Junge Frau sucht sich selbst! Neu: Kapitel 8 und 9!
Traurig stand die junge Frau an dem immer noch frischen Grab. Die Sonne lachte auf ihr blondes Haar herunter, doch der Blick aus den grauen Augen war tränenschwer und die schwarze Schminke lief ihr ungehindert die Wangen herunter. Das sie extra ein Taschentuch eingesteckt hatte war ihr egal. Alles was für sie noch zählte war das sie nun ganz allein war.
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Sie konnte nicht verstehen das ihr Tobias sich selbst das Leben genommen hatte. Noch vor zwei Wochen waren sie so glücklich , sie sprachen von Heirat und Familie. Sie hatten sogar schon scherzhaft über Kindernamen gesprochen. Und nun stand sie hier an seinem Grab. Die Beerdigung lag jetzt acht Tage zurück und die Blumenkränze fingen an zu welken. Sein letzter Brief lag zerknüllt in ihrer Handtasche. Die Worte kannte sie längst auswendig sooft hatte sie den Brief schon gelesen:“ Vergib mir meine Feigheit und denk an mich ,June. Ich habe dich jede Sekunde geliebt!“ – „ Warum nur hast du mich verlassen?“ brach sie plötzlich schluchzend zusammen als sich auf einmal zwei Hände auf ihre Schultern legten. Hinter ihr stand eine ältere Dame die ihr wieder vorsichtig auf die Beine half. „Komm mein Kind!“ sagte sie leise zu ihr und führte sie vom Grab weg.
 Erst dann blickte June zu der Dame empor . Vor ihr stand eine elegante Frau die , wie sie selbst , ganz in Schwarz gekleidet war, und deren graues Haar so gar nicht zu dem energischen, blauen Augen passen wollte. Langsam gingen sie gemeinsam von Friedhof zum nahegelegenem Parkplatz. Als sie bei Junes kleinem, roten Corsa angekommen waren fragte die Dame ob sie June noch ein Stück begleiten dürfe und stellte sich als Meret Hoffmann vor. „ Sie dürfen aber gerne nur Meret zu mir sagen, ich denke wir haben uns noch viel zu erzählen!“ June war im ersten Moment etwas verwirrt und verlegen. Sollte sie wirklich eine fremde Person mitnehmen? Aber dann fiel ihr ein was Tobias gesagt hätte:“ Auf ältere Menschen sollte man immer hören, sie haben mehr erlebt als wir zusammen und können uns viel beibringen.“ Außerdem hatte die Frau ihr auf dem Friedhof geholfen also sagte sie zu.
 Nachdem June ihren Wagen vom Parkplatz gelenkt hatte fragte sie Meret wo sie denn gerne hin möchte. „In der Altstadt ist ein nettes kleines Café. Vielleicht haben Sie ja Lust mit mir noch eine Tasse Kaffee zu trinken. Darauf freue ich mich schon den ganzen Tag.“ - „ Ja, ein Kaffee ist genau das was ich jetzt brauche, wie komme ich dahin?“ antwortete June und hatte damit ein Lächeln in das alte Gesicht gezaubert. Meret freute sich sichtlich: „ Ich wusste doch gleich das wir uns gut verstehen würden. An der großen Kreuzung musst Du dich rechts halten – ich darf doch du sagen?“ Lächelnd blickte June zur Seite, womit alle Fragen beantwortet waren.
 Als sie eine gute viertel Stunde gefahren war sagte Meret zu ihr das sie sich einen Parkplatz suchen sollte, den Rest des Weges musste man laufen da man mit dem Auto nicht in die Altstadt durfte. Ein Parkplatz war schnell gefunden und die zwei Frauen machten sich gemeinsam auf den Weg. Noch bevor sie das Café erreichten konnte June sich eine Frage nicht verkneifen :“ Warum hast du mir geholfen?“ Meret überlegte einen Moment um die richtigen Worte zu finden. „ Du hast mich an mich selbst erinnert. Als mein Mann gestorben ist dachte ich , ich könne nie wieder lachen. Keiner konnte verstehen warum ich täglich zum Friedhof ging. Meine Freunde haben nur diese tollen Sprüche gesagt wie `Das Leben geht weiter!` oder `Das wird schon wieder. ` Nur für mich ging es eben nicht weiter. Meine Welt lag in Scherben und ich war alleine.
 Selbst unsere Kinder konnten mir nicht helfen. Meine Tochter wohnt schon seit zehn Jahren in Australien und ist dort auch sehr glücklich verheiratet. Sollte ich sie bitten wieder zurück zu kommen nur um ihre trauernde Mutter zu pflegen- das konnte ich ihr doch nicht zumuten.
Mein Sohn machte zu der Zeit gerade seine Doktorarbeit in Physik, also war er auch unerreichbar für mich und so stand ich wieder alleine da. Nach zweiundfünfzig Jahren Ehe! Unser Haus war auf einmal viel zu groß für mich. Ãœberall waren Erinnerungen an meinem Mann. Ich musste nur noch für mich kochen , keiner leistete mir Gesellschaft beim Essen. Oft passiert es mir noch heute das ich den Tisch für zwei Personen decke und erst viel später merke das keiner mehr kommt. Aber ich habe es geschafft weiter zu gehen. Ich bin in eine kleinere Wohnung gezogen und habe das große Haus verkauft. Ich gehe nicht mehr jeden Tag zum Friedhof und meine Freunde freuen sich das ich sie wieder besuchen komme. Nur das ich in mir drin immer noch genauso einsam bin weiß keiner. Alle loben mich wie tapfer ich bin, dabei könnte ich manchmal stunden lag heulen. Als ich heute am Grab meines Mannes war habe ich zu ihm gesagt, wenn nicht bald etwas passiert das mich hier hält würde ich zu ihm kommen. Ja und kurz darauf habe ich dich gesehen wie du so verzweifelt am Grab standest. Da wusste ich auf einmal, hier ist ein Mensch der dich jetzt braucht. Du kannst der armen Frau helfen ihren Weg zu finden damit sie nicht ewig so einsam bleibt. Das klingt jetzt wahrscheinlich furchtbar kitschig, oder?“
June war tief beeindruckt von den offenen Worten und schüttelte den Kopf. Mittlerweile waren sie am Café angekommen. Sie suchten sich einen ruhigen Platz in einer der vielen, kleinen Nischen. Die runden Tische waren mit grünen Deckchen gedeckt. Auf jedem Tisch stand eine zierliche Vase mit je zwei Tulpen was dem ganzen einen freundlichen Charme verlieh. In den Korbsesseln lagen bequeme Kissen und man konnte sich entspannt zurücklehnen. Nachdem die Beiden bei der freundlichen Bedienung ihren Kaffee bestellt hatten forderte Meret June auf ihre Geschichte zu erzählen.
 June erinnerte sich zurück an die schöne Zeit als Tobias noch bei ihr war. Gedankenversunken dachte sie daran was sie alles erlebt hatten und was sie noch alles erleben wollten. Sie wusste gar nicht wo sie anfangen sollte und das sagte sie auch. „Erzähl mir wie ihr euch kennen gelernt habt!“ entschied Meret für sie. Unwillkürlich musste June lächeln. Ja, das war schon eine komische Geschichte.“ Es war vor zwei Jahren als Tobias im wahrsten Sinne des Wortes meinen Weg kreuzte.“ Fing sie an. „ Er jobbte damals bei einer dieser unzähligen Fahrrad-Kurierdienste. Ich werde diesen Tag wohl niemals vergessen. Es war der 26.April und ich hatte mich mal wieder mit meinem damaligem Freund furchtbar gestritten. Ich weiß noch wie ich mich wütend in mein Auto setzte und einfach losgefahren bin kurz nachdem ich zu meinem Ex gesagt habe das er mich nie wieder sieht, ich hätte die Nase voll von ihm! Es hat draußen in Strömen geregnet und man konnte fast nichts sehen. Ich habe überhaupt nicht auf den Verkehr geachtet als es plötzlich krachte. Mit großem Schrecken stellte ich fest, das ich einem Fahrradfahrer die Vorfahrt genommen hatte. Gott sei Dank bin ich wenigsten langsam gefahren wegen dem schlechten Wetter, wer weiß was sonst noch passiert wäre.“ In diesem Moment brachte die Bedienung ihre Bestellung und June nahm dankbar den ersten Schluck. Danach sprach sie weiter:“ Auf jeden Fall steht da dieser gutaussehende Typ vor mir und ist stinksauer auf mich. Er hat mich angeschrieen ob ich meinen Führerschein im Lotto gewonnen hätte, ich wäre ein Risiko für jeden Straßenverkehr und ähnliche nette Sachen. Ich konnte überhaupt nichts sagen, so geschockt war ich. Das hat ihn dann ganz schön durcheinander gebracht, mit einem mal war er total um mich besorgt. Ob er mir irgendwie helfen könne hat er gefragt. Er war so lieb und dabei hatte ich ihn doch angefahren. Er meinte dann auf einmal es sei ja fast nichts passiert und die Polizei müsse man auch nicht unbedingt rufen nur das Fahrrad müsse ich ersetzen denn das war schließlich kaputt.
Gerade als er sich ein Taxi rufen wollte um seine Briefe noch pünktlich zu verteilen fand ich meine Sprache wieder.
Ich habe ihn erst einmal total zugetextet wie leid mir das alles täte und das ich selbstverständlich für den entstandenen Schaden aufkommen würde und ein Taxi wäre ja viel zu teuer ob ich ihn nicht fahren könne, schließlich war meinem Wagen ja nichts passiert. Er hat sich richtig über mein Angebot gefreut und sofort sein Fahrrad in meinen Kofferraum gequetscht. Ich weiß bis heute nicht wie er das Ding da überhaupt hinein bekommen hat. Na ja, und dann sind wir gemeinsam durch die ganze Stadt gegondelt. Er hat sich als Tobias Benz vorgestellt was ich furchtbar komisch fand, Benz heißen und nur Fahrrad fahren! Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. Es war wohl Schicksal das ich mich am Morgen von meinem Freund getrennt hatte, sonst hätte ich Tobias wohl nie kennen gelernt. Jetzt ist er nicht mehr da und ich weiß nicht wie es weitergehen soll!“
Für einen langen Moment waren die beiden Frauen ganz still und in ihren eigenen Gedanken versunken als Meret das Wort aufgriff. „ Was ist passiert?“ fragte sie. June musste schwer schlucken um nicht erneut in Tränen auszubrechen. „ Du musst es mir nicht erzählen wenn du nicht willst,“ meinte Meret zu ihr. „Doch ich will ja , es tut nur so entsetzlich weh! - Tobias hat sich vor genau elf Tagen selber das Leben genommen. Ich habe ihn am Abend gefunden als ich von der Arbeit nach Hause gekommen bin. Er hatte eine Ãœberdosis Schlaftabletten zu sich genommen und alles mit Wodka runtergeschluckt!“ Mit Tränen in den Augen kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Brief, strich ihn erst einmal glatt und gab ihn dann über den Tisch zu Meret. „Jede Hilfe kam zu spät. Das ist alles was ich noch von ihm habe.“ gestand sie traurig. Nachdem Meret die kurzen Zeilen gelesen hatte gab sie June den Brief zurück. „ Was ist mit seiner Familie? Wissen die vielleicht etwas worüber er mit dir nicht gesprochen hat?“ – „ Tobias hat keine Familie mehr. Seine Eltern sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen als er selber noch ein Kind war, und seine Großmutter , bei der er aufgewachsen ist, starb ein paar Monate bevor wir uns kennen lernten!“ mittlerweile liefen ihr die Tränen über das Gesicht und Meret hielt ihr ohne Worte ein Taschentuch hin. Dankbar nahm sie es an.
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 „ Da ist so viel was ich nicht mehr verstehe!“ fing June wieder an zu sprechen. „ Ich dachte , ich wüsste alles von ihm und wir könnten über alles miteinander reden. Ich habe gemerkt das ihn in letzter Zeit etwas beschäftigt hat, aber ich dachte das hing mit seiner Arbeit zusammen. Er hatte schon länger ständig Ärger am Arbeitsplatz und spielte mit dem Gedanken die Stelle zu wechseln. Jedenfalls war es das was er zu mir gesagt hat als ich ihn einmal auf seine depressive Stimmung angesprochen habe. Als ich jetzt nach seinem Tod zu seinem Arbeitgeber gefahren bin um seine Sachen aus dem Büro zu holen, erklärte sein Chef mir wie bedauerlich er die Geschichte fände! Erst einmal für mich und dann weil sie ihn im nächsten Monat befördern wollten. Tobias hätte das gewusst und mit seinem Kollegen eine super Ãœberraschungs – Verlobung geplant. Deswegen hätte er mir das wahrscheinlich nicht erzählt! Auf einmal steht meine ganze Welt auf dem Kopf. Der Mensch den ich über alles geliebt habe nimmt sich das Leben ohne das er irgendeine Erklärung hinterlassen hat, und dann erfahre ich auch noch das ich ihn eigentlich gar nicht richtig gekannt habe. Warum nur hat er nicht mit mir geredet? Ich wäre immer für ihn da gewesen, egal was auch gekommen wäre!“ – „ Oft ist es so das unsere liebsten Menschen uns nicht verletzen wollen und deshalb schweigen!“
„ Uns nicht verletzen ist gut! Und was hat er mir mit seinem Tod angetan. Warum hat er mich im Stich gelassen? Warum har er mir nicht vertraut?“ June bemühte sich so verzweifelt nicht los zuschreien das sie unabsichtlich immer lauter gesprochen hatte. Die Leute in dem Café schauten schon ganz verdutzt zu den zwei ungleichen Frauen herüber . Die junge Bedienung kam zu ihrem Tisch und fragte ob alles in Ordnung sei und ob sie helfen könne.
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Meret dankte ihr für das freundliche Angebot lehnte aber ab und bestellte gleich noch zwei Kaffee und zwei Cognag.
Bis das ihre Bestellung gekommen war, sagte Meret erst einmal gar nichts. Sie wollte June die Zeit lassen sich zu beruhigen und wieder zu sich selbst zu finden ehe sie weiter sprach. Als die Kellnerin zu ihrem Tisch kam hatte June sich wieder einigermaßen im Griff und konnte ihren Kaffee sogar ohne Händezittern annehmen. Vorsichtig nippte sie an ihrem Cognag. Der Likör wärmte sie von innen richtig auf. Normalerweise trank June nur in den seltensten Fällen Alkohol da sie sich nie an den bitteren Beigeschmack gewöhnen konnte, doch in diesem Moment war das genau das Richtige. June merkte erst kurze Zeit später das Meret wieder mit ihr sprach. “Entschuldige“, sagte sie ,“ ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. Was hast du gesagt?“ – „ Ich habe dich gefragt was du jetzt vorhast!“ – „ Wieso? Ich verstehe deine Frage nicht. Was kann ich denn schon machen?“ – „ Na , du könntest dich bei seinen Kollegen umhören, du könntest seine Sachen aussortieren, du könntest versuchen mehr über seine Vergangenheit heraus zu finden. Irgendwo gibt es immer einen Hinweis! Wenn du verstehen willst was passiert ist musst du dich der Vergangenheit stellen.“ Meret versuchte June mit diesem Worten neue Hoffnung zu geben und sie aus ihrer Lethargie heraus zu locken: Anscheinen hatte sie die richtigen Worte gefunden denn zufrieden sah sie wie June unbewusst die Schultern straffte. „ Vielleicht hast du recht! Ich darf mich jetzt nicht verkriechen. Ich muss wissen warum Tobias sich das Leben genommen hat sonst finde ich wahrscheinlich nie wieder zu mir zurück!“ Meret lächelte. Sie freute sich das sie der jungen Frau helfen konnte. Das Meret mit ihrer Hilfe noch gar nicht richtig angefangen hatte ahnten sie beide nicht mal im entferntsten.
Als June am frühen Abend ihre Wohnung betrat fühlte sie sich plötzlich wieder alleingelassen. Die Stille umfing sie wie ein Netz in dem sie sich nur schwer bewegen konnte. Sie hatte den Nachmittag mit Meret mehr genossen als sie zugeben wollte. Endlich ein Mensch der sie verstehen konnte und der versuchte ihr Mut für die Zukunft zu geben. Dankbar dachte sie an die Stunden im Café zurück und an die Worte die Meret ihr noch mit auf den Weg gegeben hatte „ Wenn du nicht mehr weiter weist, dann komm zu mir und wir finden eine Lösung!“ Daraufhin hielt sie ihr einen Zettel hin auf den nur eine Telefonnummer stand. „ Unter dieser Nummer kannst du mich immer erreichen. Ich würde mich freuen wenn du dich meldest!“ June hatte den Zettel sofort in ihre Handtasche gesteckt. Sie würde sich melden, das nahm sie sich in diesem Augenblick vor.
June legte ihre Handtasche und die dünne Jacke die sie an hatte an der Garderobe im Flur ab und ging in die Küche. Als sie an ihren Telefon vorbei kam sah sie das der Anrufbeantworter blinkte. Sie drückte im vorbeigehen auf die Wiedergabetaste und blieb vor Schreck stehen. Das war doch die Stimme von Tobias! Nein, das kann nicht sein!- dachte sie und lief zurück um die Nachricht noch einmal zu hören.
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Es war eindeutig die Stimme von ihrem geliebten Tobias doch was er sagte warf sie komplett aus der Bahn.„ Hallo, mein Name ist Sebastian Benz. Ich bin der Bruder von Tobias und würde mich freuen wenn wir uns kennen lernen können. Meine Nummer ist 018127805643. Bitte melden Sie sich bei mir!“
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Es viel Sebastian nicht leicht die Nummer von June zu wählen. Seit dem Tod von Tobias hatte er versucht die Anschrift und Telefonnummer heraus zu bekommen. Zum Glück besaß er einen guten Bekannten der beim Einwohnermeldeamt arbeitete. Als er dann endlich die Anschrift bekam konnte er sich nicht überwinden hinzufahren. Es dauerte dann noch genau zwei Tage bis er den Mut hatte wenigstens bei ihr anzurufen. Erst war er sehr enttäuscht als der Anrufbeantworter sich eingeschaltet hatte und hatte sofort wieder aufgelegt. Nachdem er aber einen Moment Zeit zum überlegen hatte viel ihm ein das June ihn ja überhaupt nicht kannte. Wie erschrocken wäre sie gewesen wenn sie ans Telefon geht und jemand zu ihr spricht der sie an Tobias erinnert. Denn das er sich ähnlich anhören musste wusste er, schließlich waren sie eineiige Zwillinge. Nun begann das bange Warten; würde June sich bei ihm melden oder war sie viel zu schockiert von der Tatsache das sie doch nicht so alleine war wie sie geglaubt hatte. Er selber hatte von June ja auch erst erfahren als er ihren Nachruf an Tobias in der Zeitung gelesen hatte. Den Nachruf hatte er sorgfältig ausgeschnitten und in seine Brieftasche gelegt. Den Text kannte schon auswendig, denn bei jeder Gelegenheit nahm er ihn zur Hand und lass sich die gefühlvollen Worte an seinen Bruder noch einmal durch.
“Mein geliebter Tobias! Ich verstehe leider nicht was Dich zu deinem letzten Schritt bewogen hat aber ich habe deinen Brief gefunden. Ich verspreche Dir Dich nie zu vergessen denn du warst, bist und bleibst mein Leben. Ich werde an Dich denken – für immer- in Liebe June!“
Sebastian war dankbar das sein Bruder eine so tiefe Liebe kennen lernen durfte doch machte das Tobias´ Entschluss nur noch unverständlicher. Irgendetwas musste passiert sein so das Tobias sich nicht mehr anders zu helfen wusste dessen war sich Sebastian sicher. Er hoffte jetzt auf die Hilfe von June mit der Tobias doch augenscheinlich sehr glücklich gewesen war. Vielleicht konnte sie ihm etwas erzählen wovon er keine Ahnung hatte. Er wünschte sich so sehr das June sich bei ihm melden würde das er fast von seinem Sessel gerutscht wäre als
das Telefon läutete. Mit klopfendem Herzen nahm er den Hörer in die Hand.
„ Hallo hier spricht Sebastian Benz, wer ist dort?“ – „Guten Tag mein Name ist Meret Hoffmann. Sie werden mich nicht kennen aber ich habe Ihre Telefonnummer von June!“
Sofort wurde Sebastian hellhörig - June? Konnte das wahr sein? Sie hatte also seine Nachricht nicht gleich gelöscht, aber wer war die Dame am anderen Ende der Leitung?
„Wer sind Sie und was kann ich für Sie tun?“ war deswegen auch seine erste Frage an die fremde Frau. „ Wie schon gesagt- mein Name ist Meret Hoffmann und June gab mir Ihre Nummer. Sie möchte das ich mich mit Ihnen unterhalte. Sie selber ist momentan leider nicht in der Verfassung Sie persönlich kennen zu lernen. Allerdings möchte sie trotzdem gerne erfahren wer Sie sind und was Sie von ihr wollen. Und da ich eine gute Freundin bin habe ich ihr angeboten mich mit Ihnen zu treffen.“ – „ Äh... ja ... selbstverständlich können wir uns treffen, aber eigentlich wollte ich June sehen!“ – „ Ja das verstehe ich aber wenn Sie der sind, für den Sie sich ausgeben, wissen Sie auch unter welchen Umständen Ihr Bruder ums Leben gekommen ist.“ – „ Doch das ist mir bekannt und gerade deshalb...!“ - „ Ich habe volles Verständnis für Sie aber ich muss darauf bestehen das Sie am Anfang mit mir vorlieb nehmen. Das war doch alles etwas zuviel für June.“ - „ Kennen Sie June und Tobias schon lange?“ Sebastian wollte unbedingt wissen mit wem er es da zu tun bekommen hatte. Für einen Moment war es ruhig in der Leitung und Sebastian dachte schon das die fremde Frau aufgelegt hatte und er zu direkt geworden war. Doch plötzlich antwortete die Dame wieder: “Nein eigentlich nicht so richtig! Ich habe June erst heute auf dem Friedhof kennen gelernt. Aber wir haben uns auf Anhieb so gut verstanden das sogleich eine Freundschaft entstanden ist. Wir haben unsere Telefonnummern ausgetauscht. Sie können sich vielleicht vorstellen wie erstaunt ich war als sie mich noch heute Abend anrief, mir Ihre Nummer gab und mich bat mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Sie hat mir von Ihrem Anruf auf dem AB erzählt. Und da ich June heute sehr lieb gewonnen habe, habe ich natürlich zugestimmt. Also was halten Sie davon wenn wir zwei uns morgen irgendwo treffen und wir dann in Ruhe reden können?“ Mit allen hatte Sebastian gerechnet, nur damit nicht. Da bat ihn doch tatsächlich eine ihm völlig fremde Person um ein Treffen um über June und Tobias zu sprechen. Dabei kannte diese Frau die beiden noch nicht einmal. Und trotzdem sagte er zu! Was ihn dazu bewogen hat wusste er selber nicht so genau aber nach zehn Minuten standen Ort und Uhrzeit des Treffen statt und Sebastian legte den Hörer wieder zurück. Völlig in Gedanken versunken blieb er noch eine Weile in seinem Sessel sitzen. Was hatte diese Frau nur mit seinem Bruder und dessen Freundin zu tun? Konnte er ihr wirklich glauben das sie June erst seit dem Vormittag kannte? Auf einmal waren da so viele neue Fragen auf die er dringend eine Antwort brauchte. Nachdenklich ging er zu einem Sessel und begann an Tobias zu denken.
Noch vor gut drei Jahren war alles anders gewesen. Er und Tobias waren ein unzertrennliches Paar. Sie hatten die gleichen Freunde, die gleiche Ausbildung und arbeiteten sogar im gleichen Betrieb. Sei haben praktisch alles geteilt, selbst die Wohnung hatten sie gemeinsam gekauft. Doch dann war alles anders geworden. Beide hatten sich in das gleiche Mädchen verliebt. Das war ihnen zwar schon öfter mal passiert und sie hatten ständig Witze darüber gemacht doch nie war etwas ernstes daraus geworden. Aber dieses mal war es anders. Er selber wollte dieses Mädchen unbedingt für sich haben und vielleicht sogar mal heiraten. Doch auch Tobias hatte ernstere Absichten. Darüber haben sich die beiden so zerstritten das Tobias letztendlich seine Sachen packte und gegangen ist. Die Ironie bei der Geschichte war, dass das Mädchen am Ende nicht bei ihm geblieben ist und er sich umsonst mit seinem einzigem Bruder so gestritten hatte das er nun keinen Kontakt mehr hatte. Erst aus der Zeitung hatte er vom Tot Tobias´ erfahren. Und auch von June!
Wenn er jetzt so über die alte Geschichte nachdachte musste er über sich selber lachen. Warum nur hatte er sich damals so in die Sache hinein gesteigert das es letztendlich kein Zurück mehr gab. Heute wusste er, wenn er nach der Trennung von seiner Freundin gleich zu Tobias gegangen wäre, dann hätten sie gemeinsam darüber gelacht wie engstirnig sie doch waren und alles wäre wieder in Ordnung gekommen. Nur sein eigener Stolz hatte ihn davon abgehalten. Sebastian konnte es nicht überwinden das sein Bruder mal wieder Recht gehabt hatte. Auch heute noch hatte er den genauen Wortlaut ihres letzten Streites nicht vergessen. Tobias hatte mit gepackter Tasche im Flur gestanden und die beiden haben sich angeschrieen wie seit Kindertagen nicht mehr. Sebastian wusste noch wie sein Bruder den Anfang der Diskussion gemacht hatte:„ Glaube mir das Mädchen macht dich nicht glücklich. Sie spielt nur mit dir so wie sie es auch mit mir gemacht hat.“ fing er an.“ Immer wieder hat sie uns gegeneinander ausgespielt weil sie sich nicht entscheiden wollte. Sieh das doch endlich ein und mach uns nicht unglücklich!“ Sebastian war darüber so in Rage geraten das er ziemlich heftig geantwortet hatte: „Das sagst du doch jetzt nur damit ich sie freigebe und du zum Zuge kommst. Aber da hast du dich dies eine Mal getäuscht! Wir lieben uns und wenn du nicht bereit bist das zu akzeptieren dann musst du halt gehen! Ich werde sie nicht aufgeben! Und ich werde dich nicht aufhalten!“ Wütend starrte er seinen Bruder an doch Tobias blieb ruhig als er antwortete. „ Wenn du dir da so sicher bist dann komme ich zu Eurer Hochzeit- als Trauzeuge! Falls sie aber – und da gehe ich von aus- nicht länger als zwei Monate bei dir bleibt, komm nicht zu mir um dich auszuheulen! Ich gebe dir den guten Rat – halt dich fern von ihr oder du wirst es eines Tages bereuen. Diese Frau meint es nicht ehrlich! Weder mit mir noch mit dir oder sonst jemanden!“ Sebastian dachte er hätte sich verhört und fing hysterisch an zu kichern. „ Wenn du damit sagen willst das Janine mich hintergeht und betrügt glaube ich dir kein Wort. Wir können über alles miteinander reden. Sie hat mir auch erzählt wie du sie bedrängt hast mich zu verlassen und zu dir zurück zu kommen!“ – „ Das ist jetzt nicht dein Ernst!“ rief Tobias dazwischen. „ Diesen Quatsch hast du geglaubt?“ Für einen kurzen Moment war Sebastian etwas unsicher geworden aber als er sah wie Tobias darüber lachte fühlte er regelrecht Hass in sich hoch kriechen. Trotzig antwortete er : „ Ja natürlich, schließlich bist du mein Zwilling und ich kenne dich genau. Ich weiß das du Janine noch immer liebst und alles dafür tun würdest sie wieder zu habe.“ In diesem Moment nahm Tobias seine Taschen auf und ging erhobenen Hauptes Richtung Tür. Dort angekommen drehte er sich noch einmal um und sah seinen Bruder traurig an. „ Wenn du unbedingt mit offenen Augen in dein Unglück rennen willst kann ich dich nicht aufhalten. Ich dachte eigentlich immer das uns beide nichts trennen kann aber da habe ich mich wohl getäuscht. Geh zu Janine und sag ihr von mir das sie gewonnen hat. Ich habe keine Lust mehr zu streiten und zu kämpfen. Aber lass mich von heute an bitte in Ruhe!“ Daraufhin verließ er die gemeinsame Wohnung , zog die Tür hinter sich zu und fuhr mit seinem Wagen fort. Sebastian hatte ihm noch hinterher gerufen das er auf ihn gut und gerne verzichten könne, er brauche keinen Bruder der ihm seine Liebe nicht gönne! Oh wie hatte er sich doch damals verrannt. Natürlich behielt Tobias Recht mit seine Vermutung das Janine noch mehrere Verehrer hatte. Als Sebastian sie eines Morgens inflagrantie mit einem anderen im Bett erwischte, hatte Janine noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Mit ihren großen braunen Augen hatte sie ihn nur unschuldig angesehen und gefragt ob er denn wirklich geglaubt hätte sie würde von nun an nur noch mit ihm schlafen. Aber am schlimmsten fand Sebastian das er nicht mal sehr enttäuscht oder sauer war. Jedenfalls nicht auf Janine. Es war wütend über sich selber und vor allen wütend über seinen Bruder. Als er aus Janines Wohnung ging schwor er sich , das Tobias niemals davon erfahren dürfte.
Sebastian glaubte damals er könne das triumphierende Lächeln auf Tobias´ Gesicht nicht ertragen. Deshalb suchte er sich eine neue Stelle in einer anderen Stadt um Tobias noch besser aus dem Weg gehen zu können. Er musste auch gar nicht lange suchen bis er ein Jobangebot 500 km von zu Hause entfernt erhielt. Sofort sagte er damals zu und war schon zwei Wochen später umgezogen. Nur die Tageszeitung ließ er sich nachschicken. Er dachte so könnte er wenigstens erfahren wenn Tobias mal heiraten würde. Das er dann drei Jahre später die Todesanzeige seines Bruders lesen müsste, damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Immer hatte er an dem Glauben festgehalten, wenn genug Zeit vergangen ist wird alles wieder gut und er könne mit Tobias reden. Und nun war es zu spät. Sein einziger Bruder war Tod und er würde ihn nie wieder sehen.
Doch der Nachruf von June rüttelte ihn erst so richtig wach. Er musste wissen was passiert war. Mit dieser Ungewissheit kam er nicht zurecht. Er mietete sich ein kleines Zimmer in der Stadt und nahm nach langer Zeit Kontakt zu seinen alten Freunden auf. Keiner konnte ihm genau sagen was vorgefallen war denn alle waren genauso erschüttert wie er. Und nun war Sebastian schon wieder nicht weiter gekommen. Gut, June hatte seine Nachricht gehört aber sich nicht selber gemeldet und was er von dieser Frau Hoffmann zu erwarten hatte wusste er nicht. Mit gemischten Gefühlen sah er dem morgigen Treffen entgegen.
June kam sich wie eine Gefangene in der eigenen Wohnung vor. Sie tigerte vor dem Telefon hin und her und wartete gespannt auf Merets Rückruf. Ein wenig plagte sie das schlechte Gewissen. Sie hatte Meret doch erst am Vormittag kennen gelernt. Verlangte sie da nicht etwas zu viel von ihr? Meret hingegen hatte spontan zugestimmt bei diesem Sebastian anzurufen um erst einmal in Erfahrung zu bringen was er überhaupt von ihr wollte. June fühlte sich wie in einem schlechten Film. Das durfte doch alles nicht war sein. Erst der tragische Selbstmord von Tobias, dann die merkwürdigen Äußerungen von seinem Chef und nun plötzlich ein Bruder. Junes Welt war total aus der Bahn geraten. Sie brauchte jetzt dringend Hilfe und wartete verzweifelt aus das Telefonläuten. Es war doch nun schon fast dreißig Minuten her das sie bei Meret angerufen hatte, warum rief sie denn nicht endlich zurück. Insgeheim hoffte June das sich da nur jemand einen ganz schlechten Scherz erlaubte und Meret gerade dabei war diesem Jemand gehörig den Kopf zu waschen. Das es an ihrer Tür läutete bekam sie erst viel später mit. Nervös schaute sie durch den Spion und war höchst erstaunt als sie Meret erkannte. Sofort öffnete sie und ließ sie hinein.
Nachdem June Meret in ihr Wohnzimmer gebeten hatte, nahm sie ihr den Mantel ab und bot ihr erst einmal was zu trinken an. Dankbar nahm Meret ihr kurze Zeit später die warme Tasse mit dem gewürztem Tee ab. Erst dann erzählte sie June von der Unterhaltung mit Sebastian und das sie sich für morgen Nachmittag verabredet hätten. Sie fragte June, ob sie nicht mitkommen wolle. „ Du kannst dich ja an einen anderen Tisch setzen und uns nur beobachten. Ich finde es sehr wichtig das du dir selber ein Bild von dem Mann machen kannst. Vielleicht ist er ja wirklich der für den er sich ausgibt. Dann hast du eine reelle Chance mehr über die Vergangenheit von Tobias zu erfahren!“ June war sprachlos. An diese Möglichkeit hatte sie selber noch gar nicht gedacht.
Für sie stand eigentlich fest das es sich nur um einen dämlichen Macho handelte der Spaß daran hat trauernde Menschen zu quälen. Und nun sollte sie in Erwägung ziehen diesen Mann als Bruder von Tobias zu sehen? Diese Vorstellung behagte ihr überhaupt nicht. Meret sah zu wie June sich quälte. Sie wusste genau was sie da von ihr verlangte. Und doch fand sie es ausgesprochen wichtig das June diesen Menschen persönlich sieht. Für Meret stand bereits fest das es sich bei Sebastian tatsächlich um den Bruder von Tobias handelte. Der junge Mann war am Telefon so erschüttert und wirke so traurig das Meret schnell überzeugt war. Jetzt musste sie nur noch June dazu überreden mitzukommen. Natürlich konnte sie sich sehr gut vorstellen wie June sich im Augenblick fühlte und deshalb ließ sie ihr die Zeit zum Nachdenken.
Während Meret stumm zusah wie June nachdachte, wusste June selber nicht was sie von dieser ganzen Situation halten sollte. Noch heute morgen wusste sie nicht wie es weitergehen sollte, und nun saß diese nette alte Dame vom Friedhof bei ihr im Wohnzimmer und verlangte das sie sich mit einem fremden Mann treffen solle. Einem Mann der auch noch vorgibt Tobias Bruder zu sein. Aber hätte Tobias ihr nicht seinen Bruder vorgestellt oder wenigstens einmal erwähnt? Schließlich waren sie seit zwei Jahren ein Paar und hatten alles miteinander geteilt. Tobias war doch immer so traurig darüber das er selber keine Familie mehr hatte. Wie oft hatten sie gemeinsam in alten Fotoalben geblättert. Es hätte ihr doch auffallen müssen wenn da ein Bruder gewesen wäre. Aber auf allen Fotos die sie kannte war immer nur ein Kind zu sehen. June stand auf und ging zu ihrem Schrank. Meret sah ihr weiterhin nur zu und sagte erst einmal gar nichts. June holte ein Fotoalbum hervor und setze sich damit zu Meret aufs Sofa. „Ich möchte dir gerne etwas zeigen!“ begann sie und blätterte das Album auf. Gleich auf der ersten Seite strahlte ihnen ein kleiner blonder Junge mit frechem Blick entgegen. Stolz hielt dieses Kind eine Schultüte in die Luft und man konnte sehen wie glücklich es über seine Einschulung war. Eine Seite weiter blickte der gleiche Junge etwas verlege in die Kamera, neben ihm konnte man eine zerbrochene Fensterscheibe erkennen und ein Fußball lag auf dem Boden. Und noch ein Blatt weiter saß dieser Junge auf dem Schoß von einem älteren Herren und um die beiden waren noch andere Menschen. June zeigte auf eine junge hübsche Frau: “ Das ist Tobias Mutter, direkt neben ihr Tobias Vater. Die Dame hier vorne ist seine Großmutter und er sitzt auf dem Schoß von seinem Großvater.“ Dabei deutete sie immer auf die jeweilige Person. „Meinst du nicht auch wenn er noch einen Bruder hat das auch der irgendwo auf diesem Familienbild zu sehen sein müsste? Aber da ist kein weiteres Kind! Wir könnten das ganze Album durchblättern und du wirst nicht ein Foto mit zwei Kindern sehen. Immer nur Tobias!“ Leise fing June erneut an zu weinen. „ Er war so froh und stolz als ich ihm meine Familie vorgestellt habe. Du musst wissen das ich noch drei Geschwister habe. Ich weiß noch wie er zu mir gesagt hat das er jetzt endlich mal das Leben in einer Familie kennen lernen würde. Und wie glücklich er sei das ich ihm dieses ermögliche. Wie kann er da einen Bruder haben und mir so etwas verheimlichen. Kein Wort, kein Foto – nirgends auch nur ein Hinweiß auf Geschwister!“ Meret nahm June vorsichtig in die Arme und versuchte sie zu trösten. Langsam nahm sie ihr das Album vom Schoß und legte es auf den Tisch. Leise sagte sie zu June:“ Du musst ja nicht mitkommen wenn du dich überhaupt nicht mit dem Gedanken anfreunden kannst. Ich dachte nur es wäre halt für dich eine gute Gelegenheit, Klarheit zu bekommen. Wie kannst du sicher sein das er nicht doch die Wahrheit sagt?“ June schaute mit schwerem Blick zu Meret hinauf. Sie konnte gar nicht aufhören zu weinen.“ Warum nur?“ fragte sie mehr zu sich selber als zu Meret gewannt.“ Warum passiert dies alles mit mir? Hab ich nicht schon genug gelitten? Ich kann nicht mehr! Er fehlt mir so sehr!“
Meret wusste das sie jetzt sehr behutsam mit June umgehen musste denn sonst würde sie wahrscheinlich zusammenbrechen und damit wäre ihr erst recht nicht geholfen. Leise sagte sie zu ihr:“ Wenn du nicht versuchst mehr über Tobias Vergangenheit zu erfahren dann wirst du nie verstehen warum er über sein Ende selber entschieden hat. Wenn dieser Sebastian auch vielleicht nicht sein Bruder sein sollte so hatte ich doch den Eindruck das er ihn mal sehr gut gekannt hat und über dessen Tot mindestens genauso schockiert war wie du! Lass uns gemeinsam versuchen mehr zu erfahren. Ich werde dir helfen so gut ich es kann. Und möglicherweise kann uns dieser Mann einen Schritt vorwärts bringen.“ Meret hielt June ein Taschentuch hin wie sie es an diesem Tag schon öfter gemacht hatte. Über diese kleine Geste musste June lächeln und nahm es dankbar an.
June erschrak als sie auf den Wecker blickte! War es wirklich schon so spät? Doch die digitalen Leuchtziffern sagten unweigerlich die Wahrheit, es war tatsächlich schon 10.43 Uhr. Solange hatte sie nicht mehr geschlafen seit sie ein Teenager war. In gut einer Stunde wollte Meret bei ihr sein um sie abzuholen. Nachdem sie gestern Abend noch fast zwei Stunden miteinander diskutiert hatten waren sie überein gekommen das es wohl wirklich am besten sei wenn June sich selber ein Bild von der Situation machen würde. Gemeinsam wollten sie erst durch das kleine Städtchen bummeln bevor sie sich dann am Nachmittag mit diesem Sebastian trafen. Allerdings bestand June darauf nicht persönlich in Aktion zu treten. Sie würde sich schon etwas früher in das Cafe setzen wo sie schon gestern mit Meret so angenehme Stunden verbracht hatte. Meret sollte sich dann mit dem Mann an einen nahen Tisch setzen so das June ihre Unterhaltung etwas verfolgen könne. Noch immer konnte June nicht verstehen wie Meret ihr dieses Versprechen abgeluchst hatte, denn innerlich sträubte sich alles dagegen. Sie wollte diesen Mann nicht kennen lernen. Und doch hatte sie am Ende zugesagt Meret zu begleiten. Noch einmal schaute sie auf den Wecker und stellte seufzend fest, das es nun allerhöchste Zeit für sie war aufzustehen. Sie schwang ihre langen Beine aus den Bett und machte sich auf den Weg ins Badezimmer.
Zur gleiche Zeit war auch Sebastian damit beschäftigt sich auf den kommenden Nachmittag vorzubereiten. Sorgfältig wählte er seine Kleidung aus denn er wollte unbedingt einen guten Eindruck hinterlassen. Fast kam er sich vor wie bei einem Bewerbungsgespräch so nervös war er. Dabei hatte er doch selber um ein Treffen gebeten. Nachdem er fast dreißig Minuten unschlüssig vor dem kleinem Schrank stand wurde ihm klar das er ja eigentlich gar nicht so viel Auswahl mitgenommen hatte. Er nahm sich den dunkelblauen Zweireiher mit einem weißem Hemd und einer leicht rot gemusterten Kravatte hervor und betrachtete sich in dem fleckigen Spiegel. Ja, so könnte er gehen. Dazu noch den langen grauen Mantel und er war bereit. Als er auf seine Uhr sah musste er mal wieder schmunzeln und an seinen Bruder denken. Es war gerade erst 12.30 Uhr und er war fix und fertig, bereit loszugehen. Diese Eigenschaft hatte er von Tobias gelernt. Ständig hatte diesr ihn ermahnt sich doch etwas mehr zu beeilen. Egal zu welchem Termin sie mussten, Tobias war grundsätzlich eine Stunde vorher schon fertig gewesen. Sebastian war darüber oft genug verärgert, denn Tobias verlangte von ihm das gleiche; und gerade deswegen hat er oft so getrödelt das sie doch noch zu spät kamen. Erst nachdem Tobias sich von ihm abwandte fing Sebastian an genau so zu werden.
Als ob er sich dadurch Tobias wieder etwas näher fühlen könnte. Heute war ihm das schon so zu eigen geworden das er häufig erst merkte wie viel Zeit er eigentlich noch hatte wenn er schon komplett fertig war. Noch einmal schaute er zufrieden in den Spiegel und sagte leise zu sich selber:“ Danke Tobias!“ Sebastian beschloss die ihm verbleibende Zeit in dem Dorf mit einem Schaufensterbummel zu vertreiben. Das würde ihn vielleicht auch etwas von seiner Nervosität ablenken. Er überlegte ob er nicht sogar ein paar Blumen für Frau Hoffmann besorgen sollte ,ließ es dann aber doch lieber bleiben. Sebastian nahm seinen Schlüssel samt Portemornaie und verließ das Zimmer mit einem ziemlichen kribbeln im Bauch.
Um Punkt 12.00 Uhr klingelte es bei June an der Haustür. Mit zitternden Beinen öffnete June um Meret hinein zu lassen. Meret sah großartig aus. Man konnte gar nicht glauben das sie schon über siebzig Jahre alt sein sollte. Wenn June es nicht besser gewusst hätte, würde sie Meret nicht älter als maximal Ende fünfzig schätzen. Sie trug ein elegantes, schwarzes Kostüm und hielt sich so aufrecht das man einfach Respekt vor ihr haben musste. „ Sag mal warst du eigentlich mal Lehrerin?“ fragte June spontan . Meret sah sie erstaunt an! „Ja, aber wie kommst du darauf?“ „Du strahlst soviel Respekt und Energie aus, da haben bestimmt alle Schüler stramm gestanden und sich nicht gemuckt!“ Darüber musste Meret lachen „ Ist das immer noch so offensichtlich? Ich dachte eigentlich das ich das mittlerweile abgelegt habe. Schließlich bin ich schon lange genug nicht mehr beruflich tätig. Mein Mann hat sich immer darüber lustig gemacht. Dauernd sagte er ich würde ihn zu sehr einschüchtern und er könne sich gar nicht selber entfalten. Aber immer wenn ich Arbeiten korrigieren musste und nicht gestört werden wollte hat er sich um alles gekümmert. Er hat den Haushalt bald besser als ich gemacht und mich an solchen Tagen von vorne bis hinten verwöhnt. Er brachte mir Kaffee ins Büro und hat selbst lästige Nachbarn abgewimmelt!“ Auf einmal stöhnte Meret auf. „ Ach er fehlt mir immer noch so sehr, aber ich weiß das wir eine wunderbare Zeit hatten und er auch weiterhin auf mich achtet. Er wird mich für immer begleiten. Nun ist es aber genug!“ meinte sie plötzlich. “Schließlich sind wir ja nicht wegen mir hier zusammen gekommen! Bist du fertig? Können wir gehen?“ June war so überrascht von dem spontanem Themawechsel das sie erst gar nicht reagierte. Erst als Meret noch mal nachfragte ob sie denn jetzt gehen können nahm sie ihre Jacke von der Garderobe. Beim Rausgehen griff sie noch einmal hinter sich um ihre Handtasche mitzunehmen. Sie überprüfte kurz ob sie auch nichts vergessen hatte und schloss dann die Tür ab.
Zwei Stunden später machte June sich auf den Weg zu dem kleinen Café. Sie war mit Meret erst durch diverse Geschäfte gebummelt konnte sich aber nicht wirklich für etwas interessieren. Unterwegs hatten sie sich noch mal über Sebastian und Tobias unterhalten. Meret war fest davon überzeugt das dieser Mann June etwas über die Vergangenheit erzählen kann. Sie selber war nach wie vor sehr skeptisch. Es wollte einfach nicht in ihren Kopf das sich dieser Mensch als Bruder ausgibt. Hatte er denn keine Ahnung was er ihr damit antat? Sie war so in ihren Gedanken versunken das sie beinahe an dem Café vorbeigegangen wäre. Aus den Augenwinkeln sah sie es noch und ging zügig darauf zu. Als sie Kurze Zeit später eine dampfende Tasse Kaffee vor sich stehen hatte fingen ihre Gedanken erneut an zu wandern. Tobias war mit ihr auch immer so gerne bummeln gegangen. Gemeinsam hatten sie sich jeden Samstag über die Zeitung gebeugt auf der Suche nach dem größten Trödelmarkt in der Umgebung. Die tollsten Schnäppchen hatten sie dort manchmal gefunden. Sie konnte sich noch genau an den Sonntag erinnern als sie einen alten und fast vergammelten Tisch gesehen hatte.
Der Mann der ihn zu Verkauf angeboten hatte wollte ihrer Meinung nach einen viel zu hohen Preis dafür haben. Tobias hat gehandelt wie ein Profi und am Ende bekamen sie den Tisch sogar für viel weniger als June ausgeben wollte. Wie viel Zeit sie hinterher noch in den Tisch investiert haben konnte June jetzt gar nicht mehr sagen aber er ist genau so geworden wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie hatten das gesamte Holz mit Beize abgerieben um die alten Lackschichten zu entfernen und hinterher noch stundenlang ausgebürstet um auch wirklich die letzen Reste von Lack und Farbe aus den Fasern zu bekommen. Dabei hatten sie einige kaputte Stellen entdeckt die vorher gar nicht sichtbar waren da die Vorbesitzer anscheinend nur über die alte Farbe drübergestrichen hatten. Tobias war in den nächsten Wochen bei so vielen Tischlereien gewesen um genau das passende Holz zu finden, das June irgendwann aufgehört hatte mitzuzählen. Aber eines Nachmittages kam er dann plötzlich mit hochroten Wangen in die Wohnung gestürmt so das June schon ohne zu fragen wusste was er hinter seinem Rücken versteckt hielt. An ihrem Tisch fehlte an einer Ecke ein größeres Stück und Tobias hatte es geschafft ein Stück Holz aufzutreiben das sogar von der Maserung genau in die Lücke passte, es musste nur noch ein klein wenig angeschliffen und mit Holzleim befestigt werden. Sie war so stolz auf ihn, hatte sie doch vorher ein wenig über seinen Eifer geschmunzelt. Nachdem der Tisch noch mit Öl abgerieben worden war konnte man ihn nur noch als Perfekt beurteilen. Langsam lief eine Träne über Junes Gesicht. Dieser Tisch war das Letzte was sie gemeinsam mit Tobias restauriert hatte und nun stand er in ihrer Wohnung und erinnerte sie jeden Tag auf neue daran das jemand fehlte. Aber noch waren ihre Wunden zu frisch als das sie auch nur daran denken mochte den Tisch zu verkaufen mit dem sie doch so viele schönen Erinnerungen verband.
Während June in ihren Gedanken versunken war ging die Tür zu dem Café auf und Meret kam herein. Zielstrebig setzte sie sich an einen Tisch nicht allzu weit von June entfernt und bestellte sich ein Glas Tee und ein Stück Torte. Vorsichtig lächelte sie zu June hinüber um ihr zu zeigen wie richtig und gut sie es fand das sie auch wirklich hier saß. June bemerkte es und lächelte zurück. Es herrschte schon eine Merkwürdige Spannung zwischen den Frauen denn keine von beiden vermochte zu sagen was dieser Nachmittag noch bringen würde. Stellte sich dieser Sebastian als Schwindler heraus oder sollte Meret doch Recht behalten und er kannte Tobias, wenn auch sicher nicht als Bruder, davon war June überzeugt. Meret sah von ihrer Bestellung auf als die Ladentür mit einem leisen Klingeln geöffnet wurde und ein großer, dunkelhaariger Mann das Café betrat. Er trug einen dunklen Anzug und machte einen nervösen und dennoch sympathischen Eindruck. Als er Meret sah kam er mit großen Schritten zu ihr an den Tisch. „ Sind sie Meret Hoffmann?“ war seine direkte Frage. Meret blickte ihm für einen Moment in die unglaublich grauen Augen und lächelte ihn dann an: „ Ja, die bin ich und ich denke wir sind miteinander verabredet wenn sie Sebastian heißen!“ Sebastian setze sich zu Meret an den Tisch als seine Aufmerksamkeit plötzlich von einer jungen hübschen Frau abgelenkt wurde. Sie saß nur etwa drei Tische weiter, stieß völlig unerwartet einen leisen Schrei aus und rannte ohne zu bezahlen aus dem Café. Die andern Gäste schauten ihr auch ziemlich irritiert hinterher und die Kellnerin lief ihr sogar auf die Strasse nach jedoch ohne Erfolg. Die Frau war nicht mehr zu sehen gewesen. Als Sebastian sich wieder zu Meret wandte bemerkte er bei ihr eine Verwirrtheit die er auf den Auftritt der jungen Frau schob. So was sah man schließlich nicht Tage und auch er überlegte was die Hübsche, Blonde wohl so erschreckt hatte.
Als Meret nach zwei Stunden das Café wieder verließ, hatte sie das Gefühl noch nie in ihrem Leben so durcheinander gewesen zu sein. Alles was sie mit Sebastian besprochen hatte machte sie stutzig und gab ihr dennoch Hoffnung. Wie konnten Zwillinge sich dermaßen zerstreiten? Warum hatten sie nie wieder einen Weg zueinander gefunden wenn doch ein einziges Wort gereicht hätte um sie zu vereinen? Brüder sollten sich nicht so quälen doch für diese Erkenntnis war es jetzt zu spät. Tobias war tot und Sebastian konnte ihn nicht mehr um Verzeihung bitten. Meret verstand nun auch das Bedürfnis von Sebastian June kennen lernen zu wollen. Er wollte einfach erfahren was sein Bruder in den drei Jahren für ein Leben geführt hatte und warum er nicht mehr weiter machen konnte. Er erhoffte sich von June Antworten die sie ihm nicht geben konnte da sie selber am suchen war. Aber Meret dachte bei sich das die beiden jungen Leute sich vielleicht gegenseitig helfen konnten. Wenn sie nur einen Weg wüsste um die beiden zusammen zu bringen! Leider konnte sie sich nur zu gut vorstellen wie June auf Sebastian reagieren würde, nachdem sie beobachten konnte was alleine sein Anblick in ihr auslöst. Zwillinge! Schlimmer hätte es nicht sein können Insgeheim hatte sie ja doch gehofft das sich alles als ein Irrtum herausstellen würde und Sebastian einen anderen Tobias suchte. Aber so leicht sollte es nicht werden. Während Meret durch die Strassen lief und nachgrübelte schüttelte sie immer wieder den Kopf. Jedes mal wenn sie eine Idee hatte wie sie June auf Sebastian vorbereiten könne, verwarf sie den Gedanken auch schon wieder. Eine Möglichkeit erschien ihr so abwegig wie die andere. June wird sich nicht mit ihm treffen wollen, dachte sie bei sich. Dafür war allein die Ähnlichkeit zu groß. Gedankenverloren blieb Meret vor einem Schaufenster mit Glasskulpturen stehen. June ist im Augenblick genauso zerbrechlich wie diese Gebilde! Was mach ich nur? Soll ich sie einfach zu einem Treffen mit Sebastian zwingen? Wie wird sie reagieren wenn er ihr gegenüber sitzt und sie so sehr an ihren Tobias erinnert? Oh mein Gott ist das schwer! Aber ich habe versprochen June zu helfen. Ach Walter- dachte sie- wenn du doch nur bei mir wärst! Du wüsstest garantiert was zu tun ist. Aber ihr Walter war nicht mehr da und sie musste jetzt selber damit zurecht kommen. Sie straffte ihre Schultern und hob den Kopf-Nein! Sagte sie zu sich selbst- du wirst dich jetzt nicht unterkriegen lassen. June braucht dich und eine Idee habe ich auch schon wie ich die zwei aneinander gewöhnen kann. Also los jetzt- geh jetzt und such nach June damit du ihr alles genau erzählen kannst .Du weißt sie wartet auf dich! Meret hatte sich entschlossen. Sie wusste nun wie sie vorgehen wollte !
Während Meret sich auf den Weg machte um zu June zu kommen, war Sebastian wieder in seinem kleinen Zimmer. Auch er dachte über den Nachmittag mit dieser erstaunlichen Frau nach. Sein erster Gedanke war, diese Frau hätte Tobias gefallen. Sie ist so selbstbewusst wie unsere Großmutter. Doch dann viel ihm wieder ein was Meret über June und Tobias erzählt hat. Ihrer Meinung nach war June eine zarte und zerbrechliche Persönlichkeit die selber am verzweifeln war wegen Tobias. Sie hatte keine Ahnung was passiert ist. Wie sollte sie ihm dann helfen können? Er hatte sich so viel von dieser Begegnung versprochen und nun sah es ganz danach aus als ob June ihm gar nichts sagen konnte. Na ja gar nichts war nun vielleicht auch nicht richtig. Schließlich blieben ja noch die Jahre in denen sie zusammen waren. Er hatte vor soviel wie möglich über die letzten drei Jahre vom Leben seines Bruders zu erfahren. Sebastian musste unbedingt wissen warum Tobias geglaubt hat sich nicht mehr anders helfen zu können. Noch einmal ging er in Gedanken den ganzen Nachmittag durch und ließ sich das Gespräch durch den Kopf gehen. Er war sofort von Meret eingenommen gewesen als sie ihn mit strahlenden Augen angelächelt hatte. Und als sie dann zu reden anfing war er so gebannt von ihr das er sie gar nicht hätte unterbrechen können selbst wenn er gewollt hätte. Sie hatte ihn gebeten doch erst einmal von sich zu erzählen damit sie sich ein Bild von ihm machen könne. Ja genau das waren ihre Worte gewesen - sie wolle sich ein Bild von ihm machen. Allein darüber musste er schmunzeln. Aber Sebastian kam dieser Bitte nur zu gerne nach ,gab sie ihm doch die Möglichkeit mal wieder von sich und Tobias reden zu können. Er hatte weit ausgeholt und fing bei der unbeschwerten Kindheit bei den Großeltern an. Nachdem die Eltern gestorben waren hatten die beiden alten Menschen die zwei Jungen wie selbstverständlich in ihr Haus geholt und sie mit Liebe überhäuft damit sie den tragischen Verlust besser verkraften konnten. Leider war auch der Großvater nur zwei Jahre später an unheilbarem Krebs gestorben und die Großmutter hatte sich von Stund an alleine um zwei pubertierende Kinder kümmern müssen. Und dennoch haben sie alles bekommen was junge Menschen zum Wachsen brauchen - Liebe und Verständnis und immer ein Ohr zum zuhören! Er versuchte zu beschreiben wie seine Großmutter mit ihnen über den Tod gesprochen hatte. Sie hatte ihnen erklärt das der Tod nur ein Übergang zu einem besseren Dasein bedeutete. Ihrer Meinung nach kommen alle Menschen zu Gott, denn Gott wacht ja auch schon über die Lebenden. Und einige Menschen verdienten nach Gottes Meinung halt den Eintritt ins Himmelreich viel früher als andere. Seit damals waren Sebastian und Tobias gläubige Christen geworden. Na gut – sie gingen zwar nicht jeden Sonntag in die Kirche aber das hatte die Großmutter auch nie von ihnen verlangt. Alles was sie wollte waren zwei auf- geschlossene junge Männer die keine Angst davor haben sich den Schwierigkeiten des Lebens zu stellen.
Ja und dann erzählte Sebastian von der Beziehung zu Janine und wie es zu diesem dummen Streit gekommen ist. Er ließ nichts aus, auch nicht die Tatsache das Janine nur mit ihm gespielt hatte. Schon damals hätte er ahnen müssen das Tobias recht behält denn Tobias war immer derjenige gewesen, der die Menschen in ihrer Umgebung am besten einschätzen konnte.
Erst als er fertig war blickte er Meret wieder in die Augen. Was er dort sah ließ Sebastian sofort wieder an seine Großmutter denken. An erster Stelle sah er Verständnis und dahinter fast versteckt ein bisschen Sorge! Worauf sich diese Sorge bezog vermochte er nicht zu sagen aber das Meret ihn verstand bedeutete ihm merkwürdiger weise sehr viel. Vielleicht lag es daran das sie seiner Großmutter wirklich so ähnlich war in ihrem Wesen. Sebastian hatte ein wenig Angst vor ihrem Urteil über den Streit, denn das er sich kindisch verhalten hatte war ihm im Laufe der Jahre selber klar geworden. Nach einem Augenblick des Schweigens erzählte Meret ihm dann wie sie und June sich kennen gelernt hatte und das sogleich ein Gefühl der Vertrautheit zwischen ihnen herrschte. Sie vergaß auch nicht ihm zu beschreiben wie einsam June nach Tobias Tod ist und das sie dringend Antworten braucht. Genau wie Sebastian selber. Aber was ihn am meisten schockierte war die Tatsache das June noch nicht einmal wusste das Tobias einen Bruder hatte. Es tat ihm weh zu erfahren wie weit sie sich doch voneinander entfernt hatten und das alles nur wegen seinem dummen Stolz! Meret meinte daraufhin zu ihm das Tobias wohl so verletzt über die Zurückweisung seines Bruders war, das er alle Erinnerungen löschen wollte. Doch alleine die Genauigkeit mit der er dabei vorgegangen war verriet doch seine Gefühle zu Sebastian! Wahrscheinlich war es für ihn so leichter gewesen
Als June aus dem Café geflohen war wusste sie noch nicht einmal wohin sie gehen wollte - Nur weg von hier – war alles woran sie dachte! Das durfte doch alles nicht wahr sein! Tobias war Tot! Und dennoch verfolgte er sie überall. Ständig sah sie ihn irgendwo in der Menschenmenge, wenn sie an einem Schaufenster vorbei ging hatte sie so manches mal den Eindruck sein Spiegelbild neben ihr stehen zu sehen! Er war einfach immer bei ihr.
Und dann sah sie diesen Mann in dem Café. Im ersten Moment war sie wirklich davon überzeugt das es ihr Tobias sei, der da zur Tür herein gekommen ist. Aber konnte das denn sein? Gab es wirklich einen Menschen der genauso aussah? Diese Ähnlichkeit war beängstigend! Sollte es vielleicht doch sein Bruder sein? June wollte nicht so recht daran glauben. Wenn Tobias noch Geschwister gehabt hätte,dann müsste sie das doch wissen. So was kann man doch nicht verheimlichen! Schließlich waren sie über zwei Jahre zusammen. Da hätte doch mindestens zum Geburtstag ein Anruf kommen müssen oder eine Karte. Aber sie hat nie etwas derartiges mitbekommen. Nicht mal die leiseste Ahnung hatte sie. Allmählich begann sie zu denken das sie Tobias gar nicht richtig gekannt hat. Diese Ungereimtheiten bei seiner Arbeitsstelle – der verheimlichte Bruder! Was sollte denn noch alles auf sie zukommen? Was hatte Tobias ihr noch verschwiegen?
June bemerkte erst das sie auf dem Weg zum Friedhof war als sie schon fast dort angekommen war. Sie hatte ganz instinktiv diesen Weg gewählt weil sie nach Antworten suchte die ihr leider keiner mehr geben konnte.
Als June dann zehn Minuten später vor dem Grab stand liefen ihr die Tränen wieder ungehindert die Wangen herunter. Vorsichtig kniete sie sich nieder du fing leise an sich mit Tobias zu unterhalten wie sie es immer tat wenn sie sein Grab besuchte. „ Mein Liebster! Warum hast du mir so viel verschwiegen? Hattest du denn überhaupt kein Vertrauen zu mir? Ich wäre doch immer für dich da gewesen! Nun bin ich alleine und merke deutlich das ich dich nicht gekannt habe. Wusstest du denn nicht wie sehr ich dich liebe? Habe ich es dir nicht zeigen können? Was habe ich denn falsch gemacht das du nicht mit mir reden konntest? Ich verstehe es einfach nicht und habe Angst! Angst davor noch mehr zu erfahren wovon ich keine Ahnung hatte! Angst deinen Bruder kennen zu lernen. Angst vor dem was er mir erzählen könnte. Ach Tobias – was war nur los?“
Während sie so redete strich sie beinahe zärtlich über den Rosenstrauß den sie erst am Vortag dorthin gestellt hatte. Rosen waren immer ein Zeichen der Kommunikation zwischen ihnen gewesen. Sie bekam gelbe Rosen wenn Tobias sich über etwas sehr freute und er hatte welche bekommen wenn sie ihm was wichtiges mitteilen wollte. Rote Rosen zu besonderen Anlässen wie Geburtstagen oder Jahrestag. Manchmal auch nur eine einzelne einfach nur so zum Zeichen der Liebe. Jetzt auf dem Grab standen weiße! June hatte sie mit bedacht ausgewählt denn eigentlich wollte sie selber mal einen Bratstrauß aus weißen Rosen haben. Es war eines der letzten Dinge die sie mit Tobias besprochen hatte. Sie liebte diese Blume einfach wegen ihrer schlichten Schönheit. Doch auch der Gedanke an eine Ehe war für sie nun unerträglich und deswegen hatte sie die Rosen für das Grab gekauft. Sie wollte von nun an jede Woche einen Frischen hinstellen und noch eine kleine Verbindung zu ihrer großen Liebe zu haben.
Plötzlich hörte sie eine Stimme hinter sich. Es war Meret die nach der Verabredung mit Sebastian direkt zum Friedhof gegangen war.
„ Woher wusstest du wo ich bin?“ fragte June ganz erstaunt! Meret lächelte. „ Na das war doch nicht so schwer zu erraten. Der Schock war ja auch groß genug.!“ June war dankbar das Meret direkt zu ihr gekommen ist. Jetzt wo sie da war konnte sie ihr vielleicht schon einige Fragen beantworten.
Es wurde draußen schon langsam dunkel als June wieder in ihrer Wohnung war. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie so ein Gefühl der Hilflosigkeit verspürt.
Selbst an dem Tag als sie Tobias gefunden hatte wusste sie doch was zu tun war. Sie hatte den Rettungsdienst gerufen und war zu ihrer Nachbarin geeilt die sofort mit rüber gekommen war. Gemeinsam hatten sie noch versucht Tobias wieder zu beleben. Als der Notarzt dann den Tod feststellte hatte June direkt den Arbeitgeber informiert. Danach musste die Beerdigung organisiert werden. Freunde und Kollegen wurden eingeladen und etliche Briefe verschickt. Nach der Beerdigung kümmerte June sich um die ganzen finanziellen Dinge die noch anstanden wie zum Beispiel Versicherungen und Krankenkasse. Eigentlich war June seit Tobias Tod immer beschäftigt gewesen. Und nun war sie am Ende ihrer Kraft angelangt. Was seit gestern passiert war, war einfach zuviel für die junge Frau.
Meret hatte ihr noch auf dem Friedhof von ihrem Gespräch mit Sebastian erzählt. Sie konnte es noch immer nicht glauben das Tobias einen Zwilling hat. Wie sehr muss ihr Freund unter der Zurückweisung gelitten haben das er so sorgfältig versucht hat ihn für immer aus seinem Leben zu streichen. Doch was sollte sie jetzt tun? Sollte sie sich mit Sebastian treffen und versuchen mehr über seine gemeinsame Zeit mit Tobias zu erfahren? Konnte sie es wirklich über sich bringen mit einem Mann zu reden der sie nicht nur optisch an Tobias erinnerte? Alles in ihr schrie förmlich nein! Und dennoch wollte sie es auf eine Art und Weise die sie sich selber nicht erklären konnte. Vielleicht auch nur deshalb weil sie so das Gefühl bekam ihrem Geliebten wieder ein bisschen näher zu sein. Schließlich war Sebastian ein Bindeglied zu der Vergangenheit von Tobias und als Zwilling hat man doch eigentlich eine ganz besondere Beziehung zueinander. Er musste einfach mehr wissen als er vor Meret zugeben wollte. Es kann doch nicht sein das sich Geschwister so weit voneinander entfernten. Gut – June hatte auch nicht immer das beste Verhältnis zu allen Geschwistern, erst recht nicht zu ihrer großen Schwester, aber sie wusste doch meistens was die andere so erlebte. Man kann doch den Kontakt zu seiner Familie nicht so vollständig löschen! Und gerade bei Tobias konnte sie sich das überhaupt nicht erklären. Tobias war doch so ein Familienmensch. Oder sollte das auch etwas sein worin sie sich getäuscht hat?
Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern als sie Tobias ihrer Familie vorgestellt hatte. Wie nervös sie gewesen war. Und er nicht weniger. Ständig hat er sie gefragt ob ihre Eltern ihn auch wohl mögen würden. Dabei war sie sich einer Sache niemals zuvor so sicher gewesen. Ihre Eltern waren schon ganz gespannt auf den neuen Freund ihrer Tochter schließlich hatte June schon sehr viel von Tobias erzählt.
Sie fuhren etwa eine Stunde mit dem Auto bis sie bei June´s Eltern angekommen waren. Tobias hatte ganz nach alter Manier einen Blumenstrauß für die Mutter und Pralinen für den Vater besorgt. Er wollte doch unbedingt einen guten Eindruck hinterlassen. June wusste noch wie heute wie sehr seine Hände gezittert haben als er den Klingelknopf betätigte. Und dann war der große Augenblick gekommen .
June´s Mutter öffnete die Tür. Sie trug ein beiges Kostüm mit weißer Bluse und hatte die gleichen Haare wie June auch. Man hätte sie auch ohne es zu wissen sofort als ihre Mutter erkannt. Was Tobias nicht wusste das Junes Eltern auch alle Geschwister eingeladen hatten. Schließlich wollte die ganze Familie erfahren wer denn das Herz der jüngsten Tochter erobert hatte. Mit einem Lächeln im Gesicht führte Frau Haferland die beiden ins Wohnzimmer wo schon der Kaffeetisch gedeckt war. Und dort saßen sie alle. Junes Vater Peter, ihre große Schwester Maria und der jüngere Bruder George. Nacheinander kamen sie alle auf Tobias zu und drückten ihm freundlich die Hand zur Begrüßung. Jeder hatte ein paar nette Worte parat und Tobias fühlte das er gleich in die Familie aufgenommen wurde. Es wurde ein unvergesslicher Nachmittag für Tobias. Er wurde sofort als neues Mitglied der Familie akzeptiert. Es gab Schwarzwälderkirschtorte mit extra Sahne und Kaffee bis zum umfallen. Als Tobias dann auch noch die Geschichte von ihrer ersten Begegnung erzählte mussten alle mitlachen. June liebte ihn von diesem Moment an noch mehrt als sie jemals für möglich gehalten hätte. Sie spürte einfach das er sich bei ihrer Familie entspannen konnte. So aufgedreht hatte sie ihn noch nie erlebt und war dankbar dafür das sie durch diesen einen Nachmittag wieder eine neue Seite an ihm erleben durfte. Tobias war halt immer für eine Überraschung gut. Nie wusste June genau was er als nächstes plante.
Gedankenverloren blätterte June in dem Fotoalbum was sie zusammen mit Tobias angefertigt hatte. Gerade schaute sie sich das Bild an, welches an dem ersten Nachmittag bei ihren Eltern gemacht worden war. Vorsichtig strich sie mit den Fingern über das Foto. Auf dem nächsten Bild war sie alleine zu sehen. Tobias hatte es an einem sonnigen Wochenende in Paris an der Saine von ihr gemacht. Sie waren gemeinsam schon so viel gereist und wollten doch noch so viel mehr erleben. London und Paris, Krakau und Wien hatten sie schon besichtigt. Für die geplante Hochzeitsreise wollten sie eigentlich nach Australien fliegen und dort für zwei Monate bleiben. Es gab noch so viel erschreckend weiße Seiten in ihrem Album, dass June es mit einem tiefen Seufzer ins Regal zurück stellte.
Meret saß noch lange in ihrer Wohnung wach im Bett und hielt stumme Zwiesprache mit ihrem verstorbenen Mann. Auch wenn sie genau wusste das sie niemals wieder eine Antwort erhalten wird halfen ihr diese Gespräche immer ihre Gedanken zu sortieren.
 Morgen wollte sie June und Sebastian einander vorstellen. Sie hatte beide zu fünfzehn Uhr zu sich bestellt. Meret hatte mit Sebastian ausgemacht, dass er versuchen sollte beim Arbeitgeber von Tobias und seinen Kollegen etwas Neues zu erfahren. Vielleicht gab es ja doch noch irgendwo einen Hinweis was Tobias so aus der Bahn geworfen hatte. June hingegen sollte bei Tobias Arzt vorbeischauen und sich seine Akte geben lassen. Eventuell tauche ja dort etwas auf. Ja und dann wollte Meret die beiden in ihrer Wohnung zusammen führen und bekannt machen. Es würde mit Sicherheit für beide Seiten sehr schwer werden. Leider hatte Meret beiden verschwiegen das der jeweils andere auch da sein wird und jetzt kamen ihr Zweifel ob das der richtige Weg war.
Durfte man so mit den Gefühlen von Menschen spielen? Aber sie wollte doch nur das Beste für die beiden. June konnte dem Tod von Tobias nicht ewig aus dem Weg gehen und Sebastian brauchte ebenso Klarheit.
Jetzt im Bett aber sah das alles plötzlich ganz anders aus. Meret versuchte sich vor zu stellen wie June reagieren könnte und dabei wurde ihr ganz mulmig im Bauch.
Hoffentlich geht alles gut! Dachte Meret und kuschelte sich in ihre Decke. Nun konnte sie doch nichts mehr ändern.
Pumukel31 Re: Bewegende - Zitat: (Original von sastone am 16.07.2009 - 09:35 Uhr) Worte... Die Geschichte ist so nah an der Realität erzählt, es scheint alles vor dem geistigen Auge genau so zu passieren. Und das macht es sympathisch. Sehr gelungen! liebe Grüße Silvie danke für das lob! na dann werde ich mal zusehen das ich weiterschreibe damit june ihren weg finden kann! lg doreen |
Pumukel31 Re: Parkplätze... - Wow danke für das Lob! Zitat: (Original von Papiertiger am 16.02.2009 - 08:43 Uhr) "Ein Parkplatz war schnell gefunden und die zwei Frauen machten sich gemeinsam auf den Weg." Das kann nicht meine Stadt sein :)) Denn daran wären die Beiden hier gescheitert und würden wohl noch immer einen Parkplatz suche..... Ansonsten: Ich wünschte, ich hätte ein wenig von der Harmonie, die dieser Text ausstrahlt. Grosse Klasse. |
Papiertiger Parkplätze... - "Ein Parkplatz war schnell gefunden und die zwei Frauen machten sich gemeinsam auf den Weg." Das kann nicht meine Stadt sein :)) Denn daran wären die Beiden hier gescheitert und würden wohl noch immer einen Parkplatz suche..... Ansonsten: Ich wünschte, ich hätte ein wenig von der Harmonie, die dieser Text ausstrahlt. Grosse Klasse. |
janettahlf June - Menno jetzt muß ich schon wieder warten bis es weiter geht..schnief |