Vorwort:
Anno 1955, zehn Jahre nach Kriegsende, herrschte in Deutschland emsige Aufbruchstimmmug. Man werkelte am kommenden Wirtschaftswunder und hatte wohl wichtigeres zu tun, als Kinder aufzuklären. Man überließ die Aufklärung „der Straße“, die bei uns der Schulhof war. Die Erkundung der Sexualität geriet daher zu einem mühsamen, aber spannenden Puzzlespiel aus Wahrheiten, Halbwahrheiten, Irrungen und Verwirrungen. Darunter fand sich auch manch amüsantes Puzzleteilchen …
Anno 1955
„Jungs, i waiß, wo’n Puff isch!“ Diese schwäbisch eingefärbten Worte aus Peterles Mund sorgten im Pausenhof unserer Schule für ungläubiges Staunen, denn als einer der Kleinsten und Jüngsten der Klasse hatte unser Peterle bisher nämlich noch nie etwas Wissenswertes zu unserer Aufklärung beigetragen. Und nun dieser Knüller! Zwar wussten wir bereits, was ein Puff ist (wo Männer erstaunlicherweise für etwas zahlen, was sie zuhause umsonst kriegen können) und was dort drinnen getrieben wird („s’Saichzeugs z’samme stecke“, wie es in unserem damaligen
Alter noch hieß), doch einen Puff gesehen hatte noch keiner, zumal es damals ja solche Einrichtungen offiziell gar nicht gab. Nachdem der Kreis der Neugierigen um ihn herum immer größer geworden war, erbot sich Peterle - durch unser unverhofftes Interesse geschmeichelt - uns den Puff nach Schulschluss zu zeigen.
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Der erste Eindruck war enttäuschend. Das besagte Objekt erwies sich als schmuckloser, überraschend kleiner Zweckbau mit Flachdach und lag einsam am Rande eines großen, leeren Platzes, auf dem zweimal in der Woche ein Markt stattfand und an dem für gewöhnlich
Omnibusse aus der Region ein- und ausfuhren. Einige von uns hatten es vorher schon flüchtig gesehen, ohne allerdings zu ahnen, welches Geheimnis sich hinter diesen Sandsteinmauern verbarg. Hinter der Rückseite des Puffs verlief eine steil ansteigende Straße, die durch eine mächtige Mauer abgestützt war und die den Hügel hinaufführte, auf dem unsere Schule lag.
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Oben am Geländer dieser Mauer angelehnt bezogen wir Stellung und blickten auf die Gebäuderückseite herab, an der sich gleich zwei Türen befanden (Ein- und Ausgang, wie wir vermuteten). Wir harrten wir geduldig der Dinge, die
länger auf sich warten ließen, als uns lieb war; am frühen Nachmittag waren halt nur wenige Passanten unterwegs. Endlich steuerte einer von ihnen schnurstracks auf das Gebäude zu und verschwand hinter der linken Türe. Wir blickten uns vielsagend an und feixten schon erwartungsfroh. Schneller, als wir dachten, kam er durch dieselbe Tür wieder heraus. „Du hasch es awwer eilig g’habt!“ rief ihm einer von uns zu, und die ganze Bande fing an zu lachen. Der arme Mann sah uns entgeistert an und verzog sich kopfschüttelnd.
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Den Nächsten, einen älteren Herrn, begleitete unser Gelächter bereits zum
Puff hinein. Als er - noch wesentlich rascher als der Erste - sich wieder zeigte, bekam er von oben zu hören: „Hasch wohl nix g'funden?“ Wir brüllten vor Lachen; am lautesten selbstverfreilich jene mit frischem Stimmbruch. Das Opfer sah mit grenzenlosem Erstaunen zu uns herauf, was natürlich die allgemeine Heiterkeit noch steigerte. Wütend drohte er uns mit der Faust und rief etwas Unverständliches, das in unserem Gejohle unterging. Hier oben auf der Mauer fühlten wir uns unangreifbar, und wir ließen ihn dies natürlich auch spüren. Was hatte er denn auch auf seine alten Tage noch im Puff verloren!
Als nächstes gerieten uns gleich zwei Opfer ins Visier: Ein junges Paar schlenderte Hand in Hand auf den Puff zu („der bringt sei Hur wohl selber mit?“ mutmaßte einer), trennte sich jedoch zu unserer Verblüffung vor den beiden Türen. Er ging links und sie rechts hinein. Unser vorfreudiges Lachen verstummte. Dass auch Frauen ein Puff aufsuchen, war uns völlig neu. Da aber keiner sein Unwissen an die große Glocke hängen wollte, herrschte zunächst gespanntes Schweigen, bis sich zuerst der Mann blicken ließ. „Dei Alte wollt wohl net?“ grölte einer hinab, und unsere Spannung entlud sich in wieherndem Gelächter. Der Mann blickte uns verstört
und fragend an. Als sich kurz darauf die Frau zu ihm gesellte und noch verdatterter zu uns aufsah, gab es kein Halten mehr. Teils kraftlos am Geländer hängend, teils mit Tränen in den Augen, johlte die ganze Meute vor Vergnügen und schickte dem Pärchen eine Lachsalve nach der andern hinterher. „Peter, du bisch der Gröschte!“ lobte unser Klassenältester den glückstrahlenden Peter und hieb ihm anerkennend auf die Schulter. Als Held eines gelungenen Tages sonnte sich Peter in seinem Ruhmund stand nun natürlich zwischen den Großen der Klasse.
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Der sprichwörtliche Fall nach dem
Hochmut ließ aber nicht lange auf sich warten. Erste Anzeichen einer Ernüchterung zeigten sich, als am anderen Ende des Platzes ein Omnibus anhielt und ein Teil der Fahrgäste - Männlein wie Weiblein - eiligst dem Puff zustrebte und unter Missachtung unseres Empfangsgelächters hinter den Türen verschwand. „Denen pressiert’s awwer“ feixte Peter und sah sich beifallheischend um. Doch einigen war das Lachen schon vergangen, nachdem die ersten Kunden das Gebäude bereits wieder verließen, bevor es die Letzten betreten hatten. „Du Peter, bisch du dir sicher, dass des en Puff isch?“ zweifelte einer von uns. „Ja natürlich, i hab’s doch
mit eig’ne Auge g’säh. Kommt mit ond i zeig’s euch!“
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Wir warteten, bis sich der Puff wieder geleert hatte, und pilgerten trotz mulmiger Gefühle entschlossen die steile Straße zum Platz hinunter. Unauffällig nach allen Seiten spähend näherten wir uns dem Gebäude von seiner Vorderseite und lasen dort schließlich, in Sandstein gemeißelt, was der kundige Leser sicherlich schon längst erahnt hat: Öffentliche Bedürfnisanstalt. „Seht ihr, dass i recht g’habt hab?“ blaffte Peter. Nun ja, es klang logisch. Schließlich gehört Sex ja zu den wichtigsten Bedürfnissen des Mannes, wie jedermann
weiß. Doch andererseits kam es uns ziemlich dubios vor, dass sich hier ein Puff verbotenerweise und ungeniert in aller Öffentlichkeit präsentierte. Wir mussten dieser Sache auf den Grund gehen. Als keine Passanten mehr in der Nähe waren, schlenderten wir unauffällig zur Rückseite des Gebäudes und sahen neben jeder Eingangstür ein verwittertes Schild: Links mit der Aufschrift „Männer“, rechts „Frauen“. Der Mutigste von uns öffnete vorsichtig die linke Tür und lugte hinein. „Oh, leck mi am ...“ entfuhr es ihm, bevor ihn ein Lachkrampf beutelte. Dann sahen auch wir die schwarzgeteerte Prinzelwand mit der Ablaufrinne, und einer nach dem andern
fiel - auch um seine eigene Blamage zu kaschieren - in das beißende Gelächter mit ein. Der Puff war also ein WC!
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Aber warum zum Teufel nannte man es dann Bedürfnisanstalt? Was hier verrichtet wird, heißt ja Notdurft und erfolgt aus reiner Notwendigkeit, und nicht aus einem Bedürfnis heraus! Oder? Doch sei’s wie’s will: Wir waren allesamt Opfer einer sprachlichen Schönfärberei geworden. Und wieder einmal um eine Erfahrung reicher. Und Peter? Der hieß ab sofort wieder Peterle - auch „Puff-Peterle“ genannt - und zählte wieder zu den Underdogs unserer Klasse.