Lieber Markus, frage dich nicht, woher ich deine Adresse habe. Ich bin seit einem halben Jahr clean. Dafür musste ich alles hinter mir lassen. Meine „Freunde“, meinen Bruder. Es tut mir so leid, was er dir damals angetan hat. Das du ihn deswegen angezeigt hast, war genau richtig gewesen. Warum er dich daraufhin wieder Krankenhaus geschlagen hat, war einfach nur Dummheit. Und du wirst es nicht glauben; als er aus dem Knast raus war, hat er doch tatsächlich wieder jemanden
zusammen geschlagen. Er hatte eine Stinkwut auf dich, weil du ihn in den Bau gebracht hattest und er dort anscheinend sehr beliebt war. Manche lernen eben nie aus ihren Fehlern. Jetzt sitzt er wieder. Ich war damals auch so dumm gewesen. Wieso hatte ich mich nicht gegen meinen Bruder aufgelehnt? Ich hätte ihn mit dir anzeigen sollen, nach dem er dich zusammen geschlagen hatte. Ich hätte dich jeden Tag im Krankenhaus besuchen sollen, anstatt es mir von meinem Bruder verbieten zu lassen. Aber was mache ich dämliche Kuh? Lasse mich auf seinen besten Freund ein und falle in einen Drogensumpf. Dabei verlor ich meine
beste Freundin, die mir geraten hatte, nicht auf meinen Bruder zu hören und mich von ihm und seinen Freunden fernzuhalten. Hätte ich doch nur auf sie gehört. Mit dir hätte ich ein schönes Leben gehabt. Schließlich hattest du einen Job und ein festes Einkommen. Ich glaube, mein Bruder war einfach nur neidisch auf dich. Schließlich machtest du was aus deinem Leben. Er sah dich und wünschte sich so zu sein, wie du. Hätte er sich nur mal ein Beispiel an dir genommen, anstatt an seinen „Freunden“. Wo waren sie, als er ins Gefängnis musste? Ich habe in den letzten Jahren sehr oft an dich gedacht. Nur so habe ich es
geschafft zu überleben und aus dem Sumpf rauszukommen. Jeden Tag fragte ich mich, wie mein Leben wohl gewesen wäre, wenn ich auf mein Herz gehört hätte. Du warst vielleicht nicht meine Nummer eins. Aber ganz sicher ganz weit oben auf meiner Top ten Liste. Mir gefielen deine Komplimente. Sie waren weder schleimig, noch widerwärtig. Du hast mich mit Respekt behandelt. Nicht so, wie das Arschloch, mit dem ich mich stattdessen eingelassen hatte. Für ihn war ich nichts weiter, als ein feuchtes Loch. Das war eines der Gründe, warum ich mit den Drogen anfing. Einerseits wollte ich selber ausprobieren, wie es ist. Neugierde eben. Andererseits hatte
ich das Leben irgendwie satt und dachte, das ich unter Drogeneinfluss das Leben besser ertrage. Ich habe auf der Straße gelebt, gebettelt, geklaut… Es ist ein Wunder, das ich nicht verhaftet wurde. Einmal wäre ich beinahe dran gewesen. Zum Glück war ich schneller gewesen und konnte mich in einer Menschenmenge verstecken. Das war der Auslöser gewesen, eine Therapie anzufangen. Es hat lange gedauert, bis ich einen Therapieplatz bekommen habe. Ich dankte Gott auf Knien dafür, als ich endlich einen Platz hatte und versprach, das ich mich zum Positiven ändern werde. Es gab Höhen und Tiefen. Letztendlich
habe ich es geschafft. Seit einer Woche habe ich einen Ausbildungsplatz, dank meiner Therapeutin. Ich bin die Älteste in der Klasse. Es ist ein merkwürdiges Gefühl. Aber ich habe mir geschworen, das ich das durchziehe, egal was kommt und von den Drogen fern bleibe. Warum ich dir schreibe, ist, das ich mich von einer alten Last befreien will. Ich möchte, das du weißt, wie Leid mir alles tut und das das dumme Mädchen von damals angefangen hat selbstständig zu denken. Ich werde zukünftig gutgemeinte Ratschläge annehmen, aber mir von niemanden in mein Leben reden. Ich will nicht wieder den Selben Fehler machen, wie
damals.
Ich weiß, es gibt kein zurück mehr. Du sollst nur wissen, wie leid es mir immer noch tut.
Gruß
Silvia
P.S.: Wenn ich an dich denke, verspüre ich ein seltsames Kribbeln im Bauch. Ich glaube, ich liebe dich noch.