Eine besondere begegnung
Manche kennen ihn schon, den silbergrauen Mittelschnauzer „Kaiser Wilhelm“, so genannt wegen seines auffallenden Bartes. Heute, am 6.12., ist er mit seinem Herrchen zum Abend-spaziergang unterwegs. Gerade, als er sich dem Studium seiner Hundezeitung widmen will, entdeckt er einen leicht ergrauten Vier-beiner, dem sie noch nie vorher begegnet sind. Die beiden begrüßen sich lebhaft nach Hundeart. Nach ein paar Augenblicken kom-men sie ins Gespräch.
„Hallo Kollege“, wendet sich der Kaiser an den Grauen, „auch zum Abendspaziergang
unter-wegs? Heute ist verhältnismäßig viel Betrieb im Vergleich zu den letzten Tagen.“
„Keine Spur. Mir ist das auch völlig egal. Ich muss auf meinen Herrn aufpassen. Der ist nicht mehr so gut zu Fuß, so wie ich. Du ver-stehst, was ich meine, nicht wahr?“
„Trägst du auch deshalb das auffällige Ge-schirr mit dem sonderbaren Aufdruck?“
„Das muss ich immer dann tragen, wenn ich im Dienst bin. Heute wollte mein Herr unbe-dingt hier draußen seinen Spaziergang ma-chen. Und du siehst, ich bin voll in seiner Reichweite. Wir sind über diese dünne Leine verbunden. Das reicht. Wenn Gefahr droht,
bleibe ich sofort stehen und warne ihn. Dann kommt er langsam näher und kann sich darauf einstellen. So sind wir ein Superteam.“
„Erzähl doch mal, wie ihr euch kennengelernt habt.“
„Das ist eine verrückte Geschichte. Wir sind uns im Tierheim EINSAME SEELEN be-gegnet. Das war einige Wochen vor dem ersten Advent. Aber es liegt schon ein paar Jahre zurück. Mein Gespür sagte mir, dass genau er der Richtige für mich ist.“
„Und dann?“ Kaiser kann seine Neugierde kaum zurückhalten.
„Ich fasste mir ein Herz und machte mit Blicken auf mich aufmerksam. Aber es war gar nicht einfach, ihn zu erobern. Er muss viele Bedenken gehabt haben, denn in meiner Auf-regung zeigte ich mich auch sehr wild. Und das war nicht gut für ihn. Meine Betreuer mussten mir das erst beibringen. Aber in weni-gen Tagen hatte ich es verstanden. Und weil der Herr immer wieder ins Tierheim kam, konnten wir schnell zusammenwachsen. Am 1. Advent holte er mich dann zu sich. Da begann die glücklichste Zeit für uns beide.“
„Erklär mir das, bitte.“ Nach einigem Nach-denken: „Vielleicht so wie bei mir, als ich meine Familie fand, oder?“
„Ja, ich bin gerade jetzt sein Licht im Grau des Alltags. Er lebt allein und in diesen Pande-miezeiten hat er es doppelt schwer. Und ich hab ein gutes Gespür dafür, wann er sehr traurig ist. Dann gehe ich zu ihm, lege meine Pfötchen auf seine Knie und bette meinen Kopf in seinen Schoß. Dafür bekomme ich viele Streicheleinheiten. So trösten wir uns gegenseitig. Das tut gut und macht Spaß.“
„Ich sehe euch beide vor mir, wie ihr das genießt. Jetzt fehlen nur noch Kerzenschein, Kaffee und die passende Musik.“
„Lach nicht, Kollege, das hatten wir heute Nachmittag. Und sogar Kekse dazu, aber für
mich nicht. Da ist Herrchen eisern. Wir lieben dieses Kuscheln, auch außerhalb dieser ve-rrücktenPandemiezeit. Es sind neben den Spaziergängen die schönsten Stunden des Tages.“
„Danke für den Hinweis, Kollege. Das bringt mich auf eine Idee. Ich werde es demnächst selbst einmal bei uns zu Hause versuchen. Give me five!“
Jeder schnüffelt jetzt für sich noch ein paar Minuten, dann trennen sich ihre Wege.
©HeiO 06-12-2020