carlos der hahn
Carlos ist ein bunter Hahn und herrscht über einen Harem von fünf weißen Hühnern. Sie bewohnen gemeinsam einen Stall, der in einem alten Bauwagen eingerichtet ist. Es ist ein sicherer Schlafplatz und bietet viel Raum. Mehrere Sitzstangen sorgen für Komfort und die Legenester sind so perfekt angelegt, dass es dem Federvolk an nichts fehlt. Carlos hat seinen Platz ganz oben und kann auf diese Weise seine Frauenschar immer im Blick behalten. Dürfen die Hühner am Morgen nach dem Füttern in den Garten, fliegt Carlos in den alten Apfelbaum. Dort hat er ein lauschiges Plätzchen für sich gefunden, überschaut den gesamten Garten und hält mit
seinem Kikeriki die Schar zusammen. Sobald er den Ansitz im Baum verlässt, sucht er im Garten nach Fressbarem. Das ist nicht schwierig, weil die Hühnerhalter mit Hilfe von Mist und guter Pflege des Bodens ein üppiges Regenwurmangebot für ihre Hühner bereithalten.
Carlos spaziert hoch erhobenen Hauptes durch das Grün der Wiese, stochert hier und dort und hat bald einen fetten Regenwurm aus dem Boden gezogen. Alles Sträuben hilft hier nichts. Sorgfältig wird die Beute für seine Untertanen bereit gelegt. Dann ertönt lautes und aufgeregtes Kikeriki-Geschrei, die Hennen rennen so schnell als möglich zu ihrem Herrn und Gebieter und streiten eifrig
gackernd um die fette Beute. Das gleiche Spiel kann man täglich mehrfach beobachten. Die Kinder der Familie haben ihren Spaß daran. Weil das laute Krähen des Hahnes und das häufige Gackern der Hühner die Nachbarn stören, hecken diese einen perfiden Plan aus.
Als der Nachbar mit seinem Freund, dem Förster, heftig palavernd am Zaun des Grundstücks steht, bekommt Carlos auf seinem Ausguck davon Wind. Die beiden Männer planen, den zahmen jungen Fuchs des Försters zu den Hühnern in den Bauwagen zu bringen. Die Kinder der Nachbarn schließen den Stall nicht immer sorgfältig genug ab, nachdem sie abends die
Tiere hinein gelockt haben. Ist der Fuchs erst mal drin, wird es das große „Töten“ geben. Darüber sind sich die bösen Nachbarn sicher. Aber manchmal kommt alles ganz anders, als man sich denkt oder wünscht.
Die Männer sind verschwunden, da ruft Carlos sofort seine Damen zusammen, um mit ihnen einen Schlachtplan auszuarbeiten. Zunächst berichtet er, was die Männer besprochen haben. „Stellt euch vor, der Förster will mit seinem zahmen Fuchs kommen, nachts über den Zaun steigen und den Fuchs in unser Haus schicken. Das heißt für uns: Kopf ab. Aber nicht mit uns.“ Eine seiner Hennen, nicht gerade die Mutigste, jammert: „Was sollen wir bloß tun? Ich habe
solche Angst.“ „Hört einfach zu und lasst euch alles erklären. Jemand muss in den nächsten Nächten immer Wache halten. Das machen wir abwechselnd. Wird ein bisschen stressig. Aber wir bekommen das hin. Und am Tag üben wir einen Angriff. Das soll so werden: Die Wache schlägt zwei Mal mit den Flügeln. Das heißt Alarm, weil sie etwas gehört hat. Dann macht ihr euch zum Angriff bereit. Ist der Feind eingedrungen und versucht, die oberen Sitzstangen zu erreichen, wo wir künftig nachts immer sitzen werden, dann krähe ich laut. Das ist das Signal zum Angreifen.“ „Und du glaubst, dass das so funktionieren kann?“ „Wenn ihr alle mitmacht, sehe ich keine Schwierigkeiten“, entgegnet der Hahn. „Mit den Regenwürmern proben wir
das Ganze. Das klappt schon!“
So kann man in den nächsten Tagen die Hühner üben sehen. Ziel: die Regenwürmer. Zwischendurch gibt der Hahn entsprechende Kommandos an die Einzelnen: „Zwei auf den Kopf und auf die Augen hacken. Drei auf den Rücken und hacken.“ Oder: „Eng in Reihe von vorne.“ Oder: „Alle auf den Rücken!“ Natürlich macht er als Anführer auch mit. Das stärkt die Hühner sehr und sie werden mutiger, ihre Angriffe erfolgen schneller und heftiger.
Eines Nachts ist es soweit. Herr Meier schleicht sich mit seinem Freund und dem zahmen Fuchs auf das Hühnergrundstück.
Vorsichtig öffnen sie die Klappe, um den Fuchs hineinschlüpfen zu lassen. Im Bauwagen ein doppelter Flügelschlag. Die Hühner sind hellwach. Nach kurzer Orientierung drinnen will das Raubtier mit seinem Werk beginnen und versucht, die Sitzstangen der Vögel zu erreichen. In dem Augenblick stürzt sich Carlos mit lautem Krähen auf das Raubtier und beginnt mit einer Hacktirade. Die Hühner, nicht faul, fliegen auf sein Kommando hin auf den Boden, formieren sich zu einer Phalanx und starten einen Hackangriff auf den Kopf des Fuchses, dass dem Hören und Sehen vergeht. Er hat alle Mühe, Augen und Nase zu schützen. Haarbüschel fliegen, der Feind zieht den Schwanz ein und will schnell
entkommen. Er findet kaum den Ausgang, weil ihm die Hühner in die Hinterbeine hacken. Einige sind jetzt flatternd auf seinen Rücken gesprungen und hacken, wie gut eingeübt, weiter auf ihn ein. Carlos sitzt laut krähend auf der obersten Sitzstange und feuert seine Haremsdamen an. Der Fuchs hat sich endlich durch die offene Klappe wieder nach draußen gezwängt und springt übel zugerichtet seinem Halter in die Arme.
Als endlich Ruhe einkehrt, zeugen ein paar weiße Federn, eine blauschwarze Sichelschwanzfeder und Haarbüschel auf dem Boden des Hühnerhauses von dem nächtlichen Überfall.
Durch diese mutige Aktion ist die Produktion der Eier für Jahre gerettet.
©HeiO 05-04-2020