DIE VERSCHWUNDENEN NIKOLAUS-STIEFEL
Die Geschichte hat sich vor gut 70 Jahren zugetragen. Klara und ihr kleiner Bruder Maxl leben mit ihren Eltern bei den Großeltern im gleichen Haus. Jedes Jahr, am Vorabend des Nikolaustages, kommt mit viel Gepolter vorm Haus der Heilige zu ihnen. Er trägt ein goldenes Bischofsgewand, eine Mitra und einen Krummstab. Aus seinem goldenen Buch liest Nikolaus vor, ob die beiden brav gewesen sind oder nicht. Manchmal schimpft er aber auch ein bisschen. Dann müssen sie noch ein Sprüchlein aufsagen. Ist alles in Ordnung gewesen, finden sie am nächsten Morgen Nüsse und ein paar Süßigkeiten in ihren
Schuhen, die sie abends vor die Tür gestellt haben. Angst verbreitet der Heilige bei den Kindern nicht.
Maxl ist ein pfiffiges Kerlchen. Weil er wegen seiner Größe stets auf einer Fußbank sitzt, wenn der Heilige kommt, hat er sich dessen Schuhe genau ansehen können. Es sind riesige Filzstiefel, mit einem Lederband um den unteren und oberen Rand und von der Schuhspitze bis zum Knie hinauf. Stets bewundert der kleine Bub diese riesigen Stiefel. Als es wieder einmal soweit ist, dass der heilige Nikolaus kommen soll, zieht der kleine Bub seine Schwester Klara auf die Seite: „Duu, ii hob dei Schdiefln gfundn, dei der Nigolo imma oghabt hod. Dei sin fei arch
grouß. Dei nemma ma heier an Nigolo un schdellns vur di Diir. Ii hobs scho wech-grahmd.“ Beide Kinder verschwinden grinsend in ihrem Zimmer und lassen sich nicht mehr blicken.
Inzwischen in der Wohnung der Großeltern: „Muddea, ii konn meine Schdiefl ned findn. Wou hosdn dei hiigraamd?“ „Ii hobs fei ned wechgraamd, desmool woasd as fei selbea. Nacherdla mousd hald ohne Schdiefl gei. Dei wearns scho ned mergn.“ Großvater schlüpft in das Kleid des Heiligen, Großmutter spart nicht mit Schminke und so leise wie möglich schleicht Opa die Treppen hinunter.
Der Abend des 5. Dezember ist angebrochen.
Es hat den ganzen Tag heftig geschneit und eine dicke weiße Schicht überzieht das Land. Die Enkelkinder sind im Wohnzimmer be-schäftigt. Sie spielen Mensch-ärgere-dich-nicht und warten auf den Nikolaus. Mit einem Ohr lauschen sie ständig nach draußen. Das laute Gepolter ums Haus herum bleibt aus. Vater und Mutter werden schon ungeduldig, weil nichts zu hören ist. Die Kinder grinsen sich an. Endlich … ein gewaltiges Rumoren vor der Wohnzimmertür. Heute wagt Maxl nicht, sich auf die Fußbank zu setzen. Nikolaus wird eingelassen. Ein böser aber gleichzeitig auch sehr trauriger Blick aus seinen Augen trifft die beiden Kinder. Die werden am Wohnzimmertisch immer kleiner. Verstohlen schielt Maxl nach den Stiefeln des
heiligen Mannes und erblickt nur sehr dicke Wollsocken. Er würde am liebsten loheulen, so schämt er sich. Der Blick ins goldene Buch verheißt nichts Gutes. Da schüttelt Nikolaus nur traurig den Kopf, ehe er sagt: „Ich bin heute zum letzten Mal zu euch gekommen. Bleibt brav und werdet anständige Erwach-sene.“ Dreimal stößt er seinen Krummstab auf den Boden, dann dreht er sich um und verlässt auf leisen Sohlen die Wohnung.
Ob die Riesenstiefel gefüllt wurden? Ich weiß es nicht.
©HeiO 15-12-2019