Vorwort:
Der Meltemi ist ein beständiger thermischer Nordwind in der Ägäis, der durch die meist hohen Luftdruckunterschiede zwischen dem sommerlichen Wärmetief über der türkischen Halbinsel und den Sommerhochs über Südost- und Mitteleuropa erzeugt wird. Auf den Ägäis-Inseln ist er je nach Windstärke sowohl bei den müßigen Sommerurlaubern (als kühlende Brise) wie auch bei Windsurfern und Seglern (als zuverlässiger Starkwind) äußerst beliebt. Beide Aspekte finden sich in den folgenden zehn Meltemi-Gedichten wieder, die zwischen 2009 und 2016 auf unserer Lieblingsinselnsel Naxos verfassst wurden (mit Ausnahme des ersten Gedichts, das ich voller Vorfreude schon vorher schrieb). Die Gedichte bauen nicht aufeinander auf, sie beschreiben unabhängig voneinander manchmal ähnliche Gemütslagen, so dass sich öfters Überschneidungen ergeben.
Meltemi I (Juli 2009)
Wenn morgens die Höhen im Sonnenlicht flirren,
Konturen in wabernden Schleiern zerfließen,
Zikaden zu Tausenden zirpen und sirren,
erwachen die sonnengeborenen Brisen.
Als Kinder Poseidons geh’n sie auf die Reise
und bringen aus Norden erfrischende Kühle.
Sie streicheln die Inseln auf zärtliche Weise,
verscheuchen die drückende, lähmende Schwüle.
Sie kräuseln das Wasser und formen die Wellen,
sie schmücken die Kronen mit schneeweißen Fohlen,
die spielerisch über den Meeresgrund schnellen,
als wollten sie sich frohen Muts überholen.
Ich seh’ noch die Wellen im Sonnenlicht flimmern,
im rhythmischen Wechselspiel kommen und gehen,
ich seh’ sie türkisblau im Gegenlicht schimmern -
und freu’ mich, die Inseln bald wiederzusehen.
Meltemi II (September 2009)
Die Sonne ist hinter der Insel versunken,
doch hat sie ein prächtiges Bild hinterlassen:
Der Himmel entflammt und verglüht farbentrunken
in Farbtönen, die bald im Dunkeln verblassen.
Die sonnengeborenen Winde ermüden,
dem Meltemi sind schon die Kräfte geschwunden.
Er fächelt als kühlende Brise gen Süden
und spendet uns wohlige nächtliche Stunden.
Mit ihm sind die Wellen zur Ruhe gekommen,
ihr Brausen und Tosen wich leiseren Klängen.
Von uns werden sie wie Musik wahrgenommen,
die murmelnd und wispernd den Alltag verdrängen.
Es scheint uns, als wolle das Meer etwas sagen,
erzählt uns womöglich von uralten Mythen.
Wir wissen es nicht, und wir können nicht fragen.
Doch spüren wir nur mehr unendlichen Frieden.
Meltemi III (September 2010)
Der Meltemi zeigt sich von stürmischer Seite,
seit Tagen schon peitscht er das tosende Meer.
Er faucht, und er treibt eine mächtige Meute
von schneeweißen Fohlen wie wild vor sich her.
Sie krönen die Spitzen türkisblauer Wogen
und ziehen - so scheint es - den Wellenhang plan.
Das Surfbrett zieht lautlos, vom Segel gezogen,
am Wellenhang weich wie auf Samt seine Bahn.
Fast schwerelos scheint es mit Wellen zu spielen,
vermittelt dem Surfer die Leichtheit des Seins.
Es lässt ihn den Wind und die Welle erfühlen,
Naturelemente und Mensch werden eins.
Er öffnet sich ihnen mit all seinen Sinnen,
das Rauschen des Meeres wird ihm zur Musik.
Für Stunden, die ihm wie Minuten verrinnen,
genießt er die Freiheit und spürt pures Glück.
Meltemi IV (August 2011)
Die Sonne ist leider schon untergegangen,
doch schenkt sie uns noch einen Teil ihres Lichts.
Der Mond schickt sich an, dieses Licht einzufangen,
als hauchdünne Sichel entwächst er dem Nichts.
So zart er auch wirkt, er beginnt bald zu gleißen
und spiegelt sich geisterhaft glitzernd im Meer.
Ein magischer Anblick. Er geht mit dem leisen
und mystischen Raunen des Meeres einher.
Wie sanft nun die Wellen am Ufer zerfließen,
mit Einbruch der Nacht war der Wind abgeflaut.
Der Meltemi schickt nur noch samtweiche Brisen,
sie streicheln die Wellen und streicheln die Haut.
Der Zauber der Nacht nimmt uns sachte gefangen,
erregt alle Sinne und nährt Phantasien,
entfacht in uns unterbewusstes Verlangen
und lässt uns ins Reich unsrer Träume entflieh’n.
Meltemi V (September 2011)
Die Sichel des Mondes beendet die Reise,
verblassend versinkt sie im silbernen Meer.
Ich greife zum Ouzo, doch seltsamerweise
erweist sich das Gläschen schon wieder als leer.
Das mystische Raunen des Meers ist geblieben,
noch immer zerlaufen die Wellen am Strand.
Sie kommen und gehen in rhythmischen Schüben,
seit Urzeiten schon von Poseidon gesandt.
Die Sternennacht sieht mich in Träumen verloren,
beseelt vom geheimnisvoll flüsternden Meer.
Entsteigt ihm, aus Schäumen der Brandung geboren,
vielleicht aphroditengleich eine Chimär’
und fühlt sich zur Göttin der Liebe berufen?
Dem Träumer zu Diensten im Rausch dieser Nacht?
Mag sein, dass die Ouzos dies Traumbild erschufen -
mal sehn, ob der Träumer mit Kopfweh erwacht.
Meltemi VI (September 2013)
Der Meltemi hatte mal wieder geschwächelt,
die Surfsegel lagen heut nutzlos am Strand.
Nur spielerisch hat er das Wasser gefächelt
und schickte nur magere Wellen an Land.
Und dennoch vernahm ich am Abend ihr Raunen,
ich mag die Musik, denn sie klingt so vertraut.
Im Raunen verrät auch das Meer seine Launen,
und was ich da hörte, geht unter die Haut.
Es mutet heut an wie bekümmertes Klagen,
es wispert und murmelt mit traurigem Klang.
Was wollen die Wellen mir hiermit wohl sagen?
Es klingt so, als wär’s Nereïdengesang:
„Ach Fremder, wo warst Du so lange geblieben?
Wir haben Dich alle von Herzen vermisst,
weil wir Dich seit Jahren schon insgeheim lieben!
Doch freu’n wir uns jetzt, dass Du unter uns bist.“
Meltemi VII (August 2014)
Bereits in der Nacht fing der Wind an zu stürmen,
die Wolken zu jagen mit heis'rem Gebrüll,
und Welle auf Welle zur Wand aufzutürmen,
als ob er mit roher Gewalt drohen will.
Dem Surfer hat er schon das Surfbrett entrissen
und treibt es in neckischem Spiel vor sich her.
Der Pechvogel schwimmt hinterher wie verbissen,
doch sieht es im Nebel der Gischt fast nicht mehr.
Im Spiel mit den Wellen wird er zum Gehetzten.
Sie rollen mit Urgewalt über ihn weg,
mit der sie sein Segel beim Sturz schon zerfetzten.
Er schwimmt gegenan, aber kommt kaum vom Fleck.
Doch bleibt er aktiv, statt an Scheitern zu denken
- obwohl ihn der Wind schon ins Offene treibt -,
um lähmende Panik im Keim zu ertränken.
Damit ihm zumindest die Hoffnung noch bleibt.
Meltemi VIII (September 2014)
Die Schaumkronen hüpfen von Welle zu Welle,
vom Wind - wie im Spiel - übers Wasser geschasst.
Als spielten sie mit, hält sie nichts auf der Stelle,
sie tänzeln und wirbeln umher ohne Rast.
In ihnen verbirgt sich vielleicht Aphrodite,
die einst ja dem Schaum dieses Meeres entsprang
und die im Olymp - des Regierens wohl müde -
zur Selbstfindung sich eine Aus-Zeit erzwang.
Die Sonne geht unter, Poseidon geht schlafen,
das Meer kommt zur Ruh auf des Meergotts Geheiß.
Wo Wellen voll Wucht auf den Uferfels trafen,
da wispert’s und flüstert’s jetzt nur noch ganz leis.
Ich hör Aphrodite, es klingt wie ein Flehen:
„Oh Fremder, wie gern fänd’ ich Zuschlupf bei Dir.“
„Willkommen, oh Göttin! So mag es geschehen,
kein Gläubiger weist einer Gottheit die Tür.“
Meltemi IX (September 2015)
Die Uhr hat schon längst ihre Hoheit verloren,
die Zeitherrschaft liegt hier im Schoß der Natur.
In ihm fühlst Du Dich wieder wie neugeboren,
genießt Deine Freiheit, von Stress keine Spur.
Probleme von gestern sind heut Bagatellen
in diesem Rest Eden am Ende der Welt.
Den Takt schlägt das rhythmische Tosen der Wellen,
das sich zu den Weisen des Windes gesellt.
Am Abend ermattet dies Tosen zum Rauschen,
der Meltemi streicht nur noch sanft übers Haar.
Er reizt Dich, den Liedern des Meeres zu lauschen,
und Du wirst verträumt ihres Zaubers gewahr.
Das Meer scheint Dir all seine Weisen zu widmen,
im Bann seiner Stimmungen hörst Du ihm zu.
Im Gleichklang mit diesen verzaubernden Rhythmen
kommst Du - und mit Dir - Deine Seele zur Ruh.
Meltemi X (September 2016)
Noch einmal dem Zauber der Insel erliegen
- der uns schon seit unserer Ankunft umfängt -
bevor wir ihm abschiedskrank wieder entfliegen.
Dorthin, wo der Alltag das Freisein verdrängt.
Noch einmal die Mystik des Meeres erleben,
wenn’s spiegelnd im Mondlicht von Mythen erzählt,
wenn Träume zum sternklaren Himmel entschweben,
von Fernweh und zielloser Sehnsucht beseelt.
Noch einmal das Spiel mit den Wellen genießen,
die Jagd nach den Fohlen aus schneeweißem Schaum
bevor sie gleich wieder zu Wasser zerfließen.
Je länger die Welle, je schöner der Traum.
Noch einmal hör ich aus dem Wasser dies Flehen:
Komm wieder, Du fandest doch hier stets Dein Glück
„Ich weiß nicht, ob wir uns nochmals wiedersehen,
doch findet zumindest die Sehnsucht zurück.
Nachlese:
Als ich im Juni 2016 Meltemi X als letzten Beitrag zum Meltemi-Büchlein verfasste, ging ich davon aus, dass aufgrund des desolaten Zustands unseres altenWohnmobils (Bj. 1989) lt. TÜV keine weitere WoMo-Surfreise nach Naxos mehr möglich war. Übernachtungen in Hotels, Pensionen oder Campingplätzen werden dort zwar zur Genüge angeboten, doch statt abendlichem Remmidemmi war mir wichtiger, den Tagesausklang in freier Natur am „Ende der Welt“ zu verbringen; d.h. dort, wo man nur noch mit Geländewagen weiterkommt. Doch dann geschah ein Wunder: Meine Werkstätte brachte durch Schweißereien das WoMo doch noch einmal durch den TÜV und ermöglichte mir damit noch eine „wirklich letzte Naxos-Reise“ und mit Meltemi XI auch noch eine Zugabe fürs Meltemi-Büchlein.
Meltemi XI (August 2017)
So wohl ist mir wieder wie fünfhundert Säuen:
Das Bäuchlein gefüllt und rundum faltenfrei,
beginnt nun der Wein mir das Herz zu erfreuen.
Ob Rausch oder Nicht-Rausch ist heut einerlei!
Der Meltemi wütete nämlich recht kräftig
und hetzte die Surfsegel heiß vor sich her.
Die alternden Knochen erwehrten sich heftig,
verdienten sich redlich ihr Gläschen - und mehr.
Die Sonne geht unter und lässt den Wind schwächeln,
er fächelt die Wellen nun sanft an den Strand.
Sie tänzeln im Mondlicht, ich seh' dort ein Lächeln:
Vielleicht Aphrodite? In Liebe entbrannt?
Dionysos ist es, der ewige Zecher!
Wo Samoswein fließt, lädt er sich gerne ein.
Bald lallt er: „Seit Urzeiten leer' ich den Becher
am liebsten, Silenos, mit dir ganz allein!“