Titel
Bis dahin hatte ich keine Erfahrungen in dem Bereich gehabt. Es war für mich Neuland und ich tat mich schwer damit. In diesem Fall war ich doch froh, das es das Internet gibt, um mich darüber zu informieren.
Als ich ihn zum ersten Mal sah, dachte ich, er wäre ein Mädchen, da er, für mich, danach aussah. Anscheinend hatte nicht nur ich diesen Eindruck, denn auf seinem Namensschild hatte er expliziet „Herr“ drauf geschrieben. Im Laufe der Zeit hörte ich auch immer, wie er mit „Herr“ angesprochen wurde, beziehungsweise
„der“.
Wenn man ihn sieht assoziiert man ihn automatisch mit einem Mädchen, weil sein Gesicht sehr weiblich wirkt, ebenso seine Statur, abgesehen von der fehlenden Oberweite, und allem voran seine Stimme. Deshalb fällt es mir so schwer, ihn als Mann zu akzeptieren. Ich bin ja auch nicht mehr der Jüngste und ziemlich festgefahren, was Geschlechterrollenverteilung angeht. Wie schon erwähnt, ist es der Erste, den ich kennengelernt habe, der nicht in das typische Mann Frau Muster passt. Aber wenigstens bin ich nicht der Einzige, der ihn mit einer Frau verwechselt. Gerade die älteren Lehrer, an unserer Schule,
sagen zuerst „die“ beziehungsweise „Frau“ und verbessern sich auf der Stelle. Ich glaube, er hat sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt, als Mädchen wahrgenommen zu werden und sieht es daher nicht so verbissen.
Leichter, ihn als Mann zu erkennen, wäre es gewesen, wenn seine Eltern ihm einen männlichen anstatt einen geschlechtsneutralen Namen zu gegeben hätten. Trotz allem ist er ein sehr netter Mensch. Ich kann nicht schlecht über ihn reden. Er ist ein wahnsinnig sympathischer und netter Typ.
Neulich liefen wir nebeneinander her und unterhielten uns. An einer Ecke kam uns meine alte Bekannte entgegen. Ein
kurzes „Hallo“, ein Lächeln und die ultimative Frage: „Ist das deine neue Freundin?“
Sie ist eine von denen, die mir versuchen einzureden, das ich eine Freundin brauche und nicht verstehen wollen, das ich mir derzeit weder eine Freundin leisten kann, noch Zeit dafür habe. Und obwohl ich eigentlich gegen das Lügen bin und daher stets bemüht bin ehrlich zu sein, antwortet ich: „Ja, das ist sie.“
Er lächelte nur und sagte kein Wort. Als sie aus unserem Blickfeld verschwunden war, nahmen wir den Faden wieder auf, den wir ihretwegen fallen lassen hatten.
Später schrieb sie mich an und fragte, wie lange ich schon mit „ihr“ zusammen
bin und wie „sie“ so ist und das sie sich freut, das ich endlich eine „Freundin“ gefunden habe. Lange Zeit rührte ich mich nicht, weil ich nicht wusste, wie und was ich zurückschreiben sollte. Mein Gewissen sagte mir, das ich sie aufklären und ihr gestehen sollte, dass „sie“ ein „er“ ist und wir nicht zusammen sind, sondern „nur“ gemeinsam in eine Klasse gehen.
Einmal wollte ich ihn fragen, zu welchem Geschlecht es ihn zieht, oder ob er gar asexuell ist. Getraute es mich aber nicht. Und so sehr interessiert es mich auch nicht, dass ich ihn danach fragen muss. Sein Leben, seine Entscheidung. Vielleicht entwickelt sich irgendwann
mal eine Freundschaft. Bisher habe ich ihn noch nie schlecht über andere reden hören. Allgemein habe ich nur positive Erfahrungen mit ihm gemacht. Ich habe großen Respekt vor ihm und glaube, er würde sogar einen guten Einfluss auf mich ausüben.