Kapitel 1.1
„Hurra, 33 Jahre alt“, dachte Johann Winter, als er sich im Badezimmerspiegel beim Zähneputzen betrachtete – wie jeden Morgen. Es war Freitag, andere Menschen hätte das besonders gefreut, weil diese dann ihren Ehrentag über das ganze Wochenende verteilt gefeiert hätten. Ja, andere Menschen, Menschen, die eine Beziehung, die Freunde hatten. Das alles ging Johann ab. Seine letzte Beziehung hatte er vor…keine Ahnung. Er war sich nicht einmal sicher, ob man das, was er bisher gehabt hatte überhaupt so bezeichnen konnte. Was war das eigentlich, eine Beziehung? Wie lange
musste man mit einem anderen Menschen zusammen sein, damit es als Beziehung gelten konnte? Während er die Zahnpasta ausspuckte wischte er all diese Fragen zur Seite. Alles viel zu kompliziert für einen Freitagmorgen. Wichtig war, dass er mehrere gekühlte Flaschen Bier im Kühlschrank hatte und ein Netflix-Abo.
Nachdem er sich angezogen hatte ging er in die Küche. Seine Mutter hatte ihm ein kleines Bild von einer Torte geschickt mit einer Kerze darauf. Die hatte sie selbst gemacht und ihm fotografiert. Am Wochenende zu den Eltern und dort ein wenig feiern. Zum Glück nicht mit einer Benjamin-Blümchen-Torte mit dem
Hinweis darauf, dass die ihm als Kind so gut geschmeckt hatte. Dieses Ritual hatte er seiner Mutter vor drei Jahren abgewöhnen können.
Ein paar Cornflakes mit Milch gegessen, auf das Rad geschwungen und los ging es zu seinem Arbeitsplatz, dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur in Bonn. Ein Bürojob, fast wie jeder andere, außer dass man in den letzten Jahren praktisch immer im Auge des Shitstorms saß. Johann war einer der Mitarbeiter für die Öffentlichkeitsarbeit. Das bedeutete insbesondere, seitdem Andreas Scheuer der Chef war, jeden Tag sarkastische
Witze in sozialen Netzwerken durchzusehen und den Kampf gegen Windmühlen anzutreten, in der Hoffnung irgendjemanden davon überzeugen zu können, dass hinter allem ein Plan stand. Dies wurde dadurch erschwert, dass er und viele Kollegen ebenfalls nicht daran glaubten. Es war, als würde man als Bordellbesitzer am Sonntag in der Kirche für den Zölibat einstehen.
„Winter is coming!“, rief ein Kollege, als er die Büroräume betrat. Ja, der Witz wurde nie schal, zumindest nicht für die anderen.
„Ah, John Schnee!“, rief sein
Vorgesetzter Müller und stellte sich ihm in den Weg. Johann war sich in diesen Momenten nie sicher, ob Müller tatsächlich nicht wusste wie er hieß oder ob das auch witzig gemeint war. „Hallo, Herr Müller“, antwortete Johann wenig begeistert. Wenn Müller zu einem kam, dann war das nie erfreulich, da Müller seit gefühlt 100 Jahren in dieser Behörde arbeitete und den gepflegten Herrenwitz, entgegen #MeToo und Jahrzehnten des Feminismus immer noch für nicht aus der Zeit gefallen hielt. „Gucken Sie mal nicht so griesgrämig aus der Wäsche an Ihrem Geburtstag. In Ihrem Alter hatte ich zu der Uhrzeit, wenn ich Geburtstag hatte, schon mindestens ein Bier
verhaftet!“ Johann sog ein wenig Büroluft ein und war sich sicher, das galt nicht nur damals für Müller und auch nicht nur für dessen eigenen Geburtstag. „Zuerst einmal persönliche Grüße vom Chef, aus der Küche.“
Müller reichte ihm eine kleine Karte. Ein kleiner Bildschirm war in diese eingelassen und als Johann sie öffnete, erschien das Gesicht des Verkehrsministers. „Servus und Grüß Gott, lieber hier bitte Namen einfügen. Zu deinem bitte Alter angeben wünsche ich Alles Gute. Sie sind ein wichtiges Mitglied unseres Teams, machen Sie weiter so. Herzlichst Andi Scheuer.“ Ja, diese Karte erhielten immer alle
Mitarbeiter, aber normalerweise versuchte dann jemand, mit einem schlechten bayerischen Dialekt die Leerstellen in der Nachricht zu füllen.
„Ja, äh…danke?“ „Das war noch nicht alles! Kommen Sie mit!“, rief Müller begeistert und klopfte ihm mit einer seiner prankenartigen Hände, die behaart waren, dass man sie für kleine Tiere halten konnte, auf den Rücken, dass Johann befürchtete seine Lunge zu verlieren.
Müller führte in ihn zum Fahrstuhl und drückte den untersten Knopf. „Chef, wo geht es denn jetzt hin? Ich arbeite doch gar nicht im Keller…“ Stimmten die Gerüchte von wilden Fetischpartys im
Keller? Oder hatte Müller da unten ein Alkohollager aufgebaut? Man munkelte Vieles über diesen Ort. „Das weiß ich doch! Ist ja nicht so, als würde ich meine Leute nicht kennen.“ Wusste er Johanns Namen eigentlich? „Ich führe Sie ein in eine ganz spezielle Welt – in unser Techniklabor!“, rief er aus und warf die Arme nach oben, sodass die tellergroßen Schweißflecken zum Vorschein kamen und der intensive Geruch von Moschusdeodorant. So roch beruflicher Erfolg in den 50er Jahren.