DAS DÉJÀ VUE
Ich bin hierher gereist, um Urlaub zu machen. Tristes Grau und Regen empfingen mich. Jetzt blitzen kleine blaue Löcher auf im Einheitsgrau. Darin leuchtet es golden.
Meine Füße tragen mich den geschwungenen Weg am Hang entlang. Zauberhafte Natur, kunstvoll angelegt, sorgsam in Schranken gehalten. Von weitem das Rauschen eines rasch fließenden Gebirgsbaches. Der Regen der letzten Stunden ließ ihn anschwellen.
Auf dem Abstieg Eintauchen in dschungel-ähnliches Grün, eng ineinander verwobenes Astwerk, blütenschwerer Duft, moosiger Pfad,
reich an Treppenstufen, hinunterführend in eine Schlucht. Das Rauschen wird lauter. Dann plötzlich schwingt ein schmaler Steg, fest gesichert in schmiedeeisernen Fesseln, über das reißende Wasser.
Fast zaghaft berührt mein Fuß den Steg, zögert noch vor dem nächsten Schritt. Erschrocken der erste Blick in die Tiefe. Die Wasser dort unten, vielleicht sind es 10 Meter oder mehr, tosen, reißen, schleifen, bohren, sägen sich durch einen Spalt, etwas mehr als einen Meter breit. Man muss schreien, um sich zu verständigen, so laut brüllen die kaum zu bändigenden Wasser in ihrer Urgewalt. Wie viele Liter mögen sich in jeder Sekunde durch diesen Spalt zwängen?
Ein Blick in die andere Richtung: nur wenige Meter nach dem Steg ein breiter, reißender Gebirgsfluss, der um Felsbrocken schäumt, über kleinere springt und alles mitreißt, was sich ihm sonst noch in den Weg stellen möchte. Weiter flussabwärts lassen Kajak-fahrer bunte Boote zu Wasser, Nussschalen gleich im nassen Toben. Ein Gefühl des Unbehagens macht sich in mir breit.
Abrupt wende ich meinen Blick erneut flussaufwärts. Ich beuge mich weit über das Geländer des Steges, genieße das auf-steigende Adrenalin. Was wäre, wenn ich über das Schmiedeeisen klettern würde? Noch mehr Adrenalin? Würde meine Kraft
ausreichen, um mich dem Sog zu entziehen? Oder würde das Adrenalin nach einem größeren Kick schreien? Ich könnte es doch ausprobieren! Hin und her reißt es mich: Abenteuerlust, Angst, Kick, der Ruf der Droge, Wagemut; schließlich ruft etwas ganz laut, fast spöttisch: „Tu’s doch, tu’s doch!“ Was hält mich jetzt noch ab?
Entschlossen übersteige ich den eisernen Halt, noch mit dem Gesicht zum Steg. Plötzlich bleiben alle Leute stehen, starren mich ent-setzt an, rufen mir etwas zu. Warnungen vielleicht? Ich kann sie nicht hören, bin wie abgeschaltet, während das Adrenalin immer mehr Macht über mich gewinnt. Als ich mich umdrehe, die Füße fest auf der Kante des
Steges, die Hände um die eiserne Reling gekrallt, geschieht etwas Sonderbares mit mir.
Ich fühle mich leicht, so leicht wie ein Vogel, und ich weiß, dass ich fliegen kann. Wie ein Vogel über das Wasser segeln, in den Himmel eintauchen, aufsteigen, mich fallen lassen, wieder aufgefangen werden von ausge-breiteten Flügeln, in den Lüften tanzen, über den Wassern schweben. Die Gewissheit wird stärker! Dann werfe ich mich in den Himmel!
Ich höre noch einen schrecklichen Schrei … Den der Zuschauer oder meinen eigenen? Danach nichts mehr. Plötzlich ein kräftiger Ruck. Ich breite meine Schwingen aus, sehe wie ein Körper auf den Beton des Wassers
kracht, in Bruchteilen eines Augenblicks von den Strudeln des Flusses eingesaugt und wenig später zertrümmert wieder ausgespien wird. An dieser Stelle färbt sich das Wasser für einen Augenblick rot. Dann der Rettungs-wagen, Polizei. Zu spät!
Ich segle über den Fluss, dessen Wasser wieder unschuldig um Felsen tosen, Kajaks tragen, Menschen mit ihrem Rauschen be-sänftigen, irgendwann ruhig werden, um sich mit anderen vereint viel später ins Meer zu ergießen.
Dann schneiden die Sicheln meiner Flügel Fenster in das Grau des Himmels, azurblaue Fenster. Ich tauche ein in die Unendlichkeit
des goldenen Sonnenlichts, welches daraus hervorbricht, wärmt, Geborgenheit schenkt und mich nie wieder loslassen wird.
Entsetzt weiche ich vom Geländer des Steges zurück …
©HeiO 03-05-2018