"Schreiben ist Küssen mit dem Kopf" (Leo aus "Gut gegen Nordwind" von D. Glattauer)
"Schreiben ist Küssen..."???
Das Glattauer- Zitat macht es mir nicht leicht. Sofort legt sich ein leichter Hauch Unwohlsein über meine Schulter. Setzt sich in meiner Brust fest. Steigert sich zu etwas, was, wenn ich nicht aufpasse, zur ausgewachsenen Wut werden könnte.
"Schreiben ist Küssen..."
Blödsinn!
Ich bin doch beim Küssen eine ganz andere als beim Schreiben! Hoffe ich, zumindest!
Eine Nicht-So-Ungeduldige,
-Worte-Herausprügelnde, -Hirn-Zermarternde.
Vor-Selbstzweifeln-Zergehende.
Ungewaschen, ungebürstet, mit zerknittertem Schlafanzug und noch zerknitterterem Gesicht um 6 Uhr morgens vor dem PC sitzend, gebe ich alles andere als eine passende Figur zum Küssen ab.
Falsch, ganz falsch liegst du mit deinem Spruch, Glattauer! Das kommt davon, wenn man Romanfiguren Sätze klaut und sie als Weisheit verkaufen möchte. Auch, und da muss ich natürlich ein wenig einlenken, wenn du das so nicht beabsichtigt hast. Schließlich sind es die Anbeter, die den Guru zum Guru machen,
nicht wahr?
Ich einige mich, stillschweigend, mit Glattauer darauf, dass nicht jedes tausendfach im Internet gelikte Zitat einer Lebensweisheit gleichkommen muss und nicke seinem Wikipedia-Bild freundlich gesinnt zu.
Dann will ich mich verabschieden, um endlich was aufs Papier zu bringen. Oder in die Tastatur.
Doch ich bekomme es nicht aus dem Kopf, das Zitat.
"Schreiben ist Küssen..."
Schließlich klappe ich entnervt den silbernen Deckel meines Laptops zu, lasse meine Hände daneben ruhen und schließe die Augen.
Ich wage ein Experiment….
Ich rieche.
Den Duft. Der Intimität. Der Einzigartigkeit. DER ist es! Dieser Mensch! Den ich für diesen Augenblick auserwählt habe!
Ich spüre.
Die Wärme des Anderen, die mich umgibt, die in kleinen Wellen auf mich zuspielt, ein wenig weicht, zurück, dann wieder vorwitzig meine Haut streichelt. Ein Hin und Her, bis sie sich treffen, unsre Lippen, so weich und zart und doch nie genug. Soll ich sie gar öffnen, meine Lippen? Ein…wenig…nur?
Ich schmecke.
Durchsetzte Süße, zu leicht, noch nicht ganz gar. Sie wird sich erst noch entfalten, denn ich weiß: Noch sind wir zwei. Ein DU, ein ICH, im Spiel der Lippen, im gegenseitigen Öffnen und Schließen, Geben und Nehmen.
Noch zu gewagt. Ein Risiko. Erschrocken weiche ich zurück!
Du oder Ich? Wir halten inne, für einen Augenblick. Die Frage schwebt im luftleeren Raum unseres angehaltenen Atems: Wer wird es sein, der den gemeinsamen Raum zuerst betritt?
Der Sog der Wellen an meinem Fuß hat sich indes verstärkt, lässt ihn nicht mehr los, umfasst nun auch meinen Körper. Ich suche Halt. An fremden Lippen, die sich
so fremd gar nicht mehr anfühlen.
Und ich versinke.
Im gemeinsamen Raum unsrer Münder, im nie endenwollenden Zungenspiel einer Begegnung, die aus dem Du und Ich das Wir kreiert und aus dem Jetzt die Ewigkeit.
Feuchtgeschwitzte Finger rutschen mir von der Tischkante, rasender Herzschlag in meinem Ohr. Ich vibriere. Noch immer. Von innen.
Küssen….
Sinnliche Schritte der Begegnung. Aufs Berührendste miteinander verwoben.
Küssen.
Nur Küssen.
Nicht etwa Sex. Nicht jenes explosionsartiges Auflösen der eigenen Kontur. Nein. Noch ist es das „Du“ und „Ich“, was sich, verspielt und leicht, zusammenfügt zu einem ersten „Wir“.
Ein heller Lichtstreif erscheint urplötzlich am dunklen Horizont meiner Gedanken.
Das ist es - was es so unersetzbar macht, das Küssen! Das ist der Grund, weswegen ich ihm so gerne und immer wieder verfalle!
Seine unabdingbare Richtung ins „Wir“ hinein!
Und - natürlich- seine durch und durch
erprobte Alltagstauglichkeit!
Erleichtert klappe ich das Laptop wieder auf. Die Seite ist noch offen. Das Zitat winkt mir entgegen.
Schreiben ist Küssen…
Ich lächle nun doch. Daniel Glattauer hat die Worte zwar seinem liebestrunkenen Leo in die schreibenden Hände gelegt.
Aber: Ist wirklich nur Liebesbrief-Schreiben dem Küssen so ähnlich?
Glattauer hat bei mir einen Nerv getroffen - auch wenn ich es noch immer nicht so recht zugeben möchte.
Schreiben ist Küsssen…
Letzte Woche, als ich wieder mal so ziel-
und berührungslos herumgetipselt habe auf meinem Computer - in der Hoffnung auf einen inspirierenden Text-Einfall, auf der Suche nach den passenden Worten für mein bislang erstes Romanexpose´ - da habe ich mich so alleine gefühlt! Einsam und von der Welt abgeschnitten, in meinem Corona-Isolierten Alltagsleben, starben meine getippten Worte den grausamen Tod der Delete-Taste, noch bevor ich sie zu Ende gebracht hatte.
Mir hat die Lust gefehlt! Auf die Begegnung, zwischen dem „Ich“ und dem „Du“!
Da war kein Sog, der mich bei meinen Geruchsnerven gepackt, mir das Wasser
im Mund hätte zusammenlaufen lassen und der mein ganzes Sehnen und Hoffen auf dieses große, wunderbare „Wir“ gerichtet hätte, auf dass ich die Welt um mich herum hätte vergessen können.
Das ist Schreiben für mich.
Diese sinnliche Erfahrung, die mit der der hauchfeinen Duftnote dessen beginnt, was sich da in meiner Gedankenwelt noch unsichtbar zusammengebraut hat. Als Mini-Textpassage oder Figur, als flüsternder Mäusedialog in der Vorratskammer eines aristokratischen Herrenhauses oder als handfeste Katastrophe im Cockpit einer Raumfähre, die kontaktlos in der dunklen Unendlichkeit des Alls entschwindet.
Ich muss Geschmack finden an meinen Lesern - oder denen, die es werden sollen! - und je genauer ich weiß, welcher „Typ“ da zu mir und meinem Schreiben passt, desto besser! Dann kommt die Richtung in mein Schreiben, die Vorfreude aufs gemeinsame „Wir“. Ich muss nicht für jeden schreiben, genauso wenig wie ich jeden küssen möchte!
Und dann ist da noch dieses Gespür, das mich trägt, wenn sie da ist, die Muse und mich küsst! Ich muss ja nur die Bereitschaft mitbringen, mich tragen zu lassen von ihr, mich dem hinzugeben, was da entsteht, im sanft- forderndem Zungenspiel unsere Begehrlichkeiten.
Dann versinke ich im Wir. In der Hinwendung meiner von Buchstaben gestalteten Welt aufs Du hinzu, den Leser, da draußen. Der mir doch jetzt schon so nahe ist, weil ich beim Schreiben mir selbst so nahe gekommen bin…
Ich lege den Kopf in den Nacken und schließe die Augen. Ja, küss´mich, Muse! Und alles, was davor liegt, werde ich nicht ungeduldig auf dem Stuhl hibbelnd ertragen, sondern voller Vorfreude auf deinen Geschmack in sehnsuchtsvollem Erwarten. Schon spüre ich deine Lippen….
Ein weiteres Zitat fällt mir ein. Von Milena Moser, der Schweizer Buchautorin, die so wunderschön über ihre Erfahrungen in und mit der USA schreiben kann…. (da ist sie, die besagte Nähe, zwischen ihr und mir lebe ich doch auch schon seit drei Jahren im wilden Westen).
„Wir Schriftsteller tun´s immer. Und überall.“ Daneben ein Bild, von ihr, schreibenderweise, in einem Krankenhaus.
Also küsst die Worte aufs Papier, ihr Lieben. Küsst und schreibt, wann immer, wo immer ihr könnt!