MArie
"Meine Freundin Marie war ein zauberhaftes, aber schüchternes Mädchen.“
Ich verdrückte ein paar Tränchen.
Mein Assistent Peter Mahlberg nickte betrübt. "Sie war schon eine tolle Biene, Herr Professor, auch wenn es stimmt, ich meine es natürlich auch im übertragenen Sinne."
"Schon gut Pete. Dann will ich mal mit der Grabpredigt anfangen."
Der Saal war brechend voll. Vom ganzen Institut hatten sich die wissenschaftlichen Mitarbeiter eingefunden, um Marie zu verabschieden.
Sie alle wollten der Schlussrede des
Professors Habedank lauschen.
Ich erklomm also unter Beifall das Rednerpult, räusperte mich und legte mein Skript zurecht.
„Schon immer wollte Mensch forschen, ergründen, aber der beste Techniker auf unserem Planeten ist und bleibt die Natur.“ Beifall.
"Wir haben uns in Lüfte erhoben und Geschwindigkeiten mit Flugzeugen erreicht, die jede Vorstellungskraft sprengen. Wir haben Geräte erschaffen, die schneller als der Schall, schneller als eine Gewehrkugel sind. Damit haben wir die Natur übertroffen.
Aber…“
Ich ließ eine tragende Pause folgen.
"Trotz aller Bemühungen sind Drohnen hingegen relativ groß, laut, nicht ganz einfach
zu lenken und fallen auf. Hier ist uns die Natur weit voraus.
Vom Kolibri bis zur Libelle finden wir in der Natur Flugkünstler, die nicht nur hinsichtlich der Flugsteuerung, sondern auch in der Reaktionszeit unsere technischen Möglichkeiten um ein Vielfaches übertreffen. Wir sind nicht in der Lage eine ähnliche Flügelsteuerung mit entsprechender Leistungsfähigkeit zu entwickeln.“
Ich nahm ein Schluck Wasser aus dem vorbereiteten Glas.
„Schon oft hat der Mensch sich der Tiere bedient. Von Pharmaversuchen mit Tieren mal abgesehen, brachten wir die ersten Geschöpfe ins Weltall. Es waren Laika, dann Belka und Strelka. Während Laika jämmerlich
kurz nach dem Start an Stress und vor allen an Überhitzung starb, überlebten die beiden anderen Hund unbeschadet.
Wir beschlossen schließlich Tiere nicht auszunutzen, sondern sich deren Fähigkeiten zu bedienen. Das erwies sich als wesentlich effizienter.
Was braucht man also um eine Minidrohne zu steuern? Ein Gehirn zur Steuerung, also einen Computer. Dazu benötigt man also entsprechende Sensoren, die auf gewisse Ereignisse reagieren und es beim Flugapparat umzusetzen. Ebenfalls Programmiertechnisch, sowie mechanisch äußerst aufwendig.
So entstand die Idee, dass man sich nur der bereits vorhandenen Fähigkeiten bedienen braucht.
Unter dem Arbeitstitel Flux621 führten wir eine Machbarkeitsanalyse durch.
Logisch, dass wir auf die Biene kamen. Sie ist klein und ihre Flugeigenschaften sind sensationell. Sie ist unglaublich wendig und reaktionsschnell. Aber nicht nur das: Sie verfügt außerdem über ein exzellentes, eingebautes, vorhersehbares und analytisches Navi. Eine Eigenschaft, die andere Fluginsekten nicht haben.
Sie müssen sich vorstellen: Als Taxifahrer fahren sie auf Umwegen in einer unbekannten Stadt vom Flughafen zum Hotel und auf dem Rückweg finden sie automatisch die kürzeste Strecke. Und dieser Weg wird auch noch abgespeichert.
Das alles kann sie in einem Mini-Gehirn
verarbeiten.
Erst als das Militär großzügige Geldmittel bereitstellte, waren wir in der Lage Flux621 Wirklichkeit werden zu lassen.
Um das Ziel zu erreichen, waren fast alle Abteilungen unseres Instituts eingebunden, wie die Nanobiologen, Computertechniker, die Leute vom Duftlabor, denn auch dieser Duft spielt bei der Orientierung eine Rolle.
Hunderte von Versuchen schlugen fehl oder waren zumindest nicht befriedigend.
Marie war es, die wir als erste Biene soweit unter Kontrolle bringen konnten sie zu steuern“, rief ich.
"Bravo, Professor Habedank“, schallte es. „Der Nobelpreis ist ihnen gewiss“, intonierte ein Anderer. Alles ging im tosenden Applaus
unter.
Ich fuhr fort, als es wieder ruhig wurde.
„Nun ist die erste ferngesteuerte Biene tot und wir trauern.“
Eine andächtige Pause schien mir angebracht.
„Und zum Gedenken will ich ein wenig auf ihr außerordentliches Leben eingehen.
Nach dem Schlupf wurde sie operiert. Vielen Dank nochmals an das OP-Team, das eine Art Fangopackung konstruierte, um absolute Fixierung während der Nano-Operation zu erreichen. Auch den Anästhesisten gebührt großes Lob.
Nach der Erholung, gut versorgt mit Nahrung, klebten wir einen Funksensor auf ihren Rücken.
Um die Tests möglichst nicht zu verfälschen,
arbeiteten wir mit Pinzette und einer Durchreiche, die auch als Schleuse fungierte. Wie wir aus vorausgehenden Doktorarbeiten wissen, funktioniert eine gewisse Konditionierung bei Bienen. Dr. Sandra Zimmermann arbeitete mit ihren Irokesen-Bienen, so genannt wegen wegen des Plastikplättchens zwischen den Fühlern. Wurden der Geruch Minze auf der einen Seite des Plastikplättchens gepustet, gab es, wenn die Biene die Richtung änderte, eine Zuckerbelohnung. Das merkte sich die Biene. Sie flog dann immer nach rechts. Wir haben diesen Weg einfach weiter beschritten, allerdings mit anderem Ansatz. Wir mussten direkt das Gehirn beeinflussen. Das Stecknadelgroße Gehirn ist dem
menschlichen ziemlich ähnlich, natürlich nur auf neuronaler Ebene. Wir boten ihr immer aufgelöste Zuckerstreusel als Belohnung an, wenn sie etwas richtig gemacht hatte. So gelang es uns Gehirnimpulse teilweise zu entschlüsseln. Allerdings ging es nicht ohne einem Nanochip, der Impulse in das Gehirn abgab. Hier muss ich die außerordentliche Leistung von Dr. Feinbein hervorheben.“
Applaus.
„Ein Sinnesorgan machte uns Schwierigkeiten, nämlich der Schall. Bienen haben keine Ohrmembran, keine Ohren, aber sie nehmen Schallschwingungen über die Vibration des Untergrundes auf dem sie Stehen durch Härchen wahr. Dieses Subgenual-Sinnesorgan sitzt bei allen Insekten in den
Knien der sechs Beine. Wir konnten das mit einem Ton nachweisen, das ein Baumblatt in Schwingung versetzte. Marie ruhte sich darauf gerade aus. Da unser sehr geehrter Herr Nussbaum gerne Fagott spielt, nahmen wir dieses Instrument als Geräuscherzeuger her. Die tiefen Töne eigenen sich dabei besonders. Marie reagierte. Im Flug sind Bienen praktisch taub. Ganz so ist es aber nicht, denn auch der Luftzug wird wahrgenommen. Auch im Flug reagierte Marie also auf unser Fagott. Wir waren aus dem Häuschen.
Wir hatten so viel Erfolg mit Marie, dass wir sie praktisch in unser Herz schlossen, quasi wie unser Baby.
Das Sehen über die Facettenaugen bereitete hingegen weniger Schwierigkeiten, weil die
vielen Ommatiden, also die lichtempfindlichen Stabsensoren, sich gut mit einem Binärcode verrechnen lassen und daher über unseren hineinoperierten Chip übersetzbar war. Mit einer künstlichen Sonne simulierten wir Orientierung, in dem wir dann die Stromimpulse durch die Ommatiden kalibrierten.
Mit Marie ist uns ein unglaublicher Durchbruch in der Forschung gelungen. Aber dies ist erst der Anfang. Wenn wir uns zum Beispiel dem Schwarmverhalten zuwenden, dann sind ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Auch hier dürfen wir auf reichliche Fördermittel durch das Militär hoffen.
Das bringt mich nun zu einem Punkt, den ich nicht unerwähnt lassen kann. Marie fand einen
gewaltsamen Tod. Das Militär, das Rabenaas– Verzeihung, aber Marie war praktisch unsere Freundin - , bestand auf einen Luftkampf mit einer Wespe. Wir versuchten in unserem Steuerstand alles, um Marie zu retten. Einige Ausweichmanöver gelangen sogar, aber schlussendlich siegte die Wespe. Wir sind eben noch nicht so weit mit naturoptimierten Feinden auf eine Ebene zu gelangen.
Die Offiziellen wollten uns jetzt einen Priester, einen Militärseelsorger schicken. Ich lehnte dankend ab, weil mich eine gewisse Wut überkam. Für mich wirkte dies wie ein Klingelstreich. Erst ein Klingeln auslösen, nämlich den Luftkampf, sich dann verstecken und zum Schluss Reue mithilfe eines Priesters. Von Schuld keine Rede.“
Ich holte tief Luft.
„Nun wollen wir unserer Marie gedenken, sie in bester Erinnerung behalten. Möge Gott sich ihrer kleinen, großen Seele annehmen. Ich bitte um eine Gedenkminute.“
Alle standen auf.
Danach winkte ich Dr. Koenig, der sich so rührend um die Nahrung und Versorgung von Marie gekümmert hatte. „Wollen sie den Totengräber mimen?“
Koenig nickte traurig und ging zum winzigen Sarg auf dem Podest neben meinem Rednerpult.
„Ich habe für sie eine Überraschung bereit“, zwinkerte ich ihm zu. „Es war eine Idee unseres Teams“.
Keiner der Anwesenden sprach. Der
Totengräber öffnete den Sarg - er war leer."
Nachtrag und Tipp an die Leser.
Sie können Marie zukünftig, in Harz gegossen, im deutschen technischen Museum in München bewundern, Abteilung Geschichte der Luftfahrt.