Hallo Papi
nachdem ich meine Koffer und Kisten ausgepackt und mein neues Heim gemütlich eingerichtet habe, finde ich Zeit, Deine Frage zu beantworten. »Warum gehst Du fort?«, hast Du mich bei unserem letzten Telefonat mit Wehmut in der Stimme gefragt. Und ich bin Dir eine Antwort schuldig geblieben. Im ersten Augenblick ist mir keine Erwiderung eingefallen, die gepasst hätte. Dazu stand der Möbelwagen mit einem Mal und doch nicht unerwartet vor der Tür. Nun sitze ich hier auf der Terrasse und blicke in den Sonnenuntergang, der die junge Birke golden leuchten lässt. Hier habe ich, was ich für mich
zum Leben brauche und in der alten Heimat nicht fand: innere Zufriedenheit, die mich leichter atmen lässt. Ich bin gegangen, weil ich nicht bleiben konnte. Natürlich könntest Du jetzt Dutzende Argumente anbringen, dass »Flucht« kein Mittel der Wahl ist und so weiter, aber ich erwidere Dir: Ich bin angekommen, in meinem Leben. Zudem ist es gleichgültig, wo man seinen Kopf bettet. Man erhofft sich am neuen Standort, was am alten nicht mehr zu finden ist. Solange ich zurückdenken kann, habe ich Umzüge stets als Fortschritt betrachtet, da ist die Größe dieses Schrittes nicht entscheidend. Einzig, was zurückbleiben muss, schmerzt ein wenig. Doch dieses Leid wird gemildert durch die neuen Dinge, die es zu erleben gilt.
Jedem Ende wohnt ein Anfang inne. Und das ist, was einen weiterbringt. Wir beide haben es am eigenen Leib und in der Seele erfahren. Deine Wege waren nicht meine und meine Wege nicht die Deinen. Trotzdem blieb unsere Verbindung bestehen, egal, welche Entfernungen in der Vergangenheit zwischen uns zu messen waren.
Deine Sorge, ich könnte im Treibsand der Fremde nicht zurechtkommen, hat sich für mich durch glückliche Fügungen – vielleicht auch Vorsehung – zerstreut, auch wenn die Verständigung im ersten Moment mehr als holperig war. Unsere Nachbarin, deren unbeholfenes Deutsch uns anfänglich Lachen machte, wird mit jedem Tag vertrauter. Sie bemüht sich, uns in die Geheimnisse ihrer
Sprache einzuweihen, weil sie weiß, wie sich das anfühlt, fremd zu sein. Als junge Frau war sie der besseren Chancen wegen von Zuhause weggegangen und hatte in Deutschland Arbeit gesucht. Sie ging zurück, als ihre Mutter starb, damit der Vater nicht unversorgt war. Auch sie kämpfte um jede Vokabel wie ich heute, wenn ich versuche, mich im Laden an der Ecke verständlich zu machen. Das Lächeln, das meine unbeholfenen Worte erwidert, ermuntert mich, diesen Weg weiterzugehen.
Einzig, was zählt, ist das Gefühl, das dadurch entsteht – es erleichtert das Sicheinreihen in eine bestehende Ordnung, Einheit. Überall wird Neues manchmal ebenso argwöhnisch beäugt und Kontakte knüpfen erschwert. Ich
hege die Hoffnung, bald schon nicht mehr nur hilflos zu lächeln, wenn ich angesprochen werde. Ob ich jemals frei heraus antworten kann, ist ungewiss, weil das Erlernen von Vokabeln und Floskeln nicht ausreicht. Aber es ist nicht wichtig für mein Gefühl, am richtigen Platz in meinem Leben zu sein.
Die ungewohnten Geldscheine – im ersten Moment sehen sie aus wie Monopoly-Spielgeld – fassen sich mit der Zeit vertraut an. Die Klänge aus dem Radio muten nicht mehr exotisch an, je öfter ich mich damit einhülle. Die Straßenschilder mit den unaussprechlichen Namen schrecken mich heute noch, weil ich mich schwertue, im Vorbeifahren die Buchstaben zu enträtseln. Weißt Du, Papi, ich denke, man gewöhnt sich
an die Gegenwart, wo und wie sie auch sein mag. Mein Auge scheint mit jedem Morgen weniger überrascht, wenn es verschlafen aus dem Fenster blickt. Das Hundegebell aus Nachbars Gärten nervt mit jedem Mal weniger, wie man sich auch damit anfreundet, dass der unbelehrbare Hahn auf dem Grundstück nebenan die Morgensonne mit einem lauten Kikeriki begrüßt. Sogar mein eigener Rhythmus passt sich spürbar den neuen Bedingungen an.
Und am Abend sitze ich bei einem Glas Wein, dessen Geschmack mich die neue Heimat kennenlernen lässt, und esse Brot, dessen Krume sich noch fremd auf der Zunge zeigt. Nur manchmal überkommt mich die Sehnsucht nach dem Altbekannten. Da
wünschte ich mich ein Stück weit zurück, weil die gegenwärtigen Eindrücke bedrohlich das Vertraute verdrängen, dass ich fürchten muss, mich einmal nicht mehr zu erinnern. Dann vermisse ich den Geruch frischgebackenen dunklen Brotes und wünsche mir auf dem Teller Vertrautes, das hier nicht so einfach zu bekommen ist, weil es fremd ist. Dann frage ich mich ein Stück weit, ob es richtig war, das Gewohnte aufzugeben für das Wagnis, das meinem Leben einen Kick geben sollte. Doch jedes Neue ist irgendwann ein Teil des eigenen Lebens und damit nicht mehr unberührt. So ist es mir in der Vergangenheit ergangen, wenn ich in eine unbekannte Stadt gezogen oder an einen neuen Arbeitsplatz gekommen bin. Zuerst überwiegen die
Neugier und die Freude am Entdecken der Terra incognita. Da werden alltägliche Vorgänge zu abenteuerlichen Momenten, bis sie einem »in Fleisch und Blut« übergegangen ist. Wenn ich heute an den Fassaden der Häuser vorbeischlendere, aus deren geöffneten Fenstern Unverständliches aus einem Fernseher heraus auf die Gasse schallt, wenn ich hinter dem behelfsmäßigen Bolzplatz über die sandigen Feldwege spaziere und unbekannte Pflänzchen am Wegrand sehe oder wenn ich mit hilflosem Blick die Aufschriften der Waren im Tante-Emma-Laden an der Ecke zu entziffern versuche, dann weiß ich, ich bin fremd. Manchmal schmerzt dieses Gefühl mehr als der Abstand zu Vertrauten.
So ähnlich fühlt es sich wohl auch für diejenigen an, die aus für uns fremden Ländern in unser Leben treten. Sie haben ihre eigenen Gründe, diesen einen großen Schritt zu tun. Ich habe mich damals oft gefragt, was sie bei uns suchen, und war oft auch befremdet, wenn sie sich auf der Straße unter die Menschen mischten. Inzwischen ist dieses Stadtbild zur Gewohnheit geworden und viele mögen die Farbtupfer nicht mehr missen, die sie hinterlassen. Hier ist es für mich ähnlich. Ob ich eines Tages das Gefühl haben werde, alles zu kennen, das in mir heute noch ungläubiges Staunen hervorruft?
Papi, ich schreibe Dir dies, weil ich möchte, dass Du mich verstehst. Und weil ich möchte, dass Du weißt, dass es mir gut geht, wo ich
jetzt bin. Heimat ist, wo dein Herz schlägt ... mein Herz schlägt für mein Leben in der Fremde. Und das ist gut so.
Ich hoffe, diese Zeilen erreichen Dich, bevor Du Deine eigene Reise in die Fremde antrittst. Dahin kannst Du sie ja nicht mitnehmen. Ich würde Dich gerne fragen: Warum gehst Du fort? Was wird Dich dort erwarten? Doch Deine Antwort schmerzt mich zu sehr, dass ich lieber schweige. Ich wünschte mir, Du könntest mich noch ein Stück weit begleiten. Doch unsere Wege trennen sich – wieder einmal, muss ich hinzufügen. Jeder findet seine Heimat in seinem Leben, ganz egal wo und wie. Ich habe meine Heimat gefunden. Mir bleibt nur noch Dir ein letztes Mal Folgendes zu wünschen: Lebe wohl.