Mancher Abschied dauert länger
La Palma – Kanaren
Sommer 2011
Der Weg schraubt sich in immer enger werdenden Serpentinen den Berg hinauf. Zwar brennt die Sonne erbarmungslos vom strahlend blauen Himmel, aber alle paar Minuten weht ein frischer Wind und kühlt meine heiße Stirn. Du kennst das, meine Liebe, wir haben hier Schweißtropfen, Tränen und Lachen gelassen. Und in dem letzten Sommer auch die Endgültigkeit, dieses "Nie wieder".
Der Wind, der dein dunkles Haar ins Blau hineingeweht und unsere Gefühle
auf ein erträgliches Maß abgekühlt hat, jetzt kühlt er mein heißes Herz, genauso wie meine überhitzte Haut.
Ja, ich bin wieder hier, und mit jedem Schritt und jedem Stück Weg, das ich hinter mir lasse, bin ich dir näher und gleichzeitig weiter entfernt. So viele "Weißt du noch" schwirren mir im Kopf herum, und fast bin ich ein wenig böse, dass ich keine Antwort bekomme.
Aber das ist ja Unsinn, natürlich weißt du noch, auch wenn du es mir nicht mehr bestätigen kannst.
Die Anstrengung tut gut, lässt mich jeden einzelnen vernachlässigten Muskel spüren. Bin dankbar für den Schmerz,
bewirkt er doch, dass ich mir selbst wieder sehr bewusst werde.
Meine Liebe, ich bin viele Wege gegangen seit letztem Jahr, und dieser hier wird ein Abschiedsweg sein.
Ist dir klar, dass ich nie diesen Abschied habe nehmen können? Dein Vater hat all meine Versuche boykottiert, ja, ja, ich weiß … Du würdest jetzt lächeln und sagen: »Lass ihn doch, er kann nicht anders.« Dann nähmest du meine Hand und würdest mit mir da durchstiefeln und eben … Abschied nehmen. Nur, das geht nun nicht. Ich muss das allein schaffen und ich bin stärker jetzt als vor zwei
Jahren.
Ich gehe wieder den Weg vom Pico de la Nieve zur Punta de los Roques. Das Auto steht an der Abzweigung zur Pista de la Nieve - wie damals.
Auch heute habe ich meine Farben dabei, mühe mich redlich, alles zu schleppen. Ich halte meine Versprechen, das weißt du.
Der Weg macht plötzlich eine scharfe Biegung, führt zwischen Steinen und einer engen Felsnase hindurch. Kurz muss ich die Hände zur Hilfe nehmen, um die Gesteinsbrocken zu erklettern.
Dann hebe ich den Kopf und erstarre ob der grandiosen Aussicht. Damals hast du
meine Hand umklammert, so fest, dass sich deine Fingernägel in mein Fleisch gebohrt haben. Den Schmerz spürte ich erst später, der Anblick schaltete jedes andere Empfinden aus.
Auch jetzt kann ich kaum weiteratmen, halte unbewusst die Luft an. Nach Norden zu öffnet sich weit die Caldera. Der Barranco wird sichtbar, das fast ausgetrocknete Bett des Calderaflusses, in mehr als tausend Meter Tiefe, eingebettet zwischen Geröll, Felsen und kiefernbewachsenen Hängen. Weiter rechts ein dicker Wolkenteppich, wattegleich liegt er ruhig ausgebreitet über dem Land, löst sich nach links auf und gibt den Blick frei auf das tiefblaue
Meer. Ich muss für dich mitsehen. Warum ist es dir nicht vergönnt?
Auf dem Weg zum Pico de la Nieve hatten wir unseren einzigen richtigen Streit, und ich war schuld, habe mich benommen wie ein pubertierendes Schulmädchen.
Unsere gelegentlichen kleinen Meinungsverschiedenheiten über banale Alltagsdinge waren ja zuweilen erheiternd. Locker warfen wir uns die Bälle verbal zu, nie verletzend, immer ein wenig den Humor und das Schmunzeln im Hintergrund. Diesmal war es ernst und dumm, anders kann ich es nicht
sagen.
Ich hatte auch damals meine Farben mitgenommen, den Block und Pinsel und allerlei Krimskrams. Wir schwitzten uns den Berg hinauf, ich war am Ende etwas langsam mit dem Gepäck auf dem Rücken. Du bist ärgerlich geworden. Ich vergesse nie deine Miene, als du meintest: »Musst du unbedingt da oben ein Bild malen? Kauf dir doch eine Postkarte.«
Sie waren fremd für mich, diese Worte, sie passten nicht zu dir. Das warst nicht du.
Ich spürte einen Knoten im Bauch, fühlte mich irgendwie verletzt, konnte aber nichts sagen in diesem
Moment.
Noch heute verstehe ich nicht meine völlig absurde Handlungsweise. Ich öffnete den Rucksack und holte die Farben heraus, eine Tube nach der anderen, lief weiter und ließ die Tuben auf dem Weg liegen. Irgendwann musste ich anhalten, denn vor lauter Tränen konnte ich nichts mehr sehen. Tränen der Wut, verletzter Eitelkeit, was auch immer. Ich setzte mich an die Seite, wischte mir durchs Gesicht, schniefte wie ein kleines Kind. Und dann kamst du, bliebst vor mir stehen. In deinen Händen all meine Farbtuben, die du wieder eingesammelt hattest. In deinen Augen standen auch Tränen und dann
weinten wir beide, lagen uns in den Armen.
Es brauchte keine Worte mehr. Ich packte die Farben wieder ein. Dann: »Enya, Enya, ich weine, ja, aber nicht, weil ich böse bin, nein, du hast sie aufgegeben, die Kontrolle. Einmal hast du sie aufgegeben. Ich glaube, ich habe dich nie mehr geliebt als jetzt in diesem Moment.«
Wie oft haben wir darüber gesprochen, dass ich nie loslassen konnte, mich immer kontrollierte, sogar wenn ich meine Gefühle zeigte, sogar dir gegenüber. Deine Hand auf meinem Arm. Es war anders als sonst, diese Berührung. Was geschah da mit mir, mit uns? Nach
zehn Jahren?
Ich war aufgestanden, dir vorausgeeilt.
Das Bild wurde nicht fertig, ich musste aufhören zu malen, weißt du noch? Wir wären nicht mehr rechtzeitig nach unten gekommen.
Aber ich halte mein Versprechen. Ich werde es zu Ende bringen. Wenn ich es heute nicht schaffe, werde ich wiederkommen. Ein wenig muss ich noch warten, das Licht stimmt nicht.
Mir fällt das Atemholen auf einmal leicht. Meine Lungen füllen sich mit Luft. Ich warte auf das Licht und dann male ich.
Der Abstieg ist wunderschön, leicht, ich
gehe trotz der schweren Wanderstiefel locker, beinahe schwingend. Weißt du, ich habe zum ersten Mal das Gefühl der Genesung, obwohl jeder Schritt ein klein wenig mehr Abschied ist.
Ich habe hier ein nettes Ehepaar kennengelernt. Sie würden dir gefallen. Ich esse abends oft mit ihnen. Als die Sonne heute untergeht, sitze ich an unserem Tisch, an deinem und meinem – allein. Diesen Moment brauche ich ganz für mich. In Gedanken spreche ich vorsichtige Worte eines Adieus, aber auch Worte der Liebe.
Die Sonne wird gleich hinabtauchen in die Unendlichkeit des Meeres. Die
Palmen heben sich beinahe schwarz vor diesem Leuchten ab.
An diesem Abend, nach unserem Streit, was ist mit uns passiert? Ich brauche die Antworten, die Akzeptanz, um es letztlich lassen zu können, loslassen, genau wie dich. Was wäre gewesen, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten? Oder wäre es dann überhaupt gewesen? Hätten wir unsere Freundschaft riskiert?
Ich würde es so gern abtun als eine Episode, ganz nach hinten packen in mein Erinnerungskästchen, es wegblasen – wie eine Feder schwebten diese Gefühle davon, hinein ins Blaue oder auch in die dunkle
Nacht.
Ich schaffe es nicht, also werde ich damit leben. Vielleicht kann ich es ein bisschen händeln wie du immer quälende Gedanken gehändelt hast.
Der Abend dann nach diesem Tag.
Du auf dem Bett, ich auf dem Boden, die Wärme, die noch immer ins Zimmer kriecht, die Ritzen ausfüllt, dass die Luft fast zu schwer ist zum Atmen.
Dein Blick, dein Lächeln. Wir stehen gleichzeitig auf, dein Finger an meinem Mund und dann:
»Still«, sagst du. »Warte ... spürst du es?«
Und wie ich es spüre in diesem Moment.
So fühlt es sich an, wenn Brandungswellen dich herumwirbeln. Wir harren einen Moment aus, schweigen.
»Hätten wir doch mehr Zeit«, hast du geflüstert. Ich konnte nichts sagen. Und so umarmte uns das Schweigen minutenlang.
Nein, kein Gespenst mehr jetzt, das mich verfolgt. Keine Fragen mehr: Was wäre gewesen, wenn …
Ich esse mit gutem Appetit, ich habe im letzten Jahr zugenommen, meine Haare sind kürzer wegen der Chemo, du würdest die Lippen verziehen mit krauser Nase und leicht belustigtem Blick sagen: »Es sind nur Haare, Enya, und vielleicht
wirst du einmal eine Glatze haben wie ich.«
Nein, das werde ich wohl nicht. Und wenn es wieder so sein wird, dann werde ich es mit einem Lächeln hinnehmen. Es geht mir gut im Moment.
Der Weg war lang, den ich gegangen bin, ohne dich und doch mit dir.
Morgen nehme ich dich noch mal mit, wir spazieren durch die Dörfer und erfreuen uns an den bunten Farben der Häuser. Dann fliege ich zurück, einen Teil von dir werde ich hier lassen, dein Leiden, deinen Schmerz, der auch meiner ist.
Einen anderen Teil nehme ich mit, dein
Lachen, dein Selbstvertrauen und die Erinnerung. Das Band werde ich durchschneiden und doch bestehen lassen.
Morgen, dann werde ich loslassen.
Heute noch bist du ganz bei mir.
Mancher Abschied dauert länger.
Nachtrag 2021:
Fast zehn Jahre sind vergangen, seit ich diesen Abschied vollzogen habe.
Das Bild ist noch immer nicht fertig geworden. Obwohl ich mir geschworen habe, es zu vollenden, konnte ich es nicht. Immer noch kämpfe ich, um zu
leben, biete der Krankheit die Stirn. Ich weiß, du würdest mir sonst die Leviten lesen.
Und wenn mich das Grau der Traurigkeit und die Glut der Verzweiflung mal wieder überrollen, höre ich deine Stimme, wie du sagt: »Schau mal, Enya, ich male dir den Regen bunt.«
Und weißt du was? Inzwischen schaffe ich das für mich, mir den Regen bunt zu malen.