Von Liebe ... und anderen Katastrophen
Wir sind vierzehn Jahre alt. Wir sitzen auf meinem Bett in meinem Jugendzimmer und du sprichst von Liebe. Ich höre dir zu, sauge jedes Wort in mir auf und glaube, was ich höre, auch wenn es mir zu schön erscheint, um wahr zu sein. Es ist ein tolles, wenn auch ungewohntes Gefühl, geliebt zu werden. Wir singen schräg und laut, aber voller Überzeugung romantische Lieder von Revolverheld mit. "Unzertrennlich", ist eines dieser Lieder, und ja, so fühlen wir uns.
Wir sind achtzehn Jahre alt. Wir sitzen in
der Küche deiner Eltern und du sprichst von Liebe. Ich höre dir zu, höre deine Worte, die mir ewige Treue versprechen und dass es keine andere außer mich gibt. Okay, mal abgesehen von Sandra und Hendrik und Sven, aber hey, die waren kleine Ausrutscher während unserer Beziehungspausen und die habe ich dir längst verziehen, natürlich und das weißt du.
Wir sind zwanzig Jahre alt. Wir sitzen im Café und du sprichst von Liebe. Ich höre dir zu, wie du Pläne schmiedest, mit mir auszuwandern. Du möchtest mal raus, sagst du, am liebsten nach Finnland. Aus Finnland kommt deine Lieblingsband und
deren Sänger ist ja so heiß, aber ich weiß ja, wen du wirklich liebst.
Wir sind zweiundzwanzig Jahre alt. Uns trennt eine dreistellige Kilometerzahl, aber nur räumlich, und du sprichst von Liebe. Zumindest, wenn du erreichbar bist. Wir telefonieren und simsen, anfangs noch mehrmals täglich, irgendwann wird das weniger, bis du überhaupt nicht mehr reagierst. Ich denke an Sandra und Hendrik und Sven und frage mich, ob einer oder womöglich alle drei etwas mit deiner Schweigsamkeit zu tun haben.
Wir sind dreiundzwanzig Jahre alt. Nach
einem Jahr Funkstille sehen wir uns endlich wieder, fallen uns in die Arme und sprechen von Liebe. Wir können kaum die Finger von einander lassen und ich spüre instinktiv und jetzt erst recht: du bist die Frau, mit der ich in fünfzig Jahren auf dem Balkon sitzen möchte. Der ich in die Augen schauen möchte und mit der ich über kleine Ausrutscher männlicher wie weiblicher Natur lachen möchte. Weil uns einfach nichts und niemand trennen kann. Weil wir unzertrennlich sind, wie auch Revolverheld schon vor neun Jahren wussten.
Wir sind vierundzwanzig Jahre alt. Wir
sind mit kleinen Unterbrechungen zehn Jahre zusammen, sehen uns selten aber sprechen von Liebe. Nach wie vor und mit jedem Jahr mehr. Zu den drei kleinen Ausrutschern von damals haben sich noch einige weitere dazugesellt, berichtest du mir so ganz nebenbei, auch, während wir fest zusammen waren. Aber du sprichst von Liebe und ich höre dir zu. Sauge noch immer jedes Wort in mir auf, ignoriere mein Bauchgefühl, das schon lange am Wahrheitsgehalt zweifelt.
Wir sind fünfundzwanzig Jahre alt. Wir schreiben gelegentlich bei Whatsapp und du schreibst von Liebe. Die sporadische Frage nach meinem Befinden hat längst
an ehrlichem Interesse verloren. Du bist inzwischen verheiratet, nicht mit mir, sondern mit einem Mann, aber eine offizielle Trennung hat auch nicht stattgefunden. Ich bin wütend, natürlich auf mich, denn ich bin doch an allem selbst schuld. Schuld am Suizid eines Freundes vor vielen Jahren, denn mit mir hält es eh niemand lange aus. Schuld an jeglichem Missbrauch, der mir in der Vergangenheit widerfahren ist, denn ich kann froh sein dass mich überhaupt jemand freiwillig anfasst. Und natürlich schuld daran, dass du dir einen anderen gesucht hast. Ich glaube dir noch immer jedes Wort, denn du bist eine intelligente, schöne Frau und das wird
schon stimmen, was du sagst.
Inzwischen sind wir neunundzwanzig Jahre alt. Von Liebe sprechen wir beide nicht mehr, auch wenn du immer wieder versuchst, mich zurückzugewinnen. Ich habe in all den Jahren Stück für Stück verlernt, mich selbst zu achten, mich als die starke Frau zu sehen, die ich eigentlich bin. Du warst meine erste, bislang einzige und leider, trotz all der schönen Momente, auch meine schlimmste Beziehung. Du hast nachhaltig etwas in mir zerstört und doch sprach ich immer von Liebe, ohne je zu wissen, was Liebe überhaupt ist.
Ich dachte, Liebe wäre, seelisch bis auf
die Grundmauern zerstört zu werden, aber ihr alles zu verzeihen.
Ich dachte, Liebe müsste einseitig sein. Eine liebt immer mehr als die andere.
Inzwischen habe ich Menschen gefunden, die mühsam versuchen, ganz langsam wieder aufzubauen, was du über Jahre kaputtgemacht hast. Mein Selbstbewusstsein, meinen Wert, denn oh ja, den habe ich. Menschen, die mir zeigen, dass ich es verdient habe, gut behandelt zu werden. Menschen, die mir erklären, welche Stärken ich habe.
Und weißt du was?
Das ist Liebe.