Weihnachtswunder
Die Flamme der Kerze flackert unruhig hin und her wegen des leichten Luftzugs, der durch die Türritzen strömt. Gleichzeitig zaubert sie bizarre Schatten an die helle Wand.
Marius sitzt am Tisch, umschließt mit beiden Händen ein halbvolles Glas Tee, als wolle er sich daran die Finger wärmen. Am liebsten würde er einschlafen und auch die nächsten Tage nicht aufwachen, bis Weihnachten vorbei wäre. Noch zwei Tage bis zum Fest, die er überstehen muss und dann die Feiertage.
Er mag nicht an früher denken, als das
Zimmer in glänzendem LICHT erstrahlte und die Augen seiner kleinen Tochter Anna noch heller leuchteten als die Kerzen am Weihnachtsbaum.
Den gibt es seit vier Jahren nicht mehr, seit jenem ersten Weihnachten, das er ohne seine Frau Maja und Anna verleben musste.
Marius hadert nicht mehr mit seinem Schicksal, mit jener Grausamkeit, die seine Liebsten aus dem Leben gerissen hat. Es war ein Unfall, niemand hatte das gewollt. Viele Freunde gibt es nicht mehr und er versteht, dass einige sich zurückziehen mussten, als sie merkten, wie sehr er in seiner Trauer gefangen war und sie ihn nicht TRÖSTEN konnten.
Nein, er hadert nicht, klagt nicht an.
Aber solche Tage wie Weihnachten oder die Zeit davor lasten schwer auf ihm. Die Erinnerungen überwältigen ihn, und es scheint, als wollten sie ihn erdrücken. So gilt es, diese Tage zu überstehen, in der Stille auszuharren. Es wird vorübergehen.
Langsam löst Marius die Finger von dem Glas, dessen Inhalt inzwischen kalt geworden ist. Mit dem GESCHIRR vom Abendessen räumt er es in die Spülmaschine. Er würde jetzt noch seine Runde machen, schauen, ob alles in Ordnung ist und dann zu Bett gehen. Der Schlaf ist inzwischen sein liebster
Geselle, wenn er sich denn einstellt.
Etwas schwerfällig erhebt sich Marius und geht zur Haustür. Als er sie öffnet, reißt der Sturm sie ihm fast aus der Hand. Dicke Flocken wehen in den Flur. Der Weg zum Haus ist zugeschneit. Morgen wird er Schnee schippen müssen.
Im diffusen Licht der Gartenlaterne kann er nichts Ungewöhnliches ausmachen.
Als er die Tür wieder schließen will, meint er einen seltsamen Klagelaut zu vernehmen. Ist das der Sturm, der ihn narrt? Angestrengt späht er hinaus, horcht. Da! Da ist es wieder. Ein langgezogenes Wimmern. Es scheint vom Schuppen zu kommen.
Er schnappt seine Jacke, schlüpft hinein
und stapft durch den tiefen Schnee in die Richtung, aus der die seltsamen Töne gekommen sind. Der Wind bläst ihm um die Ohren. Bis in sein Innerstes spürt er die unbarmherzige Kälte.
Wieder übertönt der langgezogene Klagelaut das Heulen des Windes. Ja, es kommt vom Schuppen. Noch wenige Schritte und er entdeckt in einem Haufen Schnee ein dunkles Bündel vor der Schuppenwand. Vorsichtig nähert sich Marius. Eine Katze liegt dicht an die Holzwand gedrängt, der Körper wird von einem Zittern geschüttelt. Jetzt hat das Tier ihn wahrgenommen, den Kopf gehoben.
Als er sich niederbückt, hört das
Jammern auf. Fauchen stattdessen. Marius zuckt zurück. Überlegt fieberhaft, was zu tun sei. Ist das Tier verletzt? Oder hat es einfach nur Schutz vor dem Schneesturm gesucht?
Es scheint verängstigt oder es hat Schmerzen. Es würde sich nicht hochnehmen und ins Haus tragen lassen. Soll er die Polizei anrufen, das Ordnungsamt, den Tierarzt? Während Marius noch grübelt, stößt die Katze einen Schrei aus, dass ihm das Blut in den Adern gefriert.
Er öffnet die Schuppentür und befestigt sie mit dem kleinen Haken an einem Ring in der Wand. So schnell er kann, läuft er zurück ins Haus, holt eine Decke und
eine Schüssel, in die er etwas Rinderhackfleisch gibt, das er für den nächsten Tag gekauft hat.
Die Katze ist verschwunden, als er zurückkommt. Marius betritt den Schuppen und betätigt den Lichtschalter. Der Raum wird in trübes Licht getaucht, die REICHWEITE der nackten Birne, die von der Decke baumelt, gibt nicht mehr her. Er entdeckt die Katze sofort. Sie hat sich unter einen Stuhl verkrochen, der an der Seitenwand steht.
Langsam legt Marius die warme Decke auf den Boden dicht neben den Stuhl. Davor stellt er die Schüssel mit dem Fleisch. Dann hockt er sich hin und beobachtet das Tier. Es rührt sich nicht.
Mager ist es, obwohl der Bauch seltsam aufgetrieben wirkt. Hunger, denkt Marius. Wer weiß, wann sie das letzte Mal etwas gefressen hat.
Nach einer Weile merkt er, dass er zittert, kaum spürt er seine Hände.
Aber zumindest ist die Katze hier im Schuppen vor Schnee und der ärgsten Kälte geschützt. Langsam steht er auf und zieht sich zurück.
Er findet an diesem Abend keinen Schlaf, immer wieder taucht das Bild der Katze vor ihm auf. Graugetigert ist sie, das hat er im Dämmerlicht erkennen können.
Er kommt nicht zur Ruhe. Schließlich zieht er wieder seine dicke Jacke an und geht hinaus. Der Sturm hat sich gelegt,
und nur noch vereinzelt tanzen die Schneeflocken im Schein der Laterne. Aber es ist bitterkalt. Ein Wetter, wie er es sich früher zu Weihnachten immer gewünscht hat. Jetzt spielt es keine Rolle mehr.
Marius stapft zum Schuppen, der Schnee knirscht unter seinen festen Schritten, und unzählige winzige Kristalle überziehen das Weiß mit einem Schimmer. Entschlossen öffnet er die Schuppentür einen Spalt und zwängt sich hinei.
Tief zieht er die Luft ein. Er traut seinen Augen nicht. Mitten auf der Decke liegt die Katze und an ihrer Seite drei, nein vier kleine Bündel
Leben.
Kann das wahr sein? In der Zeit, als er drinnen seinen Gedanken nachgehangen hat, sind vier Katzenbabies auf die Welt gekommen. Nicht auszudenken, wenn er nicht das Wimmern vernommen hätte und vor allem, wenn er dem nicht nachgegangen wäre.
Marius verdrängt diese Gedanken und schleicht vorsichtig näher. Das Tier bleibt ruhig liegen, fährt fort, die Jungen abzulecken, um die Lebensgeister in Gang zu bringen.
Er kniete sich hin, und auch dadurch lässt die Katze sich nicht stören. Kurz unterbricht sie ihre Tätigkeit und schaut ihn an, als wisse sie, was er getan hat.
Ein Lächeln umspielt seinen Mund.
Er kann seinen Blick nicht von diesem kleinen Wunder lassen. Winzig wie Mäuse sind sie, kaum größer als zehn Zentimeter. Sie haben die Augen fest geschlossen, aber sie wissen, wo sie nach Nahrung suchen müssen. Mit sicherem GESPÜR finden sie die Zitzen. Die PFÖTCHEN treten gegen den Bauch der Mutter, damit die Milch fließt.
Marius wird von hektischer Betriebsamkeit heimgesucht. Er steht auf und läuft zurück ins Haus. Im Keller findet er die alte flache Holzkiste, in der er Fotos und manch anderen Kram aufbewahrt. Rasch kippt er den Inhalt auf den Boden und eilt wieder hinauf. Er legt
mehrere Lagen Zeitung in die Kiste und darauf eine Decke. Dann nimmt er noch eine Schüssel, in die er Wasser füllt und holt den Rest Hackfleisch. Die Katze würde sicher Hunger bekommen.
Zurück im Schuppen stellt er Kiste, Futter und Wasser neben die Decke, auf der die kleine Katzenfamilie liegt. Sein HERZ klopft, aber es ist kein beängstigendes Pochen. Verwundert stellt er fest, dass es Freude ist.
Ganz behutsam streckt Marius die Hand aus, berührt die Katze am Hinterkopf. Fast erstaunt es ihn, dass sie es geschehen lässt. Als er seine Hand unter ihr Mäulchen legt, SCHNÜFFELT sie ausgiebig an den Fingern. Still bleibt er
sitzen, spürt keine Kälte und merkt nicht, wie die Zeit vergeht.
Nach einer Weile, er weiß nicht, wie lange er hier gesessen hat, erhebt sich die Katze und inspiziert die Kiste. Und dann, Marius kann es nicht fassen, nimmt sie ein Junges nach dem anderen und bringt es in den Holzbehälter. Sie selbst schlappt ein wenig von dem Wasser und lässt sich dann bei ihren Kindern nieder, die sich sofort an sie KUSCHELN.
Marius nimmt die Decke, auf der noch spärliche Reste der Nachgeburt zu sehen sind, rollt sie zusammen und verlässt nach einem letzten Blick den Schuppen.
Morgen würde er das Ordnungsamt und den Tierarzt anrufen. Die Mutter und
auch die Kleinen müssen untersucht werden. Vielleicht, ja vielleicht kann er die Katze mit ihren Jungen behalten, eine Weile wenigstens.
Ist es nicht ein kleines Wunder, dass er zur richtigen Zeit hinausgeschaut und das Jammern gehört hat?
Er spürt, dass die Furcht vor den kommenden Tagen und vor dem Weihnachtsfest Platz gemacht hat für etwas anderes: Dem Leben, auch dem neuen Leben Raum und Schutz zu geben und dafür muss er aktiv werden, Trübsal und Dunkelheit hätten keine Chance mehr. Ein wenig lächelt er über seine Gedanken.
Es würde zwar kein Weihnachten mit
strahlendem Lichterglanz und leuchtenden Kinderaugen werden, aber er ahnt, dass sich sein Inneres zu füllen beginnt mit etwas Hellem, für das er keine Worte hat.
Morgen, denkt er, als er die Haustür schließt und Licht macht.