KIESELSCHNECKEN
Celi, wenn du einer Kieselschnecke begegnest, kann es nur bedeuten, dass du dich sehr weit von Bokkbergen entfernt hast. Mehrere Tagesreisen, um genau zu sein, denn diese ganz sonderbaren Weichtiere findet man nur sehr weit südlich, in den sumpfigen Hochmooren von Draachen. Eine Gegend, in der selbst so wagemutige Abenteurerinnen wie du, nichts zu suchen haben.
Dennoch kann ich nicht ausschließen, dass meine kleine Nichte auf ein solches Tier treffen wird, auch wenn sie selten geworden sind und die Wege der Menschen nur ungern kreuzen. Aus gutem Grund, denn diese Schneckenart wurde in grauen Vorzeiten mit geradezu fieberhaftem Eifer verfolgt, gejagt und getötet. Nicht ihres Fleisches wegen, nein, das stellte sich schnell als ungenießbar heraus und
verursacht beim Verzehr heftige Halluzinationen. Nein, es ist die Eigenart der Kieselschnecke, die morastigen Sümpfe stetig nach ganz besonderen Mineralien zu durchwühlen, welche sie so begehrt macht.
Sie ist eine Sammlerin, genau wie du, liebe Celi. Nur, dass sie keine alten Relikte hortet, oder Tierzähne, sondern die schönsten Steine, welche man sich vorstellen kann. Igmarine, Luzite, Mangresen und manchmal sogar die überaus seltenen Ahmeenseelen. Sie schmückt damit ihren Panzer, vermutlich um Artgenossen zu imponieren, oder einfach, weil sie eine angeborene Obsession für bunte Kiesel hat. So ist jede Schnecke ein Unikat, keine gleicht der Anderen und jedes Exemplar ist etwas ganz besonderes. Nicht nur besonders hübsch geschmückt, auch besonders eigensinnig.
Es gab und gibt wohl noch heute einige Menschen, meistens sind es Heiler, die Kieselschnecken als Haustiere halten. Was, unter uns, nicht besonders aufwändig ist, schließlich braucht man nur einen einigermaßen gut versumpften Teich im Garten und jede Menge Salat, um sie glücklich zu machen. Und Bücher. Richtig, Bücher, denn ob du es glaubst oder nicht, diese Schnecken können lesen. Woher sie dieses Wissen haben? Nun, man munkelt, dass der Ursprung dieser Eigenart bei einer Kieselschnecke namens Cinora liegt. Sie hauste einst in den alten Gemäuern des Alchemisten Alois Ftent, dessen Verbleib bis heute ungeklärt ist. Der von Cinora übrigens ebenfalls, gut möglich, dass sie sich ein anderes Zuhause suchte, oder noch immer die Lande auf der suche nach besonderem Lesestoff durchstreift.
Die Gerüchte besagen weiter, dass sie in Ftents ausufernder Bibliothek, gelernt hätte, wie man die Schrift der Menschen entziffert – und Buchseiten umblättert, was ja nicht ganz unwichtig ist, vor allem bei Büchern, mit mehr als zwei Seiten. Dieses Wissen gab sie von da an ihren Artgenossen weiter, so dass auch heute noch Kieselschnecken hin und wieder in besonders alten, von Menschen längst vergessenen Buchsammlungen gefunden werden.
Wie gesagt, sie scheuen unsere Gegenwart, so wird es an ein Wunder grenzen, solltest du wirklich auf eine treffen. Falls doch, sei gewarnt. Auch wenn sie friedlich und gemütlich wirken, wissen sie sich doch zu wehren, falls man ihnen unangenehm nahe kommt. Ihr steingespickter Panzer ist eine gute, stumpfe Waffe, vor allem im Sprung. Du hast recht gehört, sie können springen!
Dabei ziehen sie sich ruckartig in ihr Gehäuse zurück und stoßen sich gleichzeitig mit aller Kraft vom Boden ab. Drei bis vier Schritt schaffen die Besten, in die Höhe zu schnellen. Oder seitlich, je nachdem, wo der potentielle Feind gerade steht.
Bedenkt man dabei, dass die ausgewachsenen Exemplare Kürbisgröße erreichen können, gleicht eine heranspringende Kieselschnecke gut und gerne einer Kanonenkugel. Sicher, eine mit hübschen, bunten Steinen geschmückte Kanonenkugel, was die Sache aber nicht weniger schmerzhaft macht.
Nun kenne ich meine mutige Celi ja nur zu gut und weiß, dass du ein solches Tier zwar nicht erlegen möchtest, aber sicher aus nächster Nähe studieren. Dazu musst du ihr Vertrauen gewinnen.
Wirklich, du musst ihr zeigen, dass du eine Forscherin bist, keine Kriegerin. Nach allem, was ich gerade beschrieben habe, sollte dir schon eine Idee gekommen sein, wie man das am besten anstellt: richtig, Bücher. Gib ihr was zu lesen, ganz einfach.
Nicht unbedingt dieses Buch, denn Schneckenschleim ist ein ausgezeichneter Klebstoff. Jede Seite, die damit in Berührung kommt, wird bis in alle Ewigkeit mit der Vorigen verschmolzen und damit unlesbar sein. Aber da ich weiß, dass du ohnehin immer ein paar Bücher mit dir herum schleppst, selbst auf den längeren Erkundungsreisen, findet sich bestimmt ein Exemplar, welches du entbehren kannst. Die seltsamen, verschwurbelten Ausführungen deines Großvaters Scoban zum Beispiel. Oder einen dieser Leitfäden für
Reisende, von denen ohnehin noch viel zu viele in Zondrams Bibliothek verstauben.
Im Endeffekt ist es egal, was du der Schnecke zu lesen gibst, denn ich denke nicht, dass die meisten dieser Wesen besonders viel Wert auf hohe, literarische Kunst legen. Sie saugen nur einfach gern die Buchstaben in sich auf, überfliegen mit ihren Stielaugen die Zeilen und ergötzen sich an der Tatsache, zu verstehen, was dort geschrieben steht. Dafür reicht notfalls auch das Handbuch der Samtwollschafzucht des Bauern Ogran, so ermüdend es auch für unsereins sein mag.
Denn wenn du es erst einmal geschafft hast, die Kieselschnecke an ein Buch zu fesseln – natürlich nur im übertragenen Sinn – kannst du sie ganz in Ruhe von allen Seiten studieren. Du wirst schnell feststellen, wie wunderschön diese
seltenen Tiere sind, wie fein ausgewählt und aufeinander abgestimmt ihre Schneckenhausbekieselung ist. Und, wenn du ganz genau hinschaust, ihren kindlich faszinierten Blick bemerken, wenn sie ganz in die Zeilen versunken liest. Ein Blick, den man nur von Menschen kennt, und ich insbesondere von dir. Du wirst feststellen, wie ähnlich sie uns sind, auch wenn ihr Äußeres nicht den Anschein macht und wie sehr sie es ebenfalls genießen, in aufgeschriebene Geschichten einzutauchen.
Wenn du ihr letztendlich das Buch auch noch als Schenkung überlässt - was nur sinnvoll ist, denn danach kannst du ohnehin nichts mehr damit anfangen – wird sie sogar so etwas wie Dankbarkeit zeigen. Kein Lächeln, nein, dazu sind sie nicht fähig, aber ein kleines,
freundliches Nicken, wenn du dich langsam und vorsichtig zurückziehst. Sie wird sich an dich erinnern und, falls du wieder einmal gleichen Weges kommst, wirst du dort einen ganz besonders schönen Stein vorfinden, an dem ganz sicher noch ein wenig Schneckenschleim klebt.