29.04.2020 von Nepharit / aka Flint Vivian 1. Kapitel Es war schon später Nachmittag. Die Sonne würde gleich hinter dem gegenüberliegenden Haus verschwinden und sandte ihre letzten Strahlen schräg durch die alten, noch mit Fensterkreuz ausgestatteten Scheiben und ließ zahllose Gesichter und andere Formen in der
Maserung des abgewetzten Parketts erscheinen. Zu den Seiten der zwei Schaufenster, die links und rechts von der Tür platziert waren, hingen schwere Samtvorhänge herab, deren dunkelroter Stoff bis auf den Boden reichte und sich dort wie Lachen dunklen Weins ausbreiteten...Oder wie Blut.... Vivian riss sich aus ihren Gedanken. Heute hatte sie ganz gut Umsatz gemacht. Sie war die Besitzerin des kleinen Trödelladens, in dem es sowohl Antiquitäten und Kuriositäten, als auch Dinge für Esoteriker zu kaufen gab. Dinge wie Klangschalen, Glaskugeln, Räucherstäbchen, Bücher, etc
Es reichte gerade so, um den Laden zu betreiben und ein bescheidenes Dasein zu führen und Vivian liebte es. Sie war eine schöne Frau von 34 Jahren, sie war klug, gebildet und – in den Augen der meisten anderen Menschen – ein bisschen....seltsam, weshalb sie allein lebte. Manchmal war sie schrecklich einsam, doch mit den Jahren hatte sie sich daran gewöhnt. Sagte sie sich immer wieder. Aber einsam war sie trotzdem. In diesem Moment wurde die Tür geöffnet und ließ die kleine Glocke, die darüber angebracht war, bimmeln. Ein großer Mann im Anzug trat ein. Er
war schon älter, so Mitte sechzig vielleicht und er sah traurig aus. Viviane nahm seine Schwingung auf und war sicher, sie konnte, wenigstens in groben Zügen, seinen Lebenslauf erzählen. Geschäftsmann, verwitwet, verbittert, hatte sich in seine Arbeit geflüchtet, die Menschen mieden ihn, wenn sie nicht unmittelbar mit ihm zu tun haben mussten, was er übel nahm und noch verbitterter wirkte, obwohl ihm klar war, dass es an ihm lag. Er fürchtete, wenn er wieder jemand lieb gewänne, diesen Menschen auch wieder zu verlieren....Und nochmal konnte er das nicht verkraften... Vivian schluckte. Eine Welle von
Mitgefühl durchlief sie und sie beobachtete den Mann, während er sich umsah. Er schien nicht recht zu wissen, was er suchte und so sprach Vivian ihn an : „Kann ich ihnen helfen?“ Der Mann wandte sich ihr langsam zu und durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick. „Mir kann niemand helfen, schöne Dame!“ knurrte er. „Das tut mir sehr leid, „ antwortete Vivian, „Ist aber nicht meine Schuld!“ Der Blick des Mannes flackerte einen Moment. Er schluckte hart. „Nein!“ räumte er dann ein. „Es ist nicht ihre
Schuld!“ Bevor sie es verhindern konnte, fragte Vivian :“Was ist es, was sie sich nicht verzeihen können?“ Der Mann blinzelte.Überrascht. Erschrocken, beinahe entsetzt. Aha, dachte Vivian, Volltreffer. Der Mann brauchte zwei Anläufe, bis er ein Wort heraus bekam. „Ich habe jemanden verloren....Und ich konnte nichts tun, um es zu verhindern!“ erklärte er dann mit heiserer Stimme „Dann ist es aber auch nicht ihre Schuld!“ stellte Vivian fest. Der Mann im Anzug nickte verdrossen.
„Dann war es also Schicksal?“mutmaßte Vivian. Der Mann nickte, langsam und bedächtig, als fürchte er, sein Kopf könnte herunterfallen. „Ja, ich nehme an, das war es wohl.....!“ „Aber sie würden gern jemand die Schuld geben, hab ich recht?“ Wieder dieses resignierte Nicken. „Elf Jahre ist es jetzt her.....“ erzählte er dann leise. „Und ich komm und komm nicht drüber weg. „ „Glauben sie, diese Person würde es wollen, dass sie sich so furchtbar grämen? Und so lange? Und einsam
sind?“ Vivians Stimme konnte weich sein, wie die Federn eines Kolibris und so süß wie Honig. Der einsame Mann schüttelte stumm den Kopf. Dann seufzte er tief. „Ich weiß überhaupt nicht, was ich hier will!“ seufzte er dann. „Wissen sie, heute ist ihr Sterbetag und sie hat solche Läden geliebt.....Vielleicht deshalb.....!“ Seine große Gestalt schrumpfte buchstäblich zusammen und die sensible Frau hinter dem Verkaufstresen konnte fühlen, dass dieser ausgekochte Buisnessmann den Tränen nahe war. „Ich glaube, ich habe hier etwas für sie,
dass sie sich ansehen sollten....“ meinte sie dann. Die Platte des Tresens bestand aus einer Glasscheibe unter der allerlei Krimskrams, Schmuckstücke, alte Feuerzeuge, Füllfederhalter, etc, lagen.Einer dieser Füller war schon sehr alt und abgegriffen. Den zog sie hervor und hielt ihn in die Höhe, als wäre er eine heilige Reliquie. „Dieses Schreibutensil hat einem Mann gehört, der wie sie, viel gelitten hat. Er hat mir den Füller im Tausch gegen etwas anders überlassen. Er sagte mir, er habe den ihn von einem alten Weisen aus dem Orient bekommen und dass er eine ganz besondere Eigenschaft
hat.“ Der Mann blickte auf, neugierig geworden „Wenn man ganz fest an jemanden denkt, den man verloren hat und damit schreibt, was man diesem Menschen sagen möchte...dann kann er - oder sie es - tatsächlich lesen! Und wenn man dann ganz locker die Hand in Schreibhaltung auf dem Papier lässt, kann diese Person die Kontrolle der Hand übernehmen und zurückschreiben.“ „Ist das wahr?“ wollte der Mann wissen. „Aber sie haben doch bestimmt schon mal von automatischem Schreiben gehört?“ unterstellte Vivian. „Nur dass dies eben ein wenig ...spezieller ist! Der
Füller kostet nur 20,- Euro....“ Interesse leuchtete in den Augen des Mannes auf.Er legte den Kopf schrief, überlegte... „Wissen sie was, schöne Dame? Die 20,- Euronen sind mir der Versuch wert!“ Er lächelte auf einmal, zog seine Brieftasche hervor , entnahm dieser einen Zwanziger und überreichte Vivian diesen feierlich, die dem Kunden mit ebenso bedeutsamer Geste der Füllfederhalter aushändigte. Der Mann betrachtete das Schreibgerät, dann sah er Viviane an und lächelte. „Ich danke ihnen!“ sagte er und seine Augen strahlten sogar ein bisschen. Er nickte ihr freundlich zu und schickte sich an, wieder hoch aufgerichtet, den
Laden zu verlassen. An der Tür blieb er noch einmal stehen und wandte sich um. „Was haben sie ihm im Tausch gegeben?“ wollte er wissen. „Hoffnung!“ antwortete Vivian. Der Mann nickte und verließ das Geschäft. 2. Kapitel Am nächsten Morgen stand bereits eine junge Frau vor der Eingangstür und wartete offensichtlich, dass geöffnet wurde. „Guten Morgen! „ grüßte Vivian.“Sie
wollen zu mir?“ Die Angesprochene nichte. Sie war so Mitte zwanzig, schlank und sah gut aus. Nicht unbedingt wie ein Model, aber Vivian kannte diesen Typ. Die Frau würde auch mit 50 noch so aussehen, wie jetzt. Sie war sehr schlank, war hübsch und hatte langes, blondes Haar, doch ihre Augen blickten sehr wachsam, beinahe ängstlich. Vivian kam es vor, als trüge sie ein Schuld um den Hals mit der Aufschrift >Ich bin zu nett für zu Welt – nutzt mich aus!< Die altmodische Glocke bimmelte, als Vivian die Tür öffnete und ihre erste Kundin dieses Tages eintreten
ließ. „Sind sie auf der Suche nach etwas bestimmten, oder möchten sie sich nur umschauen?“ eröffnete Vivian das Gespräch. „Ich gehe mal davon aus, dass sie schon eine Vorstellung haben, wenn sie extra gewartet haben.....?“ fügte sie hinzu. Die junge Frau wand sich vor Verlegenheit. „Ich, äääh...ich weiß nicht, wie ich sagen soll.....“ „Versuchen sie s einfach!“ ermunterte Vivian.“So schwer ist es bestimmt nicht“!“ Sie zwinkerte der blonden Kundin komplizenhaft zu, was dieser offenbar den nötigen Schubs gab, mit
der Sprache heraus zu rücken. „Ich.....also, eine Freundin hat mir erzählt, dass es bei ihnen Dinge gibt, die ….die es sonst nicht gibt.....Die es eigentlich gar nicht gibt.....?“ Schüchtern sah sie Vivian an, die sich ganz locker mit den Unterarmen auf dem Tresen abstützte und über die seltsame Frage machdachte. „Wie darf ich das verstehen?“ wollte sie dann wissen. „Es gibt hier keine Drogen, keine Waffen, keine sexuellen Dienstleistungen und rosa Elefanten sind im Moment auch ausverkauft.....“ „Nein, nein, sowas meine ich nicht. !“ beeilte die junge Frau sich zu versichern. „Meine Freundin hat eine kleine Truhe
von ihnen bekommen, die.....wie soll ich sagen, die ihr sehr geholfen hat.....!“ Vivian erinnerte sich sofort. Es war auch noch gar nicht lange her. „Ich schlage vor, sie erzählen mir einfach, was ihnen auf dem Herzen liegt!“ schlug sie also vor und sah die blonde Frau aufmunternd an. „Vielleicht findet sich ja etwas Passendes...“ „Also, die Sache ist die.....“ ein unsicherer Blick traf Vivian.“Ich bin Referendarin an einem Gymnasium, Deutsch und English und ich dachte immer, ich könnte das bestimmt gut! Jedenfalls besser als die Lehrer und Lehrerinnen, die ich damals hatte,
verstehen sie?“ Vivian nickte, sagte aber nichts. Die Kundin fuhr fort. „Nun ist es so, egal was ich auch mache, um den Unterricht interessant und gleichzeitig informativ zu gestalten, ich.....“ Die angehende Lehrerin schniefte und eine einzelne Träne kullerte über ihre Wange. Ich werde nur ausgelacht, provoziert, ignoriert.....“ Es folgten weitere Tränen. „Sie legen es gezielt darauf an, mich fertig zu machen. Ich....ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll...!“ Vivien spürte die Verzqweiflung der jungen Frau, die ihr gegenüber stand und reichte ihr ein
Taschentuch. „Danke!“ flüsterte die blonde Referendarin und schneutze sich heftig. „Tut mir leid, dass ich ihnen jetzt was vorheule, aber......!“ „Schon gut! Ich kann sie verstehen! Es bleibt unter uns, ok? Versprochen!“ Zweites Taschentuch.. „Danke!“ schniefte die junge Frau. „Mein Tutor meint, ich müse mich eben durchbeissen.....!“ Ratlos ließ sie denKopf hängen.“Aber ich weiß nicht, wie!“ Vivian musterte ihr Gegenüber. „Ich glaube, ich habe da tatsächlich etwas, das ihnen helfen wird.....!“! sagte sie dann. „Warten sie einen
Moment....!“ Sie begab sich in den kleinen Raum, der als eine Art Lager diente und von dem aus man auch eine winzige Toilette erreichen konnte. Dort wühlte sie eine Zeit lang in diversen Kisten und Kästen , bis sie gefunden hatte, was ihr für ihre Kundin geeignet schien. „Hier, schauen sie!“ Vivian präsentierte der verzweifelten jungen Lehrerin einen Anhänger aus Bernstein. Diese machte große Augen. „Da ist ja etwas darin eingeschlossen....!“ stellte sie fest. Beinahe ehrfürchtig nahm sie das Schmuckstück entgegen und betrachtete es von allen Seiten. „Ein Blatt?“staunte
sie. „Ein winziges Blatt.....Es sieht aus, wie ein Herz....?!“ Behutsam drehte sie den Bernsteinanhänger zwischen den Fingern, hielt ihn ins Licht. „Nein,“hauchte sie ergriffen, „Es ist das …..das Gerippe, oder das Gerüst eines Blattes.....Das ist ja wunderschön!“ Sie sah Vivian an. „Sowas hab ich noch nie gesehen.Eine Mücke im Bernstein, das ja, aber sowas.....So zerbrechlich und doch hat es viele Jahrtausende überdauert! Es ist bestimmt sehr selten und …..“ sie suchte nach dem richtigen Wort „Kostbar!“ Vivian nickte ernst. „Und wenn sie es tragen, wird jeder
unbewusst spüren, wie selten und kostbar sie sind, junge Frau!“ Viviian sagte das mit aller Überzeugungskraft, die sie aufbringen konnte und fühlte, dass ihre Worte ihre Wirkung taten. „Sie müssen es auch gar nicht immer tragen.“erklärte sie weiter. „Nur ab und zu und nach einer Weile werden sie es gar nicht mehr brauchen, weil die Kraft dann vollkommen auf sie übergegangen ist. Dann können sie es jemand anderem geben, der, oder die es vielleicht nötig hat!“ „Was soll es kosten?“ wollte die junge Referendarin wissen. „Geld spielt keine Rolle, ich muss es haben!“ Ihre Augen
leuchteten. „Was geben sie freiwillig?“ fragte Vivian zurück. „200,- Euro?“ „Es gehört ihnen!“ Vivian freute sich. „Und ein stabiles Lederband bekommen sie auch dazu.!“ Während die junge Kundin das Geld abzählte, fädelte Vivian den Anhänger auf ein ledernes Band. Sie machten das Geschäft perfekt. Die junge Frau wirkte sofort anders. Sie leuchtete geradezu von innen heraus. „Ich danke ihnen!“ sprudelte sie hervor . „Ich danke ihnen vielmals! Und ich werde sie weiter empfehlen!“ „Das wäre nett!“ lächelte Vivian. „Noch
einen schönen Tag und sie werden sehen – alle werden ihnen zu Füßen liegen!“ Mit einem letzten Winken verließ die blonde, junge Frau den Laden. Vivian war glücklich! 3. Kapitel Der weitere Tag verlief ohne Besonderheiten. Es kamen einige Leute, kauften Räucherstäbchen, Traumfänger und eine alte Dame ein Pendel. Dabei ließ sie es sich nicht nehmen, ausführlich und begeistert von ihren Gesprächen mit der Geisterwelt zu berichten. Jetzt ging es auf Ladenschluss zu. Vivian
war in Begriff, mit der abschließenden Buchhaltung zu beginnen, da bimmelte die Türglocke. Ein Paar betrat den Laden, beide so Anfang 30. Sie, leidlich hübsch, stark übergewichtig , aber die liebevollsten Augen, die Vivian je gesehen hatte. Er , bullig, raspelkurze Haare, zutätowiert, die Knastträne unter einem Auge , dazu die unvermeidlichen Jogginghosen. Vivian rief sich selbst zur Ordnung. Man soll nie nach dem Äusseren urteilen, ermahnte sie sich, aber einige Stereotypen waren doch sehr.....aufdringlich. Die Frau mit den lieben Augen trat an
den Tresen, während ihr Begleiter mit verschränkten Armen die Dinge in den Regalen betrachtete. Vivian stellte fest, dass die Frau etwas ungemein Reizvolles an sich hatte. Und aus irgendeinem Grund war Vivian klar gewesen, dass sie es sein war, die das Gespräch führen würde, bei dem es offensichtlich um ihn gehen würde. „Hallo!“ begann die Kundin. „Ich bin Gudrun!“ Sie streckte Vivian die Hand hin, die diese, wohl in erster Linie aus Reflex, ergriff und kurz schüttelte. Der Händedruck war weich, aber warm und ein klein wenig feucht. „Das ist Ben!“ Gudrun wies mit dem Daumen über ihre Schulter auf ihren
Begleiter, der noch immer angestrengt so tat, als ginge ihn das alles nichts an. Vivian sagte nichts, sondern hob fragend die rechte Augenbraue. „Also, wir, ich meine ich...also , eigentlich Ben hat da ein kleines ...Problem.....!“begann Gudrun, worauf Ben sich einem noch weiter entfernten Regal zu wandte. „Warum kommen sie zu mir?“ fragte Vivian rundheraus. Schwer hing die Frage im Raum, machte mit ihrer unerbittlichen Schlichtheit alles andere bedeutungslos. Gudrun schluckte hart. Suchte nach dem richtigen Einstieg. Ben seufzte laut. Seine Begeisterung hielt sich spürbar in
Grenzen. „Wie soll ich sagen....“druckste Gudrun herum „Herrjeh, sags doch einfach!“ platzte Ben unvermittelt heraus. Vivian nickte zustimmend. „Ja, sagen sie s doch einfach!“ „Na gut....eine Cousine hat mir erzählt, sie könnten manchmal auf …...besondere Weise weiterhelfen.....! Vielleicht hab ich sie aber auch falsch verstanden und....“ Mit einem Schritt stand Ben plötzlich neben Gudrun direkt vorm Tresen und funkelte seine Begleiterin an. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Vivian, die innerlich zusammenzuckte.
Ben war ganz schön einschüchternd. Er schien beinahe zu bersten vor Wut.Vivian war froh, dass der Tresen zwischen ihnen war.... Das passierte ihr nicht oft. „Ich bin jähzornig!“ Ben knallte die Worte förmlich auf den Tisch. Vivian war erleichtert, dass die Glasplatte hielt. Ben starrte Vivian an und es kostete die junge Frau ihre ganze Kraft, nicht wegzuschauen. „Ich hab mich schon gefragt, auf wen sie so böse sind!“ meinte sie dann. Nachdem sie das gesagt hatte, fühlte sie sich besser, denn Ben nickte zerknirscht. „Wissen sie was?“ gab er zu. „Das wüsste ich auch
gern....!“ „Eigentlich ist er ein ganz wunderbarer, feinfühliger und sanfter Mann.....“ erklärte Gudrun. „Er lässt es nur niemand merken, verstehen sie?“ Vivian nickte bedächtig, legte einen Arm vor ihren Körper, stützte den Ellenbogen des anderen Armes darauf, stützte ihr Kinn in die Handfläche und tippte nachdenklich mit dem Zeigefinger an ihre Nase.Das alles tat sie langsam, um Zeit zu gewinnen. „Ich will ja auch gar nicht immer gleich austicken!“ knurrrte Ben, dem die Sache offenbar peinlich war. „Aber.....aber die Leute sind oft so bescheuert.....! Es ist nicht zum
aushalten!“ Vivian nickte. „Oh ja, das Gefühl kenn ich !“ meinte sie und nahm ihrem Kunden damit vollends den Wind aus den Segeln. „Also die Magitta, „ er machte eine Kopfbewegung zu Gudrun hin, „Gudruns Cousine hat erzählt, dass sie eine besondere Gabe haben und manchmal auf ungewöhnliche Art einigen Leuten helfen konnten. …..“ Von einem Moment zum anderen wurde der Zorn, der von Ben ausging zu einer überraschend unverholenen Hilflosigkeit. Er meinte es ehrlich, soviel stand fest. Vivian überlegte. Und sie hatte auch schon eine Idee.... „Warten sie einen Moment.....“ bat sie
und entschwand in den kleinen Lagerraum. Hier irgendwo musste es sein..... Sie kramte eine Weile herum und fand schließlich , was sie zur Beschwichtigung für Bens aufbrausendes Temprament für geeignet hielt. Triumphierend kehrte sie in den Laden zurück und legte den kleinen Ohrring auf die Glasplatte des Tresens. Gudrun und Ben beugten sich synchron darüber und sagten erstmal gar nichts. „Ist das ein Skelett?“ vergewisserte sich Gudrun ungläubig. „Ein Gerippe als Ohrring?“ wunderte sich auch Ben. „So sieht es aus, ja!“ bestätigte Vivian. „Aber soll man ein Buch nach dem
Umschlag beurteilen?“ „Nein, soll man nicht!“ gab Gudrun zu. „Ein Knochenmännchen am Ohr.....!“ Ben grinste. „Das würde mir gefallen! Ein Loch hab ich ja....“ Überflüssigerweise deutete er erläuternd auf den Stecker in seinem linken Ohrläppchen. „Es ist nicht ganz das, was wir uns vorgestellt haben.....“ sagte Gudrun zögernd. „Was haben sie sich denn vorgestellt?“ wollte Vivian wissen. „Nun, um ehrlich zu sein....“begann Gudrun. „Um ehrlich zu sein hatten wir wohl mehr mit einem Zaubertrank gerechnet,
oder etwas ähnlichem!“ gab Ben zu. Er grinste, um seine Verlegenheit zu überspielen. Vivian grinste zurück. „Das ist nicht sooo falsch!“ räumte sie ein. „Dies ist nämlich ein ganz besonderer kleiner Knochi!“ „Knochi.....“ kicherte Gudrun. „Das gefällt mir!“ „Es gibt eine Geschichte zu dem Skelett.....“begann Vivian. Sie wusste, das Wichtigste, um eine Wirkung zu erreichen, war die richtige Justierung des Unterbewusstseins eben der Person, für die der jeweilige Gegenstand, Spruch, oder eben „Zaubertrank“ gedacht war.Und Geschichten waren
dafür ein bewährtes Mittel. „Die Geschichte möchte ich zu gern hören!“ sagte Gudrun. „Du doch auch, Schatz, stimmts?“ Ben nickte heftig. „Na klar !“ „Also,“Vivian hatte die Story schon fast zusammen.“Es gab mal einen jungen Mann......das ist schon ziemlich lange her. Muss so in den 1920er jahren gewesen sein. Und der hatte das gleiche Problem : er war schnell bei der Hand, wie man damals zu sagen pflegte, war sehr jähzornig und handelte sich sehr oft Schwierigkeiten ein... „ Die Augen ihrer Zuhörer weiteten sich voll Spannung. „Damals war die Kriminalistik technisch
und wissenschaftlich noch lange nicht so weit, wie heute. Wenn jedoch ein Übeltäter erwischt wurde, konnte er sich auf was gefasst machen. Keine Bewährung, soziale Arbeitsstunden , wie im Stadtpark das Laub zusammenharken, im Zoo die Ställe ausmisten und dergleichen. Zu der Zeit gab es Zuchthaus und wenn man wieder raus kam, war man gesellschaftlich so gut wie erledigt. Die Folgen waren sehr viel weitreichender und schwerwiegender als heute. Jedenfalls, jener junge Mann war schon oft mit dem Gesetz in Konflikt geraten, immer wegen Kleinigkeiten, aber eben oft. Zu oft ! Und irgendwann hatte der zuständige Richter die Nase
voll!Doch der junge Mann hatte Glück, dass der ehrwürdige Justizbeamte erkannt hatte, dass er keinen wirklich bösen Menschen vor sich hatte. Dem Bengel fehlte nur ein wenig Schliff, eine bessere.....heute würden wir sagen : eine positivere Einstellung. Und er kannte sich mit der menschlichen Psyche aus. Ich stell mir den so richtig vor, wie auf alten Fotos, mit Vatermörder-Kragen und Schmissen im Gesicht von seiner Studentenverbindung. Und wie das eben heute noch so ist, er kannte jemanden, der wieder jemand kannte, der war Mitglied in einer Loge. Gibts ja auch heute noch!“
Ben und Gudrun hörten atemlos zu. „So wurde der junge Straftäter eines Abends unter größter Geheimhaltung und dem richtigen Ambiente zu einem sehr alten Mann gebracht, der ihn - so geht die Geschichte – sehr lange ansah.... Dann geleitete er den jungen Burschen in den Keller, in seine Werkstatt. Dort goss er aus Silber eben jenes kleine Skelett, welches jetzt hier vor ihnen liegt. Er sagte mehrere lateinische Sprüche auf, hantierte mit Weihwasser, usw ….Alles das verfehlte nicht seine Wirkung auf den Kleinkriminellen, der einmal zu oft erwischt worden war. Der alte Magier, denn nichts anderes war er, erklärte dem Jungen, dass das
Gerippe jedes Mal, wenn wieder die Wut in ihm hochschnellen wollte, sich diese nicht in Zorn, sondern in Gelächter entladen würde und hängte ihm das Amulett um. Der junge Mann glaubte kein Wort und wollte den Alten anschnautzen – stattdessen lachte er. Er lachte so lange, bis ihm die Tränen die Wangen herabkullerten. Er umarmte seinen Retter, der ihm auch gleich einen Job als Hausmeister anbot.... So bekam der junge Kerl die Kurve. Und das mit Hilfe dieses kleinen Knochenmännchens hier!“ Vivian hob „Knochi“ am Haken hoch, ließ ihn hin und her pendeln und betrachtete
die beiden, wie sie die Geschichte verdauten „Und das ist wirklich wahr?“ vergewisserte sich Ben staunend. „Ich denke schon!“ nickte Vivian. „Der Magier war nämlich mein Ur-Ur-Großvater!“ „Wahnsinn!“ befand Ben.“Voll der Wahnsinn!“ „Was soll das Teil denn kosten?“ erkundigte sich Gudrun. „Nun, der Materialwert ist natürlich nicht besonders hoch.....“gab Vivian zu. „Der ideelle Wert hingegen ist unbezahlbar!“ „Wir haben 70,- Euro mit....“ offerierte Ben. „Würde das
reichen?“ Vivian tat so, als müsste sie überlegen. „Wissen sie was?“ schlug sie dann vor.“Weil sie es sind , lass ich ihnen das Stück für nen Fuffie! Einverstanden?“ „Deal!“ sagten Ben und Gudrun wie aus einem Munde. Während Gudrun den Geldschein heraussuchte, steckte Ben sich seinen Knochi ans Ohr und strahlte über das ganze Gesicht. „Du!“ meinte er zu Gudrun. „Ich glaube , es wirkt tatsächlich!“ Vivian geleitete die beiden zur Tür und schloss hinter ihnen ab.Wenige Sekunden später konnte sie Ben draussen lachen hören.
Es war ein guter Tag gewesen. 4. Kapitel Der ältere Herr kam mit beschwingten Schritten die Straße entlang. Er trug Anzug und war wohl in den Sechzigern. Er lächelte vor sich hin und genoss sichtlich die Strahlen der Herbstsonne auf seinem Gesicht. Er blickte zum Himmel auf, über den bauschige Wolken dahin zogen. Seit einiger Zeit liebte er es, in den Gebilden aus Wasserdampf allerlei Gesichter, Formen und Figuren zu sehen und fragte sich dann oft,
warum er diese Wunderwelt nicht schon früher erkannt hatte. Nun, besser spät als nie. Er nickte einem Passanten im Vorrübergehen zu , machte noch ein paar Schritte - und blieb wie angewurzelt stehen. Er starrte verständnislos auf das leere Grundstück zwischen den Altbauhäusern. Hatte er sich in der Staße geirrt? Nein, er war ganz sicher richtig hier! Wie konnte das sein? Wo war der kleine Trödelladen mit der bemerkenswerten Besitzerin? Das Grundstück lag schon länger verlassen, das war klar zu erkennen. Das war doch nicht möglich! Der Mann war fassungslos.
Da entdeckte er eine Frau, die gegenüber am Fenster stand und winkte ihr heftig zu. Nach kurzem Zögern öffnete diese das Fenster, beugte sich hinaus und fragte „Was gibt es denn?“ „Entschuldigen sie....Wo ist das Haus mit dem Laden drin??“ Der Mann wies mit ratloser Geste auf die unbebaute Fläche. Die Frau wandte sich um und rief in die Wohnung hinein:“Hannes! Hier ist schon wieder so jemand! Du bist dran!“ Damit verschwand sie und an ihrer statt erschien ein vierschrötiger Mann im Feinrippunterhemd, eine Zigarette in der
einen, eine Zeitung in der anderen Hand. „Sie wundern sich bestimmt, wo der Trödelladen ist, hm?“ unterstellte er. Der Mann im Anzug nickte. „Den Laden gibt es schon seit 30 jahren nicht mehr!“ behauptete der Mann am Fenster. „Aber irgendwie scheint es ihn doch noch zu geben, wenn sie wissen, was ich meine.....“ Der Mann auf der Straße breitete ungläubig die Arme aus. „WAS?“ „Ja! Für einige Menschen scheint der Laden tatsächlich noch geöffnet zu haben, verstehen sie? Für Leute, die Hilfe brauchen! Erst vor zwei Tagen war eine junge Frau hier, die hat genauso ein
Gesicht gemacht, wie sie jetzt!“ „Und sie erwarten, dass ich das glaube?“ „Ich erwarte gar nichts!“ stellte der Mann im Unterhemd klar. „Aber das ist alles, was ich ihnen darüber sagen kann! Und dass die Besitzerin Vivian hieß!“ Damit schloss er das Fenster und ließ den Mann im Anzug in völliger Verblüffung zurück.... „Vivian....“ flüsterte er. Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Der Mann wandte sich ab und ging davon. „Vivian.....“ ENDE