'ne Hexe unterm Weihnachtsbaum
Es war im Jahr 1969, zwei Tage vor Heiligabend.
Im Sommer war meine Oma gestorben, und Opa verbrachte das erste Mal ein Weihnachten ohne sie. Nach gutem Zureden hatte er sich entschlossen, zu uns zu kommen.
Er weilte schon eine Woche hier und brachte in unserem kleinen Haushalt so einiges durcheinander, denn Opa war – sagen wir mal – spontan und speziell. Seit er bei uns weilte, war er sehr unruhig, fragte dauernd, ob die Post dagewesen war.
„Erwartest du was?“ Ich verstand seine
Unruhe nicht.
„Kann sein, kann nicht sein.“ Nach dieser kryptischen Äußerung wuselte er weiter durch unsere kleine Wohnung. Es nervte.
An diesem Montag ging er selbst hinunter zum Briefkasten, brachte aber keine Post mit hinauf. „Muss noch mal raus“, sagte er kurze Zeit später und verschwand, angeblich, um einen längeren Spaziergang zu unternehmen. Ich machte mir Sorgen, weil er bei Einbruch der Dunkelheit noch nicht zurück war. Irgendwann am Spätnachmittag klingelte es, aber als ich den Türöffner betätigt hatte, kam
niemand nach oben. Plötzlich hörte ich ein Rufen durchs Treppenhaus. „Komm mal runter! Bring Geld mit!“
Opa! Was hatte er wieder angestellt? Ich rannte die vier Stiegen hinunter, den Geldbeutel in der Hand und hoffte, dass ich nicht Unsummen bräuchte, um Opa irgendwo auszulösen.
Meine Gedanken waren goldrichtig. Er stand an der Straße neben einem Taxi. Der Fahrer, leicht genervt, trat von einem Bein aufs andere, und seinen Unmut konnte man an der Stirn ablesen.
„Hast du 20 DM?“ Opa war nervös.
Etwas irritiert kramte ich nach den Scheinen. Es reichte zum Glück. Auf ein Trinkgeld musste der Taxifahrer
verzichten, was seine Laune nicht besserte. Ohne Gruß rauschte er davon. Nun gewahrte ich auch die Kiste am Straßenrand.
„Opa, was hast du angestellt?“, fragte ich energisch.
„Hilf mir erst einmal, das da nach oben zu bringen!“, meinte er bestimmt, und so schleppten wir die Kiste die vier Stiegen hoch. Opa war mit seinen achtzig Jahren zwar noch sehr mobil, aber als wir oben ankamen, keuchte er vor Anstrengung.
Die Kiste stand im Wohnzimmer, und plötzlich hörte ich es. Ein leises, klägliches Fiepen, ein Winseln. Ich ahnte Schreckliches, das jedoch zugleich in mir eine freudige Erwartung auslöste.
„Mensch Opa, du hast doch nicht etwa ...“
Er hatte. Grinsend, die Hände reibend, stand er da und nickte. „Sie sollte früher kommen. Ich war schon bange, dass es zum Weihnachtsfest nicht mehr klappt.
Komm, wir machen auf. Die Lütte muss da raus, die Fahrt war sicher sehr beängstigend für sie. Sind ja ein paar Stunden von Hamburg bis Frankfurt.“
Opa öffnete die Kiste, und drinnen saß ein winziges Häufchen von Dackelhund, besser Dackelhündin, die uns mit großen Augen anschaute.
„Sie heißt Josha vom Geiersitz“, berichtete Opa stolz, „ist eine Adlige
und mein Weihnachtsgeschenk für euch.“
Er hatte das Häufchen schon aus der Kiste geholt und auf den Teppich gesetzt. Ich war platt.
„Opa, das kannst du nicht machen. Was sollen wir mit einem Hund?“
Kurz dachte ich an meine Mutter, wischte aber diesen Gedanken rasch beiseite. Mein Herz flog dem winzigen Geschöpf zu, diese großen Dackelaugen, das feuchte Schnäuzchen, die tapsigen Bewegungen ... ich war hin und weg.
„Du wolltest doch immer einen Hund“, meinte Opa zufrieden.
„Jaaa“, stimmte ich zu, „aber da war ich neun ... und eigentlich schenkt man keine Tiere zu
Weihnachten.“
Die adlige Josha brauchte nicht lange, um sich zu akklimatisieren und zeigte sich mitnichten adelig. Als Mama nach einer halben Stunde heimkam, hatte sich das kleine Dackeltier die Decke gekrallt, die auf dem Sofa lag, einen See auf dem Teppich hinterlassen und Mamas Hausschuh durch die Gegend gezerrt.
An diesem Abend zogen Opa und ich alle Register, um Josha meiner Mutter näher zu bringen. Sie kannte ihren Vater, der des Öfteren verrückte Dinge tat, mit großem Herzen, aber meist ohne zu überlegen. Nun saßen wir in einer Zweizimmer - Mietwohnung im vierten
Stock mit einem Dackelhund und das zwei Tage vor Weihnachten. Josha blieb, vorerst, wie Mama sagte. Nach Weihnachten würde man sehen.
„Aber Josha, das passt nicht zu ihr“, meinte meine Mutter, „sie ist ja eine richtige kleine Hexe.“
Von da an hatte das Hundekind seinen Namen weg. Ich änderte das noch in Hexi, denn Hexe, das schien mir zu streng. An diesem Abend und auch die folgenden Tage rannte ich alle halbe Stunde mit Hexi unterm Arm nach draußen, damit sie ihr Bächlein und ihr großes Geschäft machen konnte. Meine Mutter kochte Hackfleisch, mischte Hundeflocken für Welpen darunter und
ich merkte, wie sie ganz ernsthaft bei der Sache war. Am Dienstag kauften wir noch Leine, Hundekörbchen, Fressnäpfe, was den Weihnachtsgeldbeutel meiner Mutter ziemlich schmälerte. Opa war für diesen Monat pleite, kein Wunder, wenn man als Rentner einen Dackel mit edlem Stammbaum aus einer Zucht kauft.
Die ersten Nächte waren unruhig, denn Hexi vermisste wohl ihre Wurfgeschwister und ihre Mutter. Aber eine Wärmflasche im Körbchen und Mamas Hand, die nachts immer zur Beruhigung diente, schafften Abhilfe.
Am Heiligabend saßen wir zu dritt um den Weihnachtsbaum. Hexi legte sich wie
selbstverständlich zwischen die bunten Päckchen und war zufrieden. Keine Rede mehr davon, dass Mama sie loswerden wollte.
Hexi war uns siebzehn Jahre lang eine treue Begleiterin, besonders meiner Mutter, als ich auszog. Insgeheim schickten wir beide öfter einen Dank an Opa, der uns dieses wunderbare
Geschöpf ins Haus gebracht hatte.