Kaum hatte ich die Tür geöffnet, fiel sie mir um den Hals, drückte mich in meine Wohnung und knallte die Tür mit ihrem Fuß zu. Ich war völlig perplex und wusste nicht, wie mir geschah. Leise hörte ich sie weinen und ich drückte sie fest an mich. Ließ sie spüren, das ich da bin. Das ich für sie da bin. Wie viel Zeit war vergangen, als ich sie das letzte mal gesehen hatte? Ihre Ansichtskarte prangte immer noch an meinem Kühlschrank. Oft stand ich davor und träumte mich zu ihr. Besonders dann, wenn ich einen beschissenen Tag hinter mich hatte. „Greetings“, mehr hatte sie
nicht geschrieben. Dennoch sagte es mehr, als tausend Worte. Ganz fest hielt ich sie umschlungen. Ließ zu, das sie mein Shirt mit ihren Tränen durchnässte. In das Gefühl der Freude, sie zu sehen, mischte sich ein bitterer Beigeschmack. Unter meinen Fingern spürte ich, das sie leicht zitterte. Sanft schob ich sie zu meinem Bettsofa und setzte sie sachte ab. Dann reichte ich ihr ein Taschentuch. Erst jetzt sah ich ihr geschundenes Gesicht. Der bittere Geschmack verschärfte sich. Ich kochte Tee. Was Besseres fiel mir in dem Moment nicht ein. Einfach so dasitze, war mir zu wenig und jedes Wort wäre zu viel
gewesen. Allmählich kam sie zur Ruhe und berichtete mir, das sie getrampt war, weil sie nicht mehr genug Geld hatte. Sie hatte interessante Bekanntschaften gemacht und hatte dadurch jegliches Misstrauen verloren. Bis sie in das Auto zwei junger Männer stieg. Anfangs waren die Beiden nett gewesen, hielten Smalltalk. Mit einem Mal fing einer von ihnen an sie anzufassen. Der andere parkte den Wagen in einer dunklen, verlassenen Gasse. Sie versuchte sich zu wehren, aber die Beiden waren zu stark gewesen; drückten ihr Gesicht auf den Boden und drangen einer nach dem anderen von hinten in sie ein. Während
der Eine in ihr war, drückte der Andere sie brutal zu Boden. So sehr sie auch versuchte zu schreien, es kam nur heiße Luft heraus. Als sie mit ihr fertig waren, warfen sie ihren Rucksack aus dem Auto und fuhren davon. Als ich sie reden hörte, hatte es sich angefühlt, als hätte sie mir ein Schlag ins Gesicht versetzt. Tief berührt nahm ich ihre Hand und fragte sie, ob sie Anzeige erstattet hatte. Sie schüttelte ihren Kopf und meinte, das es auch nichts bringen würde, weil sie sich nicht mehr an ihre Gesichter, den Wagentyp oder sonst was erinnern könne und sie außerdem die Prozedur nicht überstehen würde. Sie wusste aus dem Fernsehen,
wie so was ablief. Jemand würde ihren ganzen Körper auf Spuren untersuchen. Äußerlich, wie innerlich. Immer wieder müsste sie den Tathergang wiederholen. Es können Jahre vergehen, bis es zur Gerichtsverhandlung käme und da sie sich an Nichts erinnern konnte, ergebe eine Anzeige keinen Sinn. Sie wollte einfach nur alles, so schnell wie möglich, vergessen. „Ist Familie nicht die erste Anlaufstelle bei so was?“, fragte ich vorsichtig. Sie schüttelte ihren Kopf und antwortete: “Meine Eltern haben mich zwar zum Teil finanziell unterstützt und ohne ihre Hilfe wäre ich nicht so weit gekommen. Aber bis zum letzten Augenblick haben sie
versucht mich umzustimmen. Immer wieder haben sie mich vor den bösen Jungs gewarnt. Wenn sie erfahren, das sie recht hatten, auch wenn es nicht die bösen Ausländer waren, … Die letzten fünfzig Kilometer bin ich in einem Ritt durchgelaufen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel angst ich hatte, das ich denen wieder begegne und sie mich… Ich wäre schon früher da gewesen, aber ich hatte ein wenig verirrt. Ist lange her, das ich bei dir war.“ „Das du überhaupt daran erinnerst, ist erstaunlich. Dabei warst du nur einmal hier gewesen.“ „Als ich aus dem Haus ging, hab ich mir schnell noch deine Adresse
aufgeschrieben, falls ich auf den Gedanken komme, dir zu schreiben. Die Postleitzahl hab ich aus dem Internet.“
Sie duschte lange. Sehr lange. Derweil bereitete ich eine Kleinigkeit zu essen zu und dachte an Sibirien. Hoffte, das sie mehr Glück hat.