MARION
Durchgestylt von den Haarspitzen bis zu den Zehennägeln, alle Klamotten farblich passend, dazu Schmuck, Strümpfe, Tasche und Schuhe, so stöckelt die Vierzigjährige zu ihrem sündhaft teuren Sportwagen in der Tiefgarage jenes Wohnblocks, auf dessen Dach sie eine Penthouse-Wohnung ihr eigen nennt. Sie ist Topmanagerin eines der weltweit führenden Modelabels mit schwindelnd hohen Umsatzzahlen. Heute muss sie den anderen Damen und Herren der Chefetage unterbreiten, dass es wegen des derzeit sich rasant verbreitenden Coronavirus zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten gekommen
ist und auch weiterhin kommen wird. Alle Geschäftsreisen ins In- und Ausland sind für ein halbes Jahr gestrichen. Gearbeitet wird grundsätzlich dank der modernen Medien nur noch von zu Hause aus. Diese Anweisungen sind an alle anderen Mitarbeiter weiterzugeben. Das Meeting wird nach längstens 45 Minuten beendet sein. Marion sieht sich entspannt in ihr Fahrzeug steigen, die Schuhe von den Füßen streifen und gemütlich nach Hause fahren.
Zuhause angekommen, endlich Kleidertausch: sportlich und bequem, die Schminke ab, den Stress abgestreift, die Beine auf ihrer Sitzlandschaft hochgelegt, gönnt sie sich ein großes Glas prickelndes
Mineralwasser. Es ist Fastenzeit. Dieses Jahr wird es dank Corona eine gute Zeit werden. In den nächsten Wochen wird es nicht viel Arbeit geben. Und das bisschen werden ihre tüchtigen Mitarbeiter zuverlässig erledigen. Alle modernen Medien hat sie heute früh schon abgeschaltet: Medienfasten eben. Gefriertruhe und die beiden riesigen Kühlschränke sind reichlich gefüllt. Außerdem gibt es dienstbare Geister, welche Sonderwünsche auf Anruf erfüllen.
Träge begibt sich Marion in ihr Ankleidezimmer, lässt sich in einen bequemen Sessel fallen. Was soll Fasten für sie bedeuten? Seit langem beschäftigt sie diese Frage. Naja, abnehmen muss sie bei ihrer
Topmodelfigur nicht. Ein wohlgefälliger Blick in den Spiegel bestätigt das. Jetzt wird sie erst einmal fasten von Stress und Arbeit, Corona sei Dank. Die Klimakrise rüttelt an ihr, als sie kritisch ihre viel zu vollen Kleider-, Schuh- und Zubehörregale betrachtet. Braucht der Mensch wirklich so viel, schießt es ihr in den Kopf. Neidvoll denkt sie an die klar strukturierten Räume des neuen Minimalismustrends. Die nächsten Wochen ihrer FASTENZEIT werden zeigen, was für sie, Marion, FASTEN bedeutet.
Gelegentlich meldet sie sich in der Chefetage beim Führungsstab, ihren Mitarbeitern. Ihr Stellvertreter meldet: alles in Ordnung. Marion lächelt triumphierend vor sich hin. Es geht
also doch ohne sie. Dann widmet sie sich wieder ihrem persönlichen Fasten.
Die Menge der Kleider, Blusen, Hosen, Röcke, Mäntel und so weiter ist auf eine wenige Exemplare umfassende Anzahl geschrumpft. Ebenso die Handtaschen, Schuhe und Schals. Sorgfältig hat sie ihre Farbwahl getroffen. Alles ist mit allem kombinierbar und sieht immer toll aus. Ihre Ausbildung als Stylistin hilft ihr hier weiter.
Was aus all dem Überfluss geworden ist? Dank Kleinanzeigen hat man ihr die Sachen aus den Händen gerissen und sie hat es sich gut bezahlen lassen.
Und nach der Fastenzeit wird sie ihren Job kündigen, eine fette Abfindung aushandeln und eine Beratungsfirma für all jene gründen, die lernen wollen, auch mit wenig im Job und privat top auszusehen. Die passsenden Klamotten aus fairer Herstellung und fairem Handel wird es auch bei ihr geben! Sie hat schon lange in dieser Richtung vorgeplant und vorgearbeitet. Und eine Kundenkartei hat sie heimlich längst erstellt. Ihr Freundeskreis ist groß!
©HeiO 16-03-2020