Körpertausch
»Es ist wie neugeboren werden.«
Nicole spürte die Anspannung, die Nicky angesichts dieser Tatsache erfasste. Ihre Hände suchten ihn zu beruhigen. »Mit jedem Schritt, den du diese Brücke überwindest, mit jeder Sekunde, die dieser Tag voranschreitet, werde ich ein weiteres Stück deines Lebens erhalten. Und schließlich, wenn du die Brücke überquert haben wirst, wird von Rainer nicht viel mehr als Erinnerung übrig bleiben. Denn nur die ist unvergänglich.«
Gerade als Nicole die letzten Worte gesprochen hatte, bemerkte Nicky, wie er mit seinem Bett durch die Gänge geschoben wurde. Nun wurde endlich wahr, wovon er die
ganze Zeit nur hatte träumen dürfen. Jetzt bekam Nicole sein Gesicht, einen weiblichen Körper und eine eigene, richtige Identität. Nun würde der Konstruktionsfehler der Natur behoben, damit die Seele eine Heimat bekam. Nicoles Odyssee, der Tanz im falschen Körper, die Suche nach ihrer Identität, die unendlichen Qualen der Selbstfindung, das lange Warten auf Erlösung hatten sich gelohnt. Rainer bezahlte den Preis, den Lohn strich Nicole ein. Doch genauso war es gedacht! Und irgendwie freute sich Rainer, endlich von der Last befreit zu werden, die sein Leben für ihn stets bedeutet hat. Und Nicole fieberte dem Augenblick entgegen, endlich Frau in einem eigenen Körper zu sein. Vorbei war ihre qualvolle Zeit in einem Körper,
der ihr nicht gehören wollte. Die vielen Jahre der Enttäuschung, die lange Zeit des Kampfes, der aussichtslose Versuch, ihr Leben doch so zu beenden, wie es begonnen hatte. All dies sollte jetzt der Vergangenheit angehören. Wenn sie es gekonnt hätte, wollte sie Purzelbäume der Freude schlagen. Doch musste sie sich gedulden. Sie empfand sich als unschuldig Gefangene, die ihrer rechtmäßigen Entlassung aus der Haft entgegensieht, als Kaulquappe auf dem Weg zum Frosch. Und wenn sie es recht betrachtete, waren die letzten siebenundzwanzig Jahre für sie tatsächlich endlose Jahre der Gefangenschaft gewesen. Sie fühlte sich begnadigt. So ähnlich muss jemand empfinden, dessen lebenslange
Freiheitsstrafe aufgehoben wird. Nicole erlebte jeden Augenblick mit steigender Wachsamkeit. Sie beobachtete jeden Handgriff, gespannt und neugierig. Alles in ihr wartete auf den Augenblick, in dem Rainer für immer die Augen schloss.
Wie ein Sterbender, der gefasst seinem Ende entgegensieht, lag er in dem Bett mit gepunkteter Wäsche und sein Blick hing starr an der Decke, deren Lampen ihn blendeten. Wie Nicole erwartete er die letzten Momente seines Daseins. Matt, fast unbeteiligt, rollte sein Körper über die Barriere, die zum Operationstrakt führte. Müde, unendlich müde war er. Wenn es doch endlich so weit war, dann konnte er sich ausschlafen!!! Nichts Anderes erfüllte seine Gedanken, seine
Corona. All die Jahre hatte er darauf hingearbeitet. Er wusste, dass er Nicole seinen Körper nicht verwehren konnte. Und er wollte es auch gar nicht. Wie von fern beobachtete er die routinierten Handgriffe des Teams. Und plötzlich hörte er die Stimme des Narkosearztes: »Ihre letzte Tablette, Nicky. Nun dauert es nicht mehr lang. Bald haben Sie es hinter sich. Möchten Sie noch etwas fragen?«
»Nein. Es ist alles gut.«
Nicky hatte schon Mühe mit dem Sprechen, so legte er sich wortlos nieder und schloss erleichtert die Augen. Mit einem, essigsauren Lächeln auf den Lippen glitt er in die tiefe Narkose.
Er streifte durch die vertraute Welt zielstrebig
auf die Brücke zu, die sein Weg in die Freiheit war. Er war völlig auf sich allein gestellt, doch sicheren Schrittes folgte er den unsichtbaren Wegweisern. Sein Blick glitt über die Beete, auf denen er in seiner Jugend gespielt und gelebt hatte. Er sah die dunklen Schatten, die der Umgebung was Unheimliches gaben. Er sah leuchtende Tupfen, von der Sonne verwöhnte Erinnerungen und Wünsche. Er entdeckte die Sehnsucht, die ihn immer weiter vorwärtsgetrieben hatte. Nicky kam an jenen Wegen vorbei, die er mit Nicole, den unsichtbaren Händen, gegangen war. Und er erinnerte sich der hohen Mauer, die ihre Welt voneinander trennte. Mit dem Wissen, alles für sich richtig gemacht und den Sinn seines Lebens erfüllt zu haben, trat er geradewegs an
den Fuß der Brücke seiner Träume, die in dichten Nebel gehüllt war. Er setzte sich auf einen nahen Felsblock und schaute sich um. Tränen der Wehmut, Trauer, Freude und Sehnsucht verwehrten den Blick. Sein Herz pochte wild in seiner Brust. Und die Gedanken, eben noch fest entschlossen und sicher, schwirrten rastlos umher. Er sah auf sein Leben hinab, dass von ihm alles abverlangt hatte, und nun würde dieses Leben ein ungeahntes Ende und gleichzeitig einen neuen Anfang finden. Er sah sein Leben, dass nur ein Ziel gekannt hatte: es zu beenden. Doch jetzt, wo es so weit war, wo sich sein Leben erfüllte, zögerte er, den letzten Schritt zu wagen. Denn er wusste sehr wohl, dass er dann keine andere Wahl mehr hatte. Er fühlte
sich müde und ausgelaugt, unfähig zu gehen. Unsicher schaute er die Brücke hinauf, sie machte ihm Angst, denn er konnte ihr nicht folgen. Plötzlich erhob er sich langsam und bedächtig. Sein Blick ruhte auf der Landschaft. Während er die ersten Schritte ging, zogen sich dunkle Wolken über ihm zusammen und es begann plötzlich, heftig zu regnen. Mit jedem Schritt schien der Regen kräftiger zu werden, nur auf der Brücke blieb es trocken. Der Nebel hüllte ihn ein, sodass er kaum noch etwas erkannte. Und irgendwie war es ihm sogar recht, denn nun eröffnete sich ihm der Blick auf die Brücke, die sich mit jedem Schritt deutlicher von der Umgebung abhob. Steil und schier unüberwindlich tauchte sie vor ihm auf. Unsicheren Schrittes folgte er dem Verlauf der
Brücke, hielt sich krampfhaft am Geländer fest. Sein Blick richtete sich voraus, und mit jedem Augenblick drängte es ihn, immer schneller zu laufen. Mit gleichbleibendem Tempo erstieg er die Anhöhe. Dort blieb er einen Augenblick verdutzt stehen. Denn was er nun sah, verwirrte ihn noch mehr. Er sah sich wieder jenem Spiegel gegenüber, dem er schon Jahre zuvor begegnet war. Nur diesmal war es ein ganz anderes Gefühl, das von ihm Besitz ergriff. Es war ein Spiegel und doch gab es kein Spiegelbild. Sie wirkte eher wie eine Membran zwischen den Welten. Er wusste, dass nur ein Teil von ihm dadurch konnte. Zurückbleiben würde alles, was ihn ausmachte. Doch was würde den Weg hindurch finden? Und was machte der Rest,
der nicht hindurchging? Was sollte er nun tun? Was passierte mit ihm, wenn er wie beim letzten Mal versuchte hindurchzugehen? Fragen, die keine Antwort kannten. Du wirst wieder hindurch müssen, egal, was passiert, dachte er bei sich. Zögernd trat er darauf zu, nahm allen Mut zusammen und steckte die erste Hand hindurch. Ein eigenartiges Gefühl der Zerrissenheit und Wahrhaftigkeit ließ die zweite Hand der ersten folgen. Neugierig betrachtete er die Arme, die ihre Hände verloren glaubten. Doch er konnte sie spüren. Nun verstärkte sich das Gefühl, das er eigentlich nicht beschreiben konnte. Irgendwie gab es die Hände nicht mehr, und doch gab es sie. Kein Blick zurück, kein Gedanke an die zurückgelegte Zeit, keine Wehmut darüber,
nun sterben zu müssen. Einzig die Sehnsucht, seinem ungeliebten Leben, seinem verhassten Körper und seiner unfreiwilligen Männlichkeit zu entfliehen, war die Triebfeder seines Handelns. Die Hoffnung und der Glaube an eine lebbare Zukunft, die Vision einer schöneren Welt, die darauf wartete, von ihm erfahren zu werden, ließ seine Füße den letzten und alles entscheidenden Schritt tun … Und plötzlich war Nicole durch den Spiegel hindurch. Sie betrachtete ihre Hände, ihre Füße. Ihr Körper schien unendlich leicht und weich. Zögernd strichen ihre Hände über die Arme, über das Gesicht, über ihren Körper hinweg. Alles war an seinem Platz, alles war gut. Freude und Neugier breiteten sich aus. Fragend hob sie den Blick und sah sich um.
Vor ihren Augen breitete sich eine Landschaft aus, die schöner nicht sein konnte. Alles war neu und doch bekannt, eine Welt, die auf sie wartete. Von der Brücke aus hatte sie einen herrlichen Blick, ähnlich dem von der Mauer aus. Behutsam setzte sie einen Fuß vor den anderen.
So hatte sie es sich immer vorgestellt, wenn sie auf Rainers Schultern durch den Garten gewandert war. Ach ja, Rainer! Ich danke dir, dass du mich hierher gebracht hast. Lebewohl, dachte sie, und eine Träne bahnte sich ihren Weg über ihre Wangen. Sie blickte über ihre Schultern hinweg den Weg zurück, den sie gekommen war. Der Spiegel zeigte klar und deutlich ein weibliches Gesicht, nichts Anderes hatte sie erwartet, und doch erschrak
sie leicht. Es war ein ungewohnter Anblick, der ihr aber die Freudentränen in die Augen trieb. So hat es immer sein sollen. Endlich habe ich mich selbst gefunden.
In ihrer Freude bemerkte sie zuerst nicht, dass im Spiegel neben ihrem Antlitz auch das Gesicht Rainers zu erkennen war. Sie grinste unvermittelt: Er sah aus wie Dambedei, der badische Weckmann.
»Lebst du noch, Rainer?«, fragte sie erstaunt.
»Aber sicher, du hast schließlich die Erinnerung mitgenommen.« Er schaute Nicole ernst an. »Du selbst hast doch gesagt, dass die Erinnerung bleiben wird.«
Damit verschwand sein Gesicht wieder. Das hatte Nicole natürlich gewusst, doch nun war es ihr gar nicht mehr recht. Nun gut, sie
vertraute darauf, mit dieser unerwarteten Wendung leben zu können. Dann wand sie sich um und lief die Brücke hinunter. Unten angelangt ließ sich atemlos mitten auf den Weg fallen, der in die Weite führte. Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass sie es war. Sie selbst berührte den Sand, die feinen Kiesel, sie selbst sah die Welt aus ihren Augen, ihre Füße standen selbst auf dem Boden. Mit wackeligen Knien antworteten ihre Beine auf die ungewohnte Last, die sie fortan tragen sollten. Sie ließ sich erschrocken auf einem Felsen nieder. Diese Erkenntnis überwältigte sie, forderte sie heraus. Wie gern wollte sie augenblicklich auf die lange Reise in die Zukunft gehen, doch noch zögerte sie. Werde ich es meistern? Was wird mich wohl alles
erwarten? Eine ungeahnte Angst erfüllte ihr Herz, das zugleich vor Freude fast zerspringen wollte. Und dann schrie sie laut und vernehmlich ihre Gefühle hinaus, das Echo kehrte tausendfach zu ihr zurück. Sie hatte endlich eine Stimme! Einen Körper, der die Welt in sich aufnehmen, tasten, sehen, hören, schmecken und riechen konnte. Und in ihrem Kopf formulierten sich Fragen und Antworten. Sie fühlte sich großartig, leicht und unbeschwert, gegenwärtig. Sie war wirklich da! Es gab sie wirklich! Und niemand konnte ihr das mehr nehmen! Ein letztes Mal blickte sie sich um. Die Brücke war verschwunden, und mit ihr der Weg zurück. Hinter ihr zog sich dichter, grauer Nebel zusammen, erstarb die Welt, der sie entflohen war. Eine Welt, die
niemals ihre gewesen, in der sie sich nie zuhause gefühlt hatte. Einzig die Erinnerung daran nahm sie mit. Neugierig und doch auch zögernd ließ sie den Blick vorausschweifen. So sah also ihr Leben jetzt aus. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihren Lungen, befreit und glücklich ließ sie die Welt auf sich wirken. Wenn sie ehrlich war, war es gar nicht neu, was ihre Augen wahrnahmen. So hatte es in ihrer Vorstellung ausgesehen. Und sie war glücklich, dass es so war.
Auch hier gab es Wege, die ins Weite führten, auch hier gab es Pflanzen, Tiere und eine Sonne, die mit ihrer galaktischen Feuersbrunst alles belebte. Kein Wölkchen trübte den Blick, kein Nebel verschleierte die Wege. Klar und deutlich erkannte sie, was sie
erwartete. Sie sah den Weg, der gerade vor ihr begann und in die Zukunft führte und viele Geheimnisse und Abenteuer verhieß. Zuversichtlich und voll Hoffnung, blickte sie auf die Welt, die nun ihr gehören sollte. Sie vertraute darauf, dass es nur besser werden konnte. Denn die unbefriedigten, unglücklich unterbundenen Bedürfnisse ihrer Seele lechzten geradezu nach Freiheit und Glück. Zufrieden, den wichtigsten Schritt ihres Lebens getan zu haben, folgte sie dem Weg in dieses neue Leben.
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