Als ich den Briefkasten öffnete, grinste mir eine Ansichtskarte entgegen: „Sibiria“. Augenblicklich musste ich lächeln. Auf der Rückseite stand: „Sorry, aber sie hat mir so leid getan ♥“ „Mir auch.“, sagte ich halblaut. Nur wenige Minuten, nach dem mein Übernachtungsgast gegangen war, hatte es an meiner Tür geklingelt. Zuerst hatte ich gedacht, das sie es wäre; das sie irgendwas vergessen hat. Doch da stand ein anderes Mädchen vor meiner Tür. Völlig erschöpft, übermüdet und … Sie sah mitleiderregend aus und wusste nicht so recht, was sie wollte. Zuerst wollte
sie eine Nacht bei mir verbringen, dann fand sie, das es eine blöde Idee ist und wollte wieder gehen, blieb aber unschlüssig stehen. Ich fragte sie, wieso sie ausgerechnet bei mir geklingelt hat. Sie antwortete, das eine junge Frau, die gerade aus dem Haus gekommen war, es ihr gesagt hätte, das sie bei mir kostenlos übernachten könne und ich ein wahnsinnig netter, rücksichtsvoller Typ sei. Ich hatte sie dann sacht in meine Wohnung gezogen. Trotz anfänglichem Widerstands ihrerseits, schaffte ich es, das sie zu mir hereinkam. Ihr Rucksack hatte Gewicht und wäre mir beinahe aus den Händen geglitten, als ich ihr dabei
half ihn abzusetzen. Ich hatte mich gefragt, wie so ein zartgebautes Mädchen, so einen schweren Rucksack, scheinbar mühelos, tragen konnte. Es war schwierig, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Jedes Wort drehte ich mehrfach in meinem Mund, bevor ich es sprach, um nicht Gefahr laufen etwas zu sagen, was sie am Ende falsch verstehen könnte. Was ich brauchte, war Vertrauen. Ihr Vertrauen. Auf einmal platze es aus ihr heraus. Leise, aber dennoch gut hörbar. In der Nacht zuvor, war sie bei einem Jüngling gewesen, der versucht hatte, sie zum Beischlaf zu zwingen. Ein kräftiger Tritt in seine Juwelen hatte ihr die nötige Zeit zum Abhauen verschafft.
Sie war in strömenden Regen gekommen, der zum Glück nicht lange angehalten hatte, aber so lange, das sie durchnässt wurde. Nach dem wir uns etwa eine halbe Stunde lang, mehr oder weniger, vertraut gemacht hatten, verließ ich meine Wohnung und ließ sie allein zurück. Sie sollte sich, während ich einkaufen fuhr, ausruhen und sich entscheiden, ob sie bei mir übernachten will oder nicht. Da ich mir angewöhnt hatte, nicht in den Supermarkt um die Ecke zu gehen, sondern ein paar Kilometer weiter, war ich knapp zwei Stunden unterwegs. Genug Zeit für sie, um zu entscheiden, ob oder ob
nicht. Ich hatte frei und die Ruhe weg. Absichtlich fuhr ich im Schneckentempo, um ihr so viel Zeit zu geben, wie sie brauchte. Ich glaubte nicht daran, das sie meine ganze Wohnung nach Wertsachen und Bargeld durchsuchen würde. Dafür sah sie zu ehrlich und zu fertig aus. Sie brauchte Ruhe. Einen Ort, an dem sie entspannen konnte. Und den hatte sie bei mir, wenn sie wollte. Als ich zurück kam, döste sie auf meinem Bettsofa. Ganz sacht legte ich ihr eine Decke über ihren Körper. Ich sah, das sie schwitzte und fühlte ihre Stirn. Jene fühlte sich heiß an. Daraufhin schob ich ihr ein Fieberthermometer
unter den Arm. Minuten darauf erhielt ich die Bestätigung; Fieber. Um es zu senken, machte ich ihr Wadenwickel. Nebenbei kochte ich eine Kanne Tee. Ich fragte mich, was gewesen wäre, wenn sie nicht zu mir gekommen wäre. Vorsichtshalber legte ich mich auf den Fußboden. Aber so sehr ich es auch versuchte, ich kam nicht zur Ruhe. Deshalb stand ich auf und legte mich zu ihr, in der Hoffnung, das sie mich nicht schreiend wieder hinaus wirft. In der Nacht sank das Fieber. Es war mein zweiter und letzter freier Tag. Ich wusch ihr Gesicht, mit einem kalten Lappen, fütterte sie, wie ein kleines Kind und war einfach nur für sie
da. Am Tag darauf, als ich die Wohnung verließ, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Konnte ich sie, in dem Zustand, wirklich alleine lassen? Sie war ein großes Mädchen, aber auch sehr krank. Ich konnte mich kaum auf die Arbeit konzentrieren. Zum Glück war alles Routine. Über keinen meiner Handgriffe musste ich nachdenken. Es ging nur langsamer voran, weil ich die ganze Zeit an sie denken musste. Ich war froh, als ich wieder zu Hause war. Ihr ging es schon ein wenig besser. Sie konnte halbwegs alleine sitzen und essen. Als sich unsere Blicke trafen, sah ich den Anflug eines Lächelns in ihrem
Gesicht.
Keine zwei Wochen später war sie wieder topfit.
„Sie hatte recht. Du bist wirklich ein netter Typ. Danke.“, sagte sie mir und fiel mir um den Hals. Minutenlang haben wir uns umarmt. Mir liefen Tränen der Freude aus meinen Augen. Ihre Dankbarkeit zu spüren… Mit Geld ist so was nicht aufzuwiegen.