Titel
Wenn mich nicht alles täuscht, mussten es eineinhalb Jahre her gewesen sein, als ich sie das erste Mal gesehen hatte. Immer wieder hatte ich daran denken müssen, wie sie da saß und geweint hatte. Und jedes Mal hatte ich mich selbst gefragt, warum ich nicht zu ihr gegangen war und ihr wenigstens ein sauberes Taschentuch angeboten hatte. Das Bild verfolgte mich. Das ich nicht der Einzige war, der kein Mitgefühl zeigte, war mir kein Trost.
Ich sah sie immer mal wieder. Oft hatte sie mich angelächelt. Und ich? Meine Gesichtsmuskeln regten sich kein Stück,
obwohl ich es eigentlich wollte. Irgendwann hatte sie aufgehört, mich anzulächeln.
Damals war es Sommer gewesen. Ein paar Monate später, durch Zufall, sah ich sie im Internet mit ihrem neuen Freund, der so gar nicht zu ihr passte und ich erfuhr, das sie seit einiger Zeit auf der Straße lebte, den Drogen nicht abgeneigt war und von irgendjemand aus ihrer Clique um Geld betrogen worden war.
Ich stellte mir vor, was gewesen wäre, wenn ich damals zu ihr gegangen wäre, tröstend eine Hand auf ihre Schultern gelegt, ihr ein sauberes Taschentuch hingehalten und sie nach dem Grund des Weinens gefragt hätte. So vieles ist
möglich. Sie hätte sich mir anvertraut, mich ignoriert, mich nach meiner Schicht abholen können, oder, oder oder. Manchmal frage ich mich, wie ihr Leben und meines verlaufen wäre, wenn ich mir damals etwas Zeit für sie genommen hätte.
Nach Erlebnissen, wie diesen, frage ich mich, ob alles vorherbestimmt ist. Mein Geist war willig, mein Fleisch nicht hörig. Im Kopf stellte ich mir hin und wieder ein Gespräch mir ihr vor, aber wenn sie dann mal vor mir stand, kam kein Wort über meine Lippen und ich lächelte nicht zurück, obwohl ich es mir so fest vorgenommen hatte.
Eineinhalb Jahre später war es Winter,
kalt und feucht. Weihnachten war vorbei und Corona immer noch aktuell. Die ganze Zeit hatte ich darauf gewartet sie wieder zu sehen. Weniger, weil ich Sehnsucht nach ihr hatte, sondern um ihr endlich mal ein freundliches Lächeln zu schenken und zu fragen, ob sie die Flasche Glühwein haben möchte, die mir mein Arbeitgeber zu Weihnachten geschenkt hatte. Ich war drei Jahre trocken und wollte es weiterhin bleiben. Da ich sie des Öfteren habe trinken sehen, dachte ich mir, es wäre eine nette Geste von mir. So als eine Art Entschuldigung, weil ich nicht so nett zu ihr gewesen war, wie sie zu mir.
Dann kam der erhoffte Tag. Sie kam mit
ihrem Freund und alles war, wie bisher. In meinem Gesicht, trotz Anstrengung, keine Regung. Kein Lächeln, kein freundlich Wort. Ich blieb neutral und Wortkarg. Bediente sie, wie jeden anderen. Wenigsten blieb ich auf Augenhöhe und sah sich nicht von oben herab an, wie die meisten meiner Kollegen.
Dennoch bleibt die Frage, warum ich nicht in die Tat umsetzen konnte, was ich mir so fest hatte vorgenommen. Alles vorherbestimmt? Werden wir gelenkt? Hätte sie sich über die Geste gefreut? Hätte sie sie angenommen? Ich werde es nie erfahren.