Kurzgeschichte
Der Sündenfall

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"Der Sündenfall"
Veröffentlicht am 09. Februar 2009, 8 Seiten
Kategorie Kurzgeschichte
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Der Sündenfall

Der Sündenfall

Der Sündenfall.



Die Kirche war voll. Alle Bänke waren besetzt mit Eltern und Verwandten der heutigen Probanten, deren jüngere Geschwister in einer Ecke auf dem Boden Platz nahmen. Beim Altar standen in zwei Reihen die Mädchen und Jungen, bereit ihre Erste Heilige Kommunion zu feiern.

Es war ein schöner Anblick: die Mädchen ganz in Weiss, wie kleine Engel – mit einem

unschuldigen Strahlen im Gesicht. Die Knaben fühlten sich sichtlich unwohl im ungewohnten

„Sonntagsstaat“, mit Bindern oder Fliegen um den Hals, welche drückten – und ruhig stehen sollten sie auch !

Eine ältere Frau hielt Ausschau nach ihrer Enkeltochter. Da stand sie- eine der Kleinsten, erwartungsvoll, den ernsten Blick auf den Pfarrer gerichtet und hielt krampfhaft die hohe Kerze mit beiden Händen fest, blass vor Aufregung. Alles war so gewollt feierlich, abgehoben, fern vom Alltag und Realität! Die Frau wurde ärgerlich als sie merkte, dass ihre Augen feucht wurden. Obwohl sie um die Scheinheiligkeit der kirchlichen Rituale wusste, konnte sie sich deren Wirkung nicht entziehen.

Ein wenig abseits bemerkte sie plötzlich ein sonderbares Wesen, das nicht so richtig ins Bild passte: ein Mädchen in einem langen Satinkleid mit Rüschen und Volants, das bescheiden und irgendwie altmodisch wirkte. Auf einmal wusste die Frau, wen sie da sah: das war doch sie selbst, bei ihrer eigenen Kommunionsfeier, - damals, vor fast 50 Jahren! Als ob eine Schublade in ihrem Gedächtnis aufgegangen wäre, quoll das längst Vergessene heraus! Sie konnte sich an alles erinnern, bis ins kleinste Detail!

Im ersten Jahr des Religionsunterrichts machte die Lehrerin – eine gütige Frau mittleren Alters die Kinder mit dem Leben Jesu Christi bekannt. Sie erzählte ihnen Geschichten über Liebe und Vergebung, über Güte und Hilfsbereitschaft. Sie laß ihnen aus der Bibel über die Zeit, als Jesus in der Welt umher wandelte und Gutes tat, die Kranken heilte und die Hungrigen sättigte. Die Religionsstunden wurden zum Lieblingsfach der ganzen Klasse.

Im zweiten Jahr löste die Lehrerin ein alter Geistlicher ab. Er verschreckte die Schüler fortan mit dem Donnerwetter der „Zehn Gebote“, Sünde und Vergeltung, dem Teufel und der Hölle.

Aus dieser Atmosphäre heraus wurden die Kinder auf den Eintritt in die katholische Kirche vorbereitet – auf die Heilige Kommunion. Vor dem Fest musste man zur Beichte. Es hieß – mindestens zehn Sünden aufzuschreiben, die man dann in diesem furchterregenden Kasten vortragen und die Buße für diese Untaten auferlegt bekommen sollte. Leicht gesagt – aber wo sollte ein 9-jähriges Mädchen so viele Sünden auftreiben ? Mama und Papa durften nicht helfen – es sollte doch geheim bleiben! Und die Anderen hüteten ihre mühsam zusammengekratzten Sünden wie ein Staatsgeheimnis. Tagelang schleppte das Mädchen das Problem mit sich herum, bis der Entschluss feststand: „Die Sünden müssen her, wenn man keine hatte, musste man wohl oder übel welche begehen“, überlegte das Mädchen und trat. unverzüglich zur Tat über.

Es verhaute grundlos ihre jüngeren Geschwister – 1.Sünde. Es klaute aus Mama´s Geldbörse einige Münzen – Sünde Nr. 2. Abends unter der Bettdecke mißbrauchte es den Namen Gottes – Sünde Nr. 3. Es trödelte auf dem Heimweg von der Schule und log der Mutter vor, der Lehrerin mit dem Tragen der Schulhefte geholfen zu haben – Sünde Nr. 4.

Wie war es doch? Du sollst Vater und Mutter ehren! Das Kind gab den Eltern freche Antworten und benahm sich trotzig – kassierte dafür zwar eine Ohrfeige, doch die Sünde Nr. 5 war es Wert. Das war´s dann auch. Die arg strapazierte Kreativität war ausgeschöpft. Die Kleine dachte in ihrer Not an andere möglichen Sündenquellen, wie z.B. der alten Nachbarin ein Beinchen zu stellen; oder dem unfreundlichen Opa von drüben ein Fenster mit dem Stein einzuwerfen – konnte sich jedoch zu solch extremen Taten nicht durchringen. Die anderen Sünden im Verzeichnis waren eher was für die Erwachsenen.

Mit schlechtem Gewissen ging sie am nächsten Tag zur Kirche. Die Mitschüler sahen auch ziemlich geknickt aus, was sie ein wenig tröstete. Im Angesicht des Beichtstuhls bekam sie weiche Knie, doch beim Eintreten in die Löwengrube war sie wild entschlossen ihr mangelhaftes Sündenverzeichnis zu vertreten. Sie war bei der Sünde Nr. 3 angelangt, als sie komische Geräusche von der anderen Seite des Gitters vernahm. Sie konnte es nicht fassen! Während ihr von Aufregung die Stimme fast versagte, schnarchte der Pfarrer wie der vollgefressene Wolf aus dem Rotkäppchen Märchen! Was jetzt? Sie bestand darauf, für ihre so mühevoll konstruierten Sünden auch die dazugehörige Strafe aufgebrummt zu bekommen! Rütteln am Gitter brachte nichts. Ansprechen half genauso wenig wie lautes Husten. Da nahm sie ihren Bleistift und pickte damit den schlafenden Seelenhüter in die dicke Wange, das wirkte. Sie bekam ordnungsgemäß ihren Bußbefehl für Sünden, die sie nicht einmal gebeichtet hatte: sie sollte ihre Missetaten bereuen und als Abbitte dreimal das Vater unser und zweimal die Mariafürbitte am Altar beten. Wie sie später erfuhr, war das die übliche Taxe.

Ein lautes Gebimmel holte die Frau in die Gegenwart zurück. Die Feier war zu Ende. Sie ging mit den Anderen nach vorne und nahm ihre Enkelin in den Arm. „Paß auf Oma, das Licht darf nicht ausgehen“, mahnte die Kleine ernst und legte schützend ihre Hand vor die Flamme der Kerze. Nahe am Oma´s Ohr flüsterte sie: „Wann gibt es endlich Essen, mein Bauch hat so einen großen Hunger!“

Die Großmutter lachte erleichtert. Ihre Enkeltochter stand wieder mit beiden Füßen fest auf der Erde.

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Olinka

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Boris eine - schön beschriebene Geschichte - man ist mittendrin

LG Boris
Vor langer Zeit - Antworten
anteus Hat - mir sehr gut gefallen.
Von der Seite kannte ich es nicht da ich evangelisch bin.
Schöne Geschichte
LG
Anteus
Vor langer Zeit - Antworten
webwiz Die schöne Naivität - kindlichen Seins. Schön herausgeschrieben. Kinder haben eben Probleme, an die man sich als Erwachsener nicht mehr erinnern kann, oder will. Damals waren es noch echte Probleme, heute lächelt man darüber.
LG
Guido
Vor langer Zeit - Antworten
Gast Heilige Kommunion - Das sind mal schöne und lustige Erinnerungen an ein von der Kirche ernstgemeintes Ereignis.
Vor langer Zeit - Antworten
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