war ein zauberhaftes, aber schüchternes Mädchen.
Ende -> Keiner der Anwesenden sprach. Der Totengräber öffnete den Sarg - er war leer.
Vorgabewörter: Sonne, Rabenaas, Priester, Fagott, Durchreiche, Klingelstreich, Zuckerstreusel, Fangopackung
Kuno
Meine Freundin Marie war ein zauberhaftes, aber schüchternes Mädchen. Zumindest dachten das die Anderen. Süß sah sie aus, mit ihren blond gelockten Haaren und den geblümten Kleidchen in zarten Pastelltönen. Ein kleiner Engel. Ich war das komplette Gegenteil. Ein großer, schmächtiger, schmuddeliger Junge. Die einzige Hose war mittlerweile ziemlich zerschlissen und aufgrund meines roten Haarschopfs war ich oft Mittelpunkt des Gespötts meiner Mitschüler. Ich weiß nicht, warum, aber Marie war vom ersten Tag an meine Freundin. Sie, aus gutem
Haus, plötzlich in unserer kleinen Stadt, an meiner Schule. Sie musste wohl irgendetwas in mir gesehen haben. Ich hinterfragte das nicht weiter und nahm es dankbar hin, ihr Freund sein zu dürfen. So waren die Hänseleien in der Schule nur noch halb so schlimm. Marie war stets an meiner Seite. Gemeinsam heckten wir einiges aus: Klingelstreiche bei den wenigen Häusern der Wohlhabenden oder das Stibitzen von Zuckerstreuseln aus der Vorratskammer des kleinen Lebensmittelgeschäfts. Auch unser Lehrer, der Herr Priester, blieb nicht verschont. Marie malte ordinäre Bilder von ihm und der Witwe Huber an die Tafel, während ich draußen Schmiere
stand.
An diesem Tag wurde ich nach vorne zitiert. Mit dem Rohrstock in der Hand und zornesrotem Gesicht stand der Pfaffe vor der Tafel. Gerne hielt ich für meine Freundin den Kopf hin, denn ich war es gewohnt immer angeschuldigt zu werden. Meine Hände zierten mittlerweile schon so einige Narben von den harten Schlägen. So verließ ich also mit gesenktem Kopf, aber stolz, meinen Platz Richtung Lehrerpult. Doch Heinrich, dieses Rabenaas, konnte nicht seinen Rand halten und verpfiff doch tatsächlich Marie bei Herrn Schwarz. Mir fielen vor Schreck fast die Augen aus dem Kopf -
und nicht nur mir. Die halbe Klasse
starrte ungläubig Marie an. Ich konnte dem Priester seine Unschlüssigkeit, wie er nun weiter verfahren sollte, ansehen. War doch allgemein bekannt, wie großzügig Maries Eltern diese Schule finanziell unterstützten. An diesem Tag sah ich Marie das letzte Mal.
Marie
Ständig wurde ich in diese albernen Kleider gesteckt und hatte süß und höflich zu sein. Wie ich das hasste. Meine Mutter war stets darauf bedacht mich zu korrigieren. In ihren Augen war ich eine Strafe Gottes. Meine Strafe hingegen kam einmal in der Woche in Form von Herrn Vogt zu uns. Er sollte mich lehren das Fagott zu spielen. Missmutig saß ich an diesen Tagen im Speisezimmer und spielte lustlos die gewünschten Stücke. Der Herr Musiklehrer schritt dann immer hinter mir auf und ab, während meine Mutter schweigend am Tisch saß und ihren Tee
aus dem feinen Porzellan trank. Oft genug trafen mich dabei ihre missbilligenden Blicke.
In diesen Momenten wünschte ich mir häufig, die Durchreiche würde sich wie ein riesiges Maul öffnen und die Frau Mama einfach verschlingen. Der Umzug und die neue Schule waren mein Glück. Gleich am ersten Tag lernte ich Kuno kennen. Der große, etwas schmuddelige Junge mit dem feuerroten Haar war mein Ticket in die Freiheit. Ich freundete mich mit ihm an, denn so konnte ich endlich allen möglichen Unfug anstellen und niemand kam auf die Idee, die süße Marie dafür zu belangen. Der Junge hatte ein gutes Herz und tat mir fast schon
Leid. Irgendwie mochte ich ihn. Diesen Morgen ging die Sonne blutrot auf. Zusammen mit Kuno und den anderen Kindern betrat ich das Klassenzimmer. An der Tafel prangte mein gestriges Kunstwerk. Stolz betrachtete ich die Details. Ja, zeichnen, das konnte ich ganz gut. Natürlich war Herr Schwarz erzürnt und Kuno sofort im Verdacht. Wieder einmal war ich davon gekommen, dachte ich und atmete erleichtert auf. Doch ich hatte mich zu früh gefreut. Das wurde mir bewusst, als ich Heinrichs Stimme hörte. Aber was sollte das schon für Konsequenzen haben?
Der Priester würde mich wohl kaum bestrafen, geschweige denn zuhause
verpfeifen. Schließlich steckte einiges vom Vermögen meiner Eltern in diesem Gemäuer von Schule. Zuhause in meinem Zimmer war ich erleichtert und froh, dass neben mir auch Kuno dieses Mal ungeschoren davon gekommen war. Während meine Mutter versuchte, ihre Schönheit mit einer neumodischen Fangopackung zu konservieren, läutete die Türglocke. Ich eilte zu meinem Fenster und erblickte den Pfarrer. Einen Moment lang blieb mein Herz vor Schreck stehen.
Er unterhielt sich mit meinem Vater und ihren Bewegungen nach zu urteilen, war es wohl ein hitziges Gespräch. Mir wurde ganz mulmig. Mein ungutes Gefühl
bestätigte sich kurze Zeit später beim Abendessen. Mutter schwieg, starrte mich aber mit einem enttäuschten Blick an. Vater richtete das Wort an mich, was noch nicht sehr oft vorgekommen ist. Normalerweise nahm er mich die meiste Zeit in Schutz und verzieh mir allerhand Unfug. Dieses Mal jedoch, sagte er, wäre ich zu weit gegangen. So ein unzüchtiges Verhalten gehöre nicht in diese Familie. Am folgenden Tag erwartete mich eine Oberin im Speisezimmer. Dies war der letzte Tag in meinem Elternhaus.
Kuno
Einige Wochen nach dem Vorfall in der Schule ging das Gerücht um, aus der Familie Jung sei jemand verstorben, eine junge Frau. Marie? Ihre Schwester Hilde? Ich konnte es nicht glauben.
Ich musste es mit eigenen Augen sehen und so schlich ich mich am Tag des Begräbnisses zum Friedhof. Der Himmel war tiefgrau und feiner Nieselregen benetzte die Trauerschar. Von meinem Versteck aus, sah ich die Familie, Maries Familie. Ihre Eltern, die nicht besonders traurig wirkten und ihre, in Tränen aufgelöste, Schwester. Es war sonderbar still.
Die Sargträger diskutierten gedämpft mit dem Totengräber. Das Holz sei ungewöhnlich leicht zu tragen gewesen. Der Pfarrer winkte ungehalten mit der Hand: Keiner der Anwesenden sprach. Der Totengräber öffnete den Sarg – er war leer.
© MR 29.01.2021