Kurzgeschichte
Hundert Prozent

0
"Sie durften das Thema des Aufsatzes frei wählen und entschieden sich ihr Innerstes preis zu geben"
Veröffentlicht am 25. Oktober 2020, 16 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
http://www.mystorys.de
Sie durften das Thema des Aufsatzes frei wählen und entschieden sich ihr Innerstes preis zu geben

Hundert Prozent

Titel

Wenn ich zurückdenke, fühle ich nur Schmerz. Meinen Eltern rutschte schnell mal die Hand aus und wurden laut verbal. Oft hatte ich das Gefühl, das ich gar nichts richtig machen kann und mich gefragt, was wäre wenn ich nicht mehr da wäre. Wenn ich einfach abhauen würde. Würden sie mich vermissen. Ich glaubte nicht daran. So schnell, als möglich zog ich aus und kam in einer netten WG unter. Tagsüber ging ich zur Uni, Nachmittags bis zum frühen Abend, so wie am Wochenende, jobbte ich ein wenig. Es war eine schöne Zeit. Meine WG-Leute waren echt geile

Leute. Ich erinnere mich gern an diese Zeit. Nur nicht an meine erste Freundin, die mich nur ausgenutzt hatte. Meine zweite Freundin hielt nichts von Treue. Die Dritte ließ ihre Laune an mir ab. Ansonsten lief da nichts zwischen uns ab. Dennoch musste ich ihr treu sein. Durfte keine Andere auch nur ansehen. Dann war ich Lehrer für Deutsch und Mathematik. Wie ich auf diese Zusammenstellung kam, weiß ich selbst nicht. Jedenfalls bekam ich sehr schnell eine Anstellung. Die Schule befand sich sogar in unmittelbarer Nähe meiner Behausung. Die ersten Tage verliefen solala. In der zweiten Woche erwischte ich mich immer

wieder, wie ich Selbstgespräche führe. Es war mir peinlich, aber keiner meiner Schüler lachte jemals darüber oder machte darüber Bemerkungen. Sie sahen mich mit seltsamen Gesichtern an. Kurz vor den Weihnachtsferien gab ich meinen Schülern den Auftrag, einen Aufsatz zu schreiben. Das Thema durften sie sich selber raus suchen. Sie durften schreiben, worüber sie wollten. Sei es ihr schönstes Ferienerlebnis, aktuelle Geschehnisse, Beschreibungen, Buchinterpretationen oder oder oder. Wer das Gefühl hatte, sich etwas von der Seele schreiben zu müssen und nicht wollte, das ich erfuhr, wer es geschrieben hat, durfte mir seinen

Aufsatz anonym abgeben. Ohne Angabe von Name, Klasse und Datum. Außerdem versprach ich, das ich nichts aus der Hand geben und nichts weiter erzählen würde. Tage zuvor hatte ich einen Bericht gesehen, wo es hieß, das in jeder klasse ein bis zwei Schüler sitzen, die Gewalt ausgesetzt sind. Sei es psychisch, physisch, verbal, sexuell oder ähnlich. Ich wollte wissen, ob es in meiner Klasse solche Fälle gibt, wie viele und wie sie aussehen. Daher ließ ich ihnen diesen Aufsatz schreiben und hoffte, auf diese Art etwas über meine Schüler herauszufinden. Die Aufsätze wurden von den Schülern

selbst eingesammelt. Keiner sagte auch nur ein Wort. An ihren Gesichtern konnte ich ablesen, was mich erwarten würde. Beim groben Durchblättern sah ich nirgends einen Namen. Ich bekam ein ungutes Gefühl. Weihnachten ist eh scheiße. Ich habe nur wenige gute Erinnerungen daran. Die Aufsätze passten ganz gut. Schon der Erste bestätigte das ungute Gefühl, welches ich Tage zuvor hatte. Denn was ich da las, ließ mich erschauern und mich fragen, was für Menschen Kinder in die Welt setzen. Der zweite Aufsatz war nicht besser. Auch der Dritte nicht. Nach dem lesen des fünften Aufsatzes, brauchte ich einen

starken Kamillentee. Aber der brachte nicht die erwünschte Wirkung. Deshalb lief ich zur Tankstelle und besorgte mir einen 5-Liter Glühweinkanister. Die nächsten zwei Aufsätze überflog ich nur. Danach machte ich eine lange Pause. Ich trank den Kanister zur Hälfte aus und legte mich danach ins Bett. Das Zimmer drehte sich um mich und mir wurde übel. Wenige Minuten später schlief ich ein. Geplagt von Alpträumen, stand ich nach nur wenigen Stunden verkatert auf. Zuerst wollte ich mich auf den Kanister ran machen. Beschloss dann aber die Vernunft siegen zu lassen, und machte mir Kaffee. Der schmeckte genauso, wie ich mich fühlte. Einfach nur scheiße.

Traumfetzen spukten noch in meinem Kopf herum und ich bereute, das ich meinen Schülern den Vorschlag gemacht hatte, sich alles von der Seele zu schreiben. Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, auf das, was sie mir geschrieben hatten. Wusste nicht, wie viel Elend und Leid es in dieser Welt gab. Das sich so viel in naher Umgebung abspielt und keiner bemerkt es. Ein ganzer Stapel Aufsätze lag noch vor mir. Ich nahm mir vor, sie nur schnell zu überfliegen und mich emotional nicht darauf einzulassen. Doch dies schlug fehl. Jede Geschichte ging mir zu Herzen und irgendwie ahnte, vielmehr wusste, ich, wer was geschrieben hatte. Zwei

Aufsätze hatten den Selben Inhalt. Außerdem ähnelte sich die Handschrift. Die Zwillinge schafften es nie ihre Hausaufgaben zu machen. De facto mussten sie es sein, die abends auf den Babystrich geschickt wurden. Aminah diejenige, deren Eltern, vor ihren Augen, durch eine Bombe umkamen. Ihr Bruder, das einzige Familienmitglied, das sie noch hatte, musste an die Front. Noch am Selben Abend wurde ihr ausgerichtet, das er umgekommen war. Von da an herrscht Schwärze in ihrem Kopf. Sie kann sich an nichts erinnern. Weder was kurz danach war, noch wie sie nach Deutschland kam. Zu Silvester bekommt sie stets eine Beruhigungsspritze, weil

die Knallerei sie an den Krieg und ihre Familie erinnert. Die Schrift war wie sie, klein und zierlich. Ich hatte Probleme sie zu entziffern. Jana war eindeutig zu erkennen. Sie kam jeden Tag fett geschminkt in die Schule. Ich hatte mich immer gefragt, wieso sie es mit dem Make up so sehr übertreibt und was ihre Eltern dazu sagten. Jetzt hatte ich die Antwort auf all meine Fragen. Sie wurde jeden Tag geschlagen. Und die Spuren überdeckte sie mit viel zu viel Schminke. Über die Hälfte der Aufsätze hatte ich durch. Ich fühlte mich beschissen. Fassungslos. Hilflos. Wie konnte das sein, in einem Land, wie diesen? Es wird

sich fürchterlich aufgeregt, wenn ein Blatt aufs Nachbargrundstück fliegt, aber … Ich trank den Rest des Glühweins zackig aus und legte mich ins Bett. Wieder plagten mich Alpträume. Noch vor Morgengrauen stand ich auf und stellte mich unter die Dusche. Es half nur bedingt, die letzte Nacht von mir zu waschen. Zwei Tassen Kaffee später nahm ich mir die restlichen Aufsätze vor. Die waren, wie all die anderen. Ich sah meine Schüler mit anderen Augen und fragte mich, wie ich zukünftig zu ihnen sein sollte. Samantha durfte ich nicht berühren. Auch nicht mal leicht an der

Schulter. Und auch bei Andreas musste ich vorsichtig sein. Bei Falk konnte es bald passieren, das er Amok läuft. Er hatte unmissverständliche Andeutungen. Sebastian und Maria schwebten in Lebensgefahr. Genauer gesagt, Suizidgefährdet. Paul musste aufpassen, das er sich nicht noch tiefer schnitt. Ich fragte mich, ob die anderen Lehrer ahnten, was in den Elternhäusern ihrer Schüler abgeht. Ob sie herausgefunden hätten, wer welchen Aufsatz geschrieben hatte. Wieso fiel es mir eigentlich so leicht? Ich kannte sie doch noch nicht mal ein halbes Jahr. Und dennoch waren sie mir so vertraut, als würde ich sie schon mein ganzes Leben kennen. Jetzt

kannte ich ihre Leben und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte ihnen versprochen nichts zu unternehmen. Alles für mich zu behalten. Wenn ich etwas verspreche, dann halte ich es auch. Was mich sprachlos machte, war Celines Aussage, das sie schon mehrfach ihre Eltern beim Jugendamt angezeigt hatte und jene nichts unternommen hatten. Dabei fiel mir ein Fall ein, der sich vor ein paar Jahren abgespielt hatte. Damals lag eine junge Frau tot in ihrer Wohnung. Bei ihr hatte ein kleines Kind gelebt. Das Jugendamt soll gewusst haben, das diese Frau drogenabhängig war und dennoch das Kind in ihrer Obhut gelassen. Trotz der Gefahr, das sie sich wegen ihrer

Sucht nicht um das Kind kümmern kann. Es ließ mich alles nicht in Ruhe. Tagsüber spukte es in meinem Kopf herum, bei allem was ich tat und nachts hatte ich Alpträume. Ich brauchte dringend ärztliche Hilfe. Leider war ich nicht der Einzige. Als ich im hiesigen Krankenhaus anrief und nach einem Bett fragte, sagte man mir, das sie überbelegt seien. Ich ging sehr fiel spazieren. Trotz dicker Klamotten, drang die Kälte durch bis auf die Knochen. Es waren jedes mal Schmerzen. Körperliche Schmerzen heilt die Zeit. Seelische Schmerzen vergeht nie. Am letzten Ferientag nahm ich noch

einmal alle Aufsätze in die Hand und schrieb überall eine eins drunter. Ich machte keine Randbemerkungen. Ausdruck, Inhalt, Rechtschreibung blieb bei meiner Benotung unbeachtet. Die Eins war auch nicht für den Aufsatz gedacht. Sie diente lediglich als Metapher. Eine Eins zu geben war das Einzige, was ich, als Lehrer, der seinen Schülern ein Versprechen abgegeben hatte, für meine Schüler tun konnte. Zumindest war die Hoffnung da, das sie sich darüber freuen würden. Gleich nach dem ich die Klasse betreten hatte, teilte ich die Aufsätze aus. Verdutzte Gesichter sahen mich an. „Ich bedanke mich für euer Vertrauen,

welches ihr mir entgegen gebracht habt. Eure Aufsätze haben mich sprachlos gemacht. Ihr habt mein tiefstes Mitgefühl. Wenn ich irgendwas für euch tun kann, kommt zu mir und sagt es. Ich will nicht nur euer Lehrer sein, sondern in erster Linie euer bester Freund.“

0

Hörbuch

Über den Autor

Superlehrling

Leser-Statistik
3

Leser
Quelle
Veröffentlicht am

Kommentare
Kommentar schreiben

Senden
Zeige mehr Kommentare
10
0
0
Senden

165990
Impressum / Nutzungsbedingungen / Datenschutzerklärung