Weihnachtsstimmung
(Eine halbwahre und ziemlich traurige Geschichte)
Diese Kurzgeschichte ist schon 2015 entstanden, als noch niemand ahnte, was 2020 für ein denkwürdiges Jahr werden wird.
Es war in diesem Dezember damals so ganz anders als heute und doch eigentlich ganz genau so ...
Weihnachtsstimmung hin oder her. Manch ein Mitbürger zelebriert sie, kaum dass die letzten Blätter der Saison von den Bäumen verschwunden sind. Eifrig wird Glühwein eingekauft - und aufgewärmt, der Stapel Weihnachts-CDs hervorgekramt und zu allem Überfluss akribisch und täglich, in der alphabetischen Reihenfolge abgespielt. Oft laut und oft zu laut. Die ersten Lebkuchen verstören den Kalorienhaushalt, ehe auf dem Kalender der Monat Dezember erscheint und jedes verfügbare Stückchen Weihnachtsdekoration wird entstaubt und gleich-oder ungleichmäßig, wahllos oder durchdacht auf den freien Flecken der
Möbel, Fenstersimse und Teppichböden verteilt. Nicht zu vergessen, der außerordentlich friedliche Blick und das sanft-selige Lächeln, das jedem eigen ist, der diese Zeit so liebt. Ich frage mich immer öfters, ob diese Menschen nicht bemerken, dass der Dezember der hektischste Monat des Jahres ist. Jeder jagt einem Ziel hinterher, welches er nicht wirklich kennt. Hetzt von Veranstaltung zu Veranstaltung, kauft ein, mit der Angst, dass die Geschäfte im Januar nicht wieder öffnen und arbeitet doppelt so viel, als sonst, weil es im Dezember oftmals keinen Urlaub mehr gibt.
Als toleranter Mensch ist mir das - sagen
wir mal - ziemlich egal, auch wenn ich diesen ganzen Zauber nicht wirklich verstehen und nachvollziehen kann. Ich dekoriere, wenn ich etwas Schönes sehe oder geschenkt bekomme und brauche dazu nicht den Dezember. Mir schmeckt Glühwein auch kalt im Sommer und das kann ich mit guten Gewissen behaupten, weil ich es ausprobiert habe. Gut, das Ding mit der Weihnachtsmusik habe ich ausgelassen und bis jetzt habe ich auch noch nie im Frühling bunte Kugeln an unsere Gartentanne gehängt.
Was ich eigentlich sagen möchte - Weihnachten ist nicht so mein Ding. Vielleicht, weil ich einfach ein Frühlings- und Sommerkind bin, Sonne
auf der Haut liebe, gern wenig Kleidung und Flipflops trage, statt sieben Schichten Pullover und Socken und trotzdem noch frieren muss. Mit Vorliebe höre ich laut Reggae bei herabgelassenen Autoscheiben, wenn es nach Sommer riecht. Die dunkle, zweifarbige Jahreszeit mag ich nicht und darum freue ich mich jedes Jahr im Herbst darauf, dass im März das Leben wieder losgeht.
Und doch habe ich es in diesem Jahr ein wenig anders gemacht. In diesem Dezember habe ich schon vor dem zweiten Advent viele Karten mit lieben Grüßen verschickt, habe still und heimlich ab und zu ein Weihnachtslied gesummt und sogar liebevoll diverse
kleine Geschenke, Wichteleien und Mitbringsel für Freunde, Familienmitglieder und Kollegen gepackt. Ich besuche meine alten Eltern einmal mehr als sonst, rufe sie häufiger an als in den restlichen Monaten des Jahres, habe sie sogar mit einem selbstgebastelten Gesteck glücklich gemacht und eine selbstgebrannte Weihnachts-CD mitgenommen. Ok, zum Plätzchen backen hat es noch nicht gereicht, denn diese Kunst beherrsche ich nicht wirklich Aber ich habe einen Weihnachtsstollen vom Bäcker besorgt. Nicht selbstgebacken, aber selbst gekauft.
Wie kam es dazu?
Im letzten Jahr durfte ich Walburga Rückert kennenlernen. Walburga Rückert lebt in einem Seniorenzentrum. Einem Zentrum, in dem Senioren zusammenleben und doch in den meisten Fällen ganz allein sind.
Die alte Dame hat vor Jahren einen Schlaganfall erlitten. Bis heute verstehe ich die Übersetzung dieser Krankheit nicht, denn sie hat weder mit einem Schlag noch mit einem Anfall zu tun. Aber das tut nichts zur Sache. Walburga hat seit dem Schwierigkeiten, ihren Alltag allein zu meistern. Manchmal vergisst sie die Nase zu putzen und ihr Gang erscheint etwas tollpatschig, erinnert an den eines kleinen Kindes.
Beim Essen bekommt sie ein riesiges Lätzchen umgebunden, das offiziell Kleiderschutz genannt wird und dennoch nur ein Lätzchen ist und bleibt. Ab und zu schafft sie es nicht rechtzeitig zur Toilette zu gehen und hin und wieder wird sie vermisst, weil sie sich in einem falschen Zimmer verirrt hat. Manchmal lacht sie laut, einfach nur so, an anderen Tagen liegt sie Stunden in ihrem Bett, weil sie vergisst, aufzustehen.
Ja, sie vergisst viel, aber eins weiß sie ganz genau - sie hat vier Kindern das Leben geschenkt, ist die Mama von Siegfried, Walter, Gerlinde und Margarete.
An so genannten guten Tagen hat sie mir
oft von ihren Kindern erzählt. Von den schwierigen Zeiten, weil es ja nichts gab, von der vielen Arbeit auf dem Bauernhof, ohne Wochenenden und Freizeit. Von Armut, von Krankheiten, von Leid, weil eben „früher“ alles nicht so einfach war.
Aber sie hat auch die schönen Stunden nicht vergessen und wenn sie davon spricht, funkeln ihre Augen verräterisch und ein glückliches Lächeln schleicht sich in ihr Gesicht. In diesen Momenten nehme ich Walburga einfach in den Arm, greife ihre Hand und lausche ganz still ihren Geschichten. Immer wieder fallen ihr neue ein und immer handeln sie von ihren vier Kindern. Es sind schöne
Geschichten und ohne es wirklich zu wissen, ahne ich, dass die alte Frau eine sehr liebe Mama war und im Herzen noch immer ist. Jede freie Minute hat sie damals genutzt, um mit ihren Kindern zu spielen, zu backen, zu lernen, Fahrrad zu fahren oder vorzulesen. Nachts hat sie dann gewaschen, gebügelt, Kleidung geflickt und es war ihr egal. Einen Fernseher gab es nicht und die gute Stube war sowieso kalt, wurde nur an den Wochenenden geheizt.
Im letzten Dezember hat sie viel von der Weihnachtszeit früher erzählt. Zum Plätzchen backen hat sie extra für jedes ihrer Kinder eine Schürze aus alten
Hemden des Opas genäht und die Namen eingestickt, damit es keine Streitereien gibt. Natürlich wurde selbst gesungen, ein Radio kannte die Familie nicht und gebacken wurden einfache Haferplätzchen. Manchmal kam ein Löffel Kakao hinein, leider aber nur sehr selten. Einmal bekamen sie von einer Nachbarin ein Stück Butter, das machte die Plätzchen zu kleinen Goldstücken. Am Heiligen Abend verteilte sie diese, jedes Familienmitglied bekam vier Stück. Sie selbst hat ihre an die Kinder verschenkt und sich darüber gefreut.
Es war eine schöne Zeit, weil sich sogar der Vater Zeit in diesen Tagen nahm. Er baute mit den Jungs Holzspielzeug in der
kleinen Werkstatt, während Walburga Tee mit Apfelstückchen und Zimt verfeinerte. An manchen Abenden hat sie Bratäpfel auf dem Küchenofen gebacken, natürlich ohne Mandeln, Marzipan, Marmelade und Butter. Trotzdem freuten sich alle darüber, versammelten sich auf der Ofenbank, sangen Weihnachtslieder und ließen sich die Köstlichkeit schmecken. Es war nicht einfach, aber es war schön.
Nun lebt sie hier in diesem Heim. Siegfried, Walter, Gerlinde und Margarete sind alle verheiratet und haben Walburga insgesamt fünf Enkelkinder geschenkt. Alle Familien wohnen in der Nähe, alle gehen arbeiten, alle haben
sich für ihre Familie ein Haus gebaut und insgesamt haben die vier Familien zehn Autos. Auch das weiß die alte Frau genau.
Und dann kam der Monat Dezember, im letzten Jahr. Vier Adventssonntage und am Ende die Weihnachtsfeiertage. Die Zeit, die Walburga Rückert tagtäglich damit verbrachte, auf ihre Familie zu warten … die nicht kam.
Am ersten Advent wartete sie, rechnete aber nicht wirklich mit ihnen. Sie weiß ja, dass alle viel zu tun haben, erklärte sie mir am Montag tapfer und freute sich überschwänglich über den kleinen geschmückten Zweig, den ich an ihrer Zimmertür befestigte.
Schnell verging die Woche und sie erzählte mir wieder eine kleine Geschichte. In einem Jahr hat das Geld nicht für Geschenke gereicht. Es war einfach zu knapp, die Ernte war in diesem Jahr schlecht gewesen. Sie hat wieder alte Hemden und Hosen rausgesucht und Puppenkleider für Gerlinde und Margarete genäht. Siegfried und Walter bekamen eine kleine selbstgebaute Werkbank, die der Vater zimmerte. Ihre Augen strahlten, als sie sich an die Zeit erinnerte, aber sie strahlten nicht mehr, als sie mir am Montag erzählte, dass wieder niemand bei ihr war. Walter hat mit ihr telefoniert, für einen Besuch hat die Zeit
wohl nicht gereicht.
Nach dem dritten Advent kam sie mir aufgeregt entgegen und zog mich mit in ihr Zimmer. Gerlinde war am Samstag bei ihr - ganz kurz, weil sie zum Einkaufen musste und vorher schnell noch die Wäsche lieferte. Sie brachte einen kleinen Plastikweihnachtsbaum mit, der jedoch immer noch in der Pappschachtel lag, weil sie es nicht geschafft hatte, ihn aufzubauen. Trotzdem freute sich Walburga ernsthaft über das Geschenk und sie lächelte glücklich, als der 30 Zentimeter große Made-in-Thailand-Baum wenig später auf ihrem Tisch stand.
Als ich sie am Montag nach dem vierten
Advent sah, wusste ich, dass ich nicht fragen brauchte. Sie schüttelte nur ganz leicht den Kopf, nachdem ich sie fragend anschaute und senkte ihren Blick wieder auf die bunte Zeitschrift mit den Plätzchen-Rezepten.
Weihnachten verging - auch ohne Besuch. Sie hatte sich die Fingernägel umsonst von mir lackieren lassen und die frisch frisierten Locken sah auch niemand. Ihre Kinder und zwei der Enkel haben am Heiligen Abend angerufen, ihr schöne Weihnachten gewünscht und versprochen, zwischen den Feiertagen vorbeizukommen, wenn es etwas ruhiger sei. Ich habe es bewusst vermieden, sie nach dem Jahreswechsel danach zu
fragen, von sich aus hat sie nichts erzählt …
Dieses Erlebnis hat mich nicht zu einem anderen Menschen gemacht, aber es hat mich nachdenklich gestimmt. Und weil jetzt wieder Weihnachtszeit ist, stelle ich mir die Frage, warum wir eigentlich nicht das ganze Jahr für „Weihnachtsstimmung“ sorgen. Auch im Frühjahr könnten wir an andere denken, kleine Geschenke verteilen. Auch im Sommer könnten wir einmal öfters bei Freunden oder Verwandten anrufen. Auch im Herbst und warum eigentlich nicht das ganze Jahr über, könnten wir die Gelegenheiten nutzen und einfach ab und
zu Zeit verschenken.
Könnten wir und warum tun wir es so oft nicht?
© Memory (2015 / 2020)