In dem Moment als sich ihre Lippen berührten, schien die Welt aufzuhören sich zu drehen. Der Raum verschwand. Die eng aneinander gedrängten, tanzenden Menschen lösten sich auf. Die laute, hämmernde Musik verblasste und der Geruch von fremdem Schweiss und Hitze wich dem Duft des jeweils anderen.
Als die beiden erwachten, fanden sie sich in einem rechteckigen, fensterlosen Raum wieder. Beide lagen an entgegengestetzten Seiten. Der Raum war kahl und kühl. Künstliches, flackerndes Licht erhellte den Raum.
Sie öffnete die Augen zuerst, sah sich benommen um, registrierte die geschlossene Tür, liess ihren Blick suchend durch den leeren Raum gleiten. Ihr Blick blieb an ihm haften. Sie sah wie er die Augen öffnete und beobachtete ihn, als er wie sie zuvor den Raum erfasste. «Weisst du, wo wir sind?», fragte sie ihn. «Nein», antwortete er. Er strich sich mit der Hand durch die Haare und zog sein Bein an um sich aufzusetzen. Ein Rasseln ging durch den Raum. Er blickte auf sein Bein und seine Augen weiteten sich. «Da ist eine Kette! Ich bin angekettet!», gab er von sich. Erst jetzt bemerkte sie das kühle Metall an ihrem Fussgelenk: «Ich auch!» Sie
schreckte zurück und fühlte sogleich die kalte Mauer an ihrem Rücken. Sie legte ihre Hände, flach neben sich auf den Boden, verlagerte ihr Gewicht darauf um ihre Sitzposition zu verbessern und fühlte, wie sich etwas an ihrem rechten Handgelenk in ihr Fleisch drückte. Eine Handschelle. An ihrer Hand baumelte eine Handschelle und daran war etwas Kleineres befestigt; ein kleiner, silberner Schlüssel. «Ein Schlüssel!», rief sie erleichtert, «Ich habe einen Schlüssel!» Sie nahm den Schlüssel eilig und versuchte, die Handschellen zu öffnen, doch sie erreichte mit dem Schlüssel das Schloss nicht. «Warum sollte der Schlüssel für die Handschellen sein?»,
hörte sie ihn von der gegenüberliegenden Seite spotten. «Was weiss ich?», zischte sie verlegen zurück. Sie blickte sich suchend um, während er dasass und ins Leere zu starren schien. Ihr Blick blieb an der Kette, die neben ihr lag haften. Sie griff nach der Kette und liess sie durch ihre Hände gleiten, folgte ihrem Verlauf, bis sie an eine grosse eiserne Öse neben sich an der Wand stiess, in der das letzte Glied der Kette fest verankert war. Sie wechselte die Richtung, liess die Kette wieder durch ihre Hände gleiten, bis sie ihren Knöchel erreichte. Um ihren Knöchel war eng eine eiserne Schnalle gelegt. Die Schnalle wurde fest verschlossen durch ein grosses Schloss.
Sie Griff nach dem Schloss und packte den Schlüssel, der immer noch an ihrem Handgelenk hing. Der Schlüssel glitt in das Schloss und ihre Erleichterung erfüllte schlagartig den Raum. Sie drehte den Schlüssel um. Nichts geschah. Die Erleichterung verschwand so schnell wie sie gekommen war. Der Schlüssel liess sich nicht drehen. Das Schloss blieb versiegelt. Sie liess das Schloss los und flüsterte: «Der Schlüssel passt nicht» Sie blickte auf, er sah immer noch ins Leere. «Hast du gehört? Er passt nicht!» «Ich habe dich gehört», antwortete er. Sie überlegte, sah zur Tür: «Vielleicht ist der Schlüssel für die Tür!» Sie stand auf und lief auf die Tür zu. Ein, zwei, drei, vier
Schritte. Dann spannte sich die Kette. Die Tür war noch weit weg. «Ich komm nicht ran» Sie drehte sich um, er sass noch immer an die Wand gelehnt da. Sie musterte ihn. Sie sah das Schloss an seinem Knöchel, die Handschellen an seinem Handgelenk und den kleinen silbernen Schlüssel, der daran tanzte. «Versuch deinen Schlüssel!», rief sie. Er blickte auf seine Hand, als ob der den Schlüssel eben erst bemerkte, griff danach und führte ihn in das Schloss ein. Der Schlüssel glitt ins Schlüsselloch, doch drehen liess er sich nicht. Während sie wieder zurück zu ihrem Ausgangsort ging, rief sie ihm zu: «Versuch, ob du es bis zur Tür schaffst» Er stand auf, ging
einen Schritt, spürte das Gewicht der Kette, blickte an sich herunter und sagte: «Da ist eine Kette, ich kann nicht» Er setzte sich wieder hin, ihr gegenüber an die Wand, wie zuvor.
So sassen sie eine Weile schweigend in dem leeren Raum. Sie spielte mit dem Schlüssel an ihrem Handgelenk, betrachtete ihn ausgiebig von allen Seiten. Es war ein ganz gewöhnlicher, kleiner Schlüssel mit Zähnchen, wie man es gewohnt ist. Der Schlüssel war blitzblank. Nichts weiter als ein Schlüssel, auf dem eine kleine, zarte «1» graviert war. Dann wendete sie sich dem Schloss zu. Sie begutachtete es von allen
Seiten. Es war ein sehr stabiles Schloss, unmöglich von Hand aufzustemmen. Sie liess ihren Zeigefinger über das Schlüsselloch gleiten und entdeckte darunter eine kleine gravierte «2». Sie kniff ihre Augen zusammen und durchbrach die Stille des Raumes: «Warum habe ich Schlüssel 1 aber Schloss 2?» Sie überlegte kurz und sagte dann zu ihm: «Welche Zahlen stehen auf deinem Schlüssel und Schloss?» Er untersuchte seinen Schlüssel und das Schloss und erwiderte dann: «Ich habe Schlüssel 2 und Schloss 1» «Das ist es!», rief sie, «Du hast meinen Schlüssel und ich deinen! Wir müssen die Schlüssel tauschen. Schnell, versuch ihn von
deiner Handschelle zu lösen und dann werfen wir sie uns gegenseitig zu» Während sie ihm das zurief, griff sie bereits nach ihrem Schlüssel und versuchte, ihn von der Handschelle zu lösen. Der Schlüssel hing an einem geschlossenen Ring, der durch die leere, verschlossene Handschelle gezogen war. Sie riss und schüttelte daran, rieb den Ring über den Boden in der Hoffnung, sie könnte ihn dadurch durchschleifen, untersuchte, ob die Kette zwischen den Handschellen eine Schwachstelle hatte. Der Schlüssel blieb wo er war. «Das geht so nicht», hörte sie ihn nach einigen Minuten sagen. «Aber es ist die Lösung, ich bin mir sicher. Mein Schlüssel befreit
dich und dein Schlüssel befreit mich», gab sie zurück. «Das kannst du nicht wissen», erwiderte er. «Nein, aber ich spüre es. Es muss eine Lösung geben»
Sie blickte auf: «Unsere Ketten!» «Was ist damit?» «Sie reichen nicht bis zur Tür, aber sie reichen vielleicht bis zur Mitte des Raumes! Dann können wir das Schloss des jeweils anderen lösen und sind frei!» Sie richtete sich auf und schritt schnell in die Mitte des Raumes – ein, zwei, drei, vier Schritte, die Kette spannte sich, aber sie war fast in der Mitte des Raumes. «Siehst du? Das ist es, das ist die Lösung! Du musst nur aufstehen und die Hälfte des Weges durch den Raum gehen!»
«Aber ich bin angekettet»
«Ich weiss, ich ja auch, aber siehst du, hier stehe ich, fast in der Mitte des Raumes und wenn du zu mir kommst, dann sind wir frei. Bitte, du bist meine Freiheit! Komm her und wir öffnen unsere Ketten und dann gehen wir gemeinsam durch die Tür»«Die Kette reicht nicht bis zur Raummitte», antwortete er und blickte dabei auf seine Kette.«Nein, nicht ganz, aber wenn wir beide so weit gehen wie wir können, dann können wir uns gegenseitig helfen und die Ketten ablegen. Dann gehen wir durch die Tür. Bitte!»«Du weisst nicht, was hinter der Tür ist, oder ob sie überhaupt aufgeht. Vielleicht ist sie
verschlossen und wir haben keinen Schlüssel dafür»«Sie ist bestimmt nicht verschlossen. Du wirst sehen, sie wird sich öffnen. Ich verspreche es dir auch. Jetzt komm, bitte!»
«Selbst wenn die Türe sich öffnet, was ist, wenn mir das, was dahinter ist nicht gefällt?», er sah ihr jetzt in die Augen. Sie stand da im Raum, zitterte leicht, was die gespannte Kette an ihrem Fussgelenk leise rasseln liess. Er sah ihre Verzweiflung in ihr Aufsteigen.
«Die Kette reicht nicht so weit»Er blickte auf und nickte leicht.
Sie warf sich mit aller Kraft gegen ihre Kette. Die Kette bewegte sich keinen
Millimeter. Sie riss daran, ging noch einmal zurück zur Wand und versuchte, die Öse darin zu lockern. Sie versuchte jedes einzelne Kettenglied einzeln auseinander zu ziehen – sieh suchte nach dem schwächsten Glied. Da war keines. Ihre Hände waren wund, ihre Nägel eingerissen. Sie ging zurück zur Raummitte und wurde von der Kette an der genau gleichen Stelle aufgehalten wie zuvor.
«Die Kette ist zu stark, du bist nicht näher als vorher»Tränen liefen über ihr Gesicht: «Bitte, es gibt einen Ausweg für uns beide. Denk daran wie frei wir waren als wir getanzt haben. So frei können wir wieder sein. Du musst nur
herkommen»«Das Tanzen war nur ein Moment, alles an dem Abend war nur ein Moment. Das hier und jetzt ist das was zählt und die Kette, sie ist das hier und jetzt», erwiderte er trocken.«Ein Schritt näher und du kommst zu mir, das hast du mir versprochen», sagte sie.«Aber du bist nicht näher gekommen», antwortete er.Sie blickte auf ihr Fussgelenk, entlang der Kette, zur Öse an der Wand. «Einen Schritt, nur einen Schritt», dachte sie.
Sie schloss die Augen und warf sich noch einmal mit aller Kraft gegen ihre Fessel. Sie zog und zerrte. Sie griff nach der Kette, versuchte sich mit ihrem ganzen Körpergewicht dagegen zu
stemmen. Als sie die Schmerzen in ihren blutenden Händen nicht mehr ertrug, liess sie die Kette los und stemmte sich weiter dagegen. Sie stöhnte auf vor Schmerz als sich das Metall der Schnalle immer fester in ihren Knöchel drückte.
Das Knacken ihres brechenden Knöchels fuhr durch ihren ganzen Körper. Dem Knacken folgte der Schmerz, dunkel und tief wie eine Welle, die über ihr zusammenbrach und sie verschluckte. Die Spannung wich aus ihrem Körper. Sie stand noch immer an demselben Platz wie zuvor. Wie eingefroren blickte sie auf ihren schmerzenden Fuss. Sah den etwas unnatürlichen Winkel ihres Fusses,
sah das Blut an ihm herunterfliessen und die nun zwar blutverschmierte, aber immer noch fest sitzende, silberne Schnalle an ihrem Knöchel. Der Schock hinderte sie daran, ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen.«Du hast dich verletzt», hörte sie ihn sagen und sah zu ihm auf, «aber näher bist du deswegen trotzdem nicht gekommen. Was hat es dir also gebracht, dich so zu verletzen?»
Sie blickte ihn an, sich selbst fragend, ob er das alles wirklich ernst meinen konnte. Sie realisierte, dass er nicht auf sie zukommen würde - niemals. Sie verstand, dass sie ihre Kette nicht ablegen konnte, da er seine nicht ablegen
wollte. Sie sah ihn noch einmal an, er sass unverändert da, sah sie an und sie konnte seinen Blick nicht deuten. Langsam drehte sie sich um und ging Schritt für Schritt schwer humpelnd zurück an ihre Wand. Sie legte eine Hand an die Wand und liess sich zu Boden sinken. Mit angezogenen Knien sass sie nun da, vor sich die Wand, hinter sich ihre unerreichbare Freiheit.
Er stand auf und blickte auf ihren Rücken. Er streckte seine Hand aus, als ob er sie berühren wollte. Er strich durch die Luft, als ob er über ihr Haar streichen würde und sagte: «Wo bist du hin? Du bist doch meine Freiheit»«Und
du bist meine», antwortete sie, ohne den Blick von der Wand abzuwenden, die sich vor ihr aufbäumte.
Er hob seinen Fuss und machte einen Schritt auf sie zu. Die schwere Kette rasselte über den Boden und leistete trägen Widerstand. Er blieb im Schritt stehen und blickte auf seinen angeketteten Fuss:
«Da ist eine Kette»
«Ich weiss», sagte sie und vergrub ihr Gesicht zwischen ihren Knien und Armen.