Journalismus & Glosse
Wir brauchen mehr als eine Erinnerung

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"Gedanken zur Erinnerungskultur im Bezug aus die Verbrechen der Nationalsozialisten"
Veröffentlicht am 01. Februar 2020, 10 Seiten
Kategorie Journalismus & Glosse
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Die Pflicht des Menschen ist seine stetige Vervollkommnung. Ich versuche dies jeden Tag ein klein bisschen, zumindest wenn es durch Bücher geschieht.
Gedanken zur Erinnerungskultur im Bezug aus die Verbrechen der Nationalsozialisten

Wir brauchen mehr als eine Erinnerung

In den letzten Tagen wurde der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 gedacht. Der deutsche Bundespräsident sprach in der zentralen Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Weitere Veranstaltungen werden folgen und zahlreiche andere fanden statt. Eine Frage steht dann aber immer besonders im Fokus: Wie soll man sich erinnern? Ich versuche, auch meiner persönlichen Sicht, ein paar Gedanken zu formulieren.

Zunächst einmal muss ein Fakt vorangestellt werden, der nicht zu leugnen ist, nämlich dass die letzten Überlebenden in absehbarer Zeit

verstorben sein werden. Es wird dann keine Menschen mehr geben, die aus eigener Anschauung darüber berichten können, was in den deutschen Konzentrationslagern geschah. Wenn es aber keine Überlebenden mehr gibt, so können nur noch deren aufgezeichneten Zeugnisse und die Orte der Taten selbst die Geschichte erzählen. Somit braucht es Nachfolger, die diese Geschichte erzählen. Das geschieht heute bereits, indem man u.a. die Gedenkstätten erhält und erforscht.

Ein andere Wahrheit muss aber auch noch ausgesprochen werden, nämlich dass es eine immer größere zeitliche und

faktische Kluft zwischen den Ereignissen ab 1933 und heute gibt. Es wachsen Generationen von Menschen heran, deren Vorfahren gar keine Berührung mit dem industriellen Völkermord der Nationalsozialisten hatten oder deren Eltern selbst schon zur dritten oder vierten Generation nach der Shoa gehören. Einer Lehrkraft wird wohl durchaus die Frage gestellt werden, wenn Schülerinnen und Schüler mit türkischen, afghanischen, o.ä. Wurzeln ein deutsches Konzentrationslager besuchen sollen, was das mit ihnen zu tun hat.  

Ich will zunächst klarstellen, dass ein bloßes Gedenken, verstanden als ein

Ritual, leer und inhaltlos ist. Wenn man gedenkt, nur weil man es muss oder denkt, dass es gesellschaftlich erwünscht ist, versteht man schon den Wesenskern der Erinnerung nicht. Die Erinnerung an vergangene Ereignisse soll ja gerade den Blick schärfen für gegenwärtige Entwicklungen. Dann darf es aber eben nicht nur aus äußerlicher, sondern aus einer innerlichen Pflicht heraus geschehen. Und diese innerliche Pflicht muss ein Bedürfnis sein, getragen von dem Willen verstehen zu wollen. Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus bedeutet nicht nur die schrecklichen Ereignisse zu kennen, sondern auch die Mechanismen dahinter,

die Bedingungen der Möglichkeit.

Was meine ich damit? Menschen allein zu erzählen, dass es Orte wie Auschwitz gab, was dort geschah und wie es geschah ist zunächst ein atomisiertes Wissen. Man weiß, dass scheinbar unglaubliche Verbrechensakte tatsächlich geschehen und keinesfalls eine Lüge sind. Doch dann muss es weitergehen. Der nächste Schritt muss die Erkenntnis sein, unter welchen Umständen solche singulären Ereignisse in der Menschheitsgeschichte sich ereignen konnten. Dass ein ganzes Volk tatenlos dabei zusah, wie Menschen aus ihrer Nachbarschaft, spätestens nach der

Reichskristallnacht, einfach verschwanden, sich Schulklassen leerten und es irgendwie egal war, muss eine Ursache haben. Eine Vernichtung von Leben in so einer gewaltigen Zahl muss Gründe haben, wenn er so geräuschlos vollzogen werden konnte. Hierzu zählen verschiedene Faktoren, wie die sehr lange Geschichte des Judenhasses und Antisemitismus auf deutschem Boden. Die damit verbundene praktisch nahtlose Unterwerfung des deutschen Protestantismus unter das Nazi-Regime, was seinen Ursprung bereits bei Martin Luther hat. Die gesellschaftliche Ausgrenzung von Sinti und Roma und Menschen jüdischen Glaubens aus der

mehrheitlich protestantischen Gesellschaft. Die Aufzählung ist nicht abschließend und zeigt, dass es viele Quellen gibt, die teilweise sehr weit in die Vergangenheit zurückreichen und schließlich in der Shoa ihren damaligen Höhepunkt (nicht Endpunkt) fanden.

Sobald man diese Mechanismen und ihre Bedingungen erkannt hat wird deutlich, dass es wiederkehrende Muster gibt. Und dass diese Muster auch in der heutigen Gesellschaft erkennbar sind, wenn man genau hinsieht. Sätze wie „Nie wieder!“ sind dann bloß Schleier die verdecken, dass es durchaus sein kann, dass ein industrieller Massenmord im Ausmaß der Vernichtungslager vielleicht nicht noch

einmal in gleicher Form geschehen wird, dass dies aber gerade nicht bedeutet, dass es sich nicht nochmal, in anderer Form, erneut ereignet.

Darum ist das Erinnern so wichtig aber eben nicht als bloßes Ritual, sondern es muss einen konkreten Inhalt haben und bedarf einer umfassenden Vorbereitung, statt einer bloßen Konfrontation beispielsweise in Form einer Klassenfahrt in die nächstgelegene Gedenkstätte. Die Verhinderung, dass solche gesellschaftlichen Bedingungen erneut eintreten, dass die erkannten Mechanismen wieder auftreten ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, von der

niemand ausgenommen werden kann, weshalb die schrecklichen Geschehnisse der Vergangenheit eine konkrete überzeitliche Auswirkung auf jeden Menschen auf der ganzen Welt haben, wenn man diese aus dem klar zu umreißenden historischen Kontext extrahiert.    

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RogerWright
Die Pflicht des Menschen ist seine stetige Vervollkommnung. Ich versuche dies jeden Tag ein klein bisschen, zumindest wenn es durch Bücher geschieht.

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Brubeckfan Hallo Roger,
Dein Buchtitel scheint mir mehr zu versprechen: Nein, nicht ein jährlicher Anlaß bewirkt was, auch nicht seine Vorbereitung irgendwie. Es ist ja "nicht nur" der alte Antisemitismus. Im Alltag dürfen rassistische "Kleinigkeiten" nicht durchgehen; zur selbstverständlichen Kultur gehören Einkauf und Restaurantbesuch bei diversen Nationalitäten; auch gibt's ja bunte Nachbarn und Jugendklubs usw.
Dazu gehört andererseits auch, das Benennen von Straftaten jeglicher Mitbürger und auch der Politik des Staates Israel nicht zu tabuisieren.

Viele Grüße,
Gerd
Vor langer Zeit - Antworten
RogerWright Das ist vollkommen zutreffend. Den Terminus des "Neuen Antisemitismus" halte ich im übrigen für vollkommenen Schwachsinn, weil Judenfeindschaft sich immer wieder neue Wege gesucht hat und schon immer höchst flexibel war (der "Jude" konnte zeitgleich der angebliche Bolschewist sein und andernorts der Konterrevolutionär wider der erfolgreichen sozialistischen Revolution).

Sensibilität ist da aber auch wichtig um zu sehen, dass Antisemitismus schon sehr viel früher beginnt, eben wenn von einem nicht unbedeutenden Journalisten der ARD getwittert wird, dass die USA der Büttel von Israel seien, dann sind wir schon im Antisemitismus.
Vor langer Zeit - Antworten
pekaberlin Leider war ich nicht eingeloggt!
Das unten Stehende verantworte ich!
Vor langer Zeit - Antworten
Gast Das ist mir zu viel Theoretisiererei ... sprich auch Geeiere.
Menschen, die von klein auf humanistisch erzogen werden, also Menschen als Menschen sehen, nicht als schwarz oder weiß, Jude, Christ oder Moslem, nicht als Linken, Rechten oder sonst irgendwas, die Gewalt und Tötung ablehnen, also das Recht auf Leben eines jeden Menschen anerkennen, werden solche Besuche von Mahnmalen, Gedenkstätten und Berichte über das Grauen geistig wie emotional verstehen. Und - sie werden alle Menschen, die dieses zuließen verachten und verurteilen für ihre Passivität.
Und nur darum geht es in der ganzen Diskussion. Man will den Nachgeborenen etwas auftragen, aber ohne eigene Schuld, oder Schuld von Vorfahren einzugestehen.
Das ist auch das, was fleur meinte: Man kann den frühen Führern in der DDR vieles nachsagen, aber eines nicht, dass sie sich schuldig gemacht haben, bei der Judenvernichtung oder im Raubkrieg. Deshalb konnten sie auch eine andere Art der Aufarbeitung dieser Verbrechen zulassen, als die frühen Führer der BRD. Und das können die Juden (in Israel) eben auch. Ohne Ideologie, ohne Rücksicht auf politische Interessen sind eben die Sowjetmenschen und deren Soldaten genauso ihre Befreier und Retter, wie die Deutschen, Franzosen, Holländer, Polen Ungarn, Litauer und viele andere, die in der "Straße der Gerechten unter den Völkern" in Yad Vashem in Stein gemeißelt sind.
Also ich habe immer begriffen, bei solchen Besuchen in ehemaligen KZ's und wahrlich gefühlt habe ich den ganzen Schmerz in Yad Vashem.
Gruß Peter
Vor langer Zeit - Antworten
Bleistift 
"Wir brauchen mehr als eine Erinnerung..."
Zeit vergeht. Und mit ihr die Zeitzeugen, die diese unsäglichen Verbrechen
des deutschen Nationalsozialismus am eigenen Leib miterleben mussten.
Dies ist ein normaler historischer Prozess. Nur darf man dabei nicht aber auch die historische Wahrheit vergessen, dass sich dieser Nationalsozialismus den Judenhass explizit auf seine Fahnen geschrieben hatte und mit dem barbarischen Mord an den Juden rauf und dran war,
ein ganzes Volk auszulöschen.
Was kann es also Schlimmeres geben, als Völkermord...
Und mir erscheint es in diesem Zusammenhang geradezu als eine Ungeheuerlichkeit,
dass es heutzutage schon wieder einflußreiche Kräfte im offiziellen Deutschland gibt,
welche die Zeit des deutschen Nationalsozialismus,
der letztlich verantwortlich für den Tod von 60 Millionen Menschen ist,
als einen 'Fliegenschiss' in der Geschichte der Menschheit zu bezeichnen...
Das ist für mich der braune Geist des Nationalsozialismus,
verharmlosend getarnt im demokratischen Gewand einer bürgerlichen Gesellschaft...
Mein alter Kumpel Bertolt Brecht,
er hatte darin also völlig recht,
...der Schoß ist fruchtbar noch,
aus dem das kroch...

LG
Louis
Vor langer Zeit - Antworten
RogerWright Das alte Verdickt vom "Es muss doch mal Schluss sein damit" kommt da wieder hoch. Aber die Erinnerung und das Verstehen darf nie aufhören, weil die Gesellschaft sonst blind wird für die Dinge, die um sie herum passieren.

Wenn beispielweise nach dem Anschlag in Halle gesagt wurde, dass dies ein "Alarmzeichen" sei, dann will ich nicht wissen, wann es dann ernst werden soll. Wenn in Deutschland 75 Jahre nach Kriegsende eine Gruppe von Mitmenschen wieder daran denkt, ob es nicht besser ist, wieder die Koffer zu packen bzw. zu verschwinden und wenn das Menschen tun, die auf deutschem Boden geboren worden sind. Bei sowas wird besonders deutlich, dass die Menschheit die Grauen, die sie sich angetan hat, nie vergessen darf.
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Fakt ist nun mal, die BRD hat ziemlich spät damit begonnen, den Nationalsozialismus mit all seinen Wurzeln und den verheerenden Folgen wirklich aufzuarbeiten. Erst am 8. Mai 1985, dem 40. Jahrestag der Befreiung, hat Richard von Weizsäcker diesen Ausdruck erstmalig in seiner Rede als damaliger Bundespräsident gebraucht und ist damit bei vielen Altnazis angeeckt. Vorher war von Kapitulation die Rede ...
Währenddessen war der 8. Mai in der DDR schon immer der Tag der Befreiung. Und mein erster Besuch des KZ Buchenwald fand im Rahmen der Vorbereitung auf die Jugendweihe 1958 statt. Auch das Tagebuch der Anne Frank gehörte damals zu unserer Lektüre und im Theater meiner damaligen Heimatstadt habe ich das gleichnamige Schauspiel gesehen.

Nun kannst du wieder monieren, dass ich am Thema vorbei schreibe, aber ich bin jetzt gewappnet und werde mich in keine weiteren Diskussionen verwickeln lassen.
fleur
Vor langer Zeit - Antworten
RogerWright Ich muss aus persönlicher Sicht sagen, dass ich im Rückblick froh darüber bin, dass unsere Fahrt nach Buchenwald, als ich 14 war, ausgefallen ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich damals bereit gewesen wäre, das zu verarbeiten und zu verstehe, was ich da sehe. Zudem wurde man bei uns darauf nicht vorbereitet, sodass der Lerneffekt wohl nicht recht eingetreten wäre...

Ich bin mir aber nicht mehr sicher, ob es reicht, wenn man Jugendlichen entsprechende Literatur in die Hand gibt und sie dann mit 14/15 Jahren ein KZ besuchen lässt, vor allem wenn die vielfältigen Quellen der Judenfeindschaft unbeleuchtet bleiben oder keine Gespräche mit realen jüdischen Menschen erfolgen.

Ich glaube, dass sich die Art und Weise, wie wir uns erinnern, auch auf geänderte Gegebenheiten einstellen muss, denn es dürfte etwas anderes sein, wenn die direkte Kriegs- und Nachkriegsgeneration angesprochen wird oder Menschen, die 60/70 Jahre nach dem Ende des Krieges geboren worden sind.
Vor langer Zeit - Antworten
FLEURdelaCOEUR 
Ich habe keineswegs behauptet, dass wir damals als 14Jährige in der Schule nicht vorbereitet worden waren. Außerdem hatte mein Stiefvater im Spanienkrieg in den Interbrigaden gekämpft und kannte z. B. den jüdischen Schriftsteller Friedrich Wolf persönlich und gab mir dessen Kinder- und Jugendbücher zu lesen. Ab der 9. Klasse waren in meiner Schule mehrere jüdische Mitschüler, die in der Emigration geboren waren. Die hatten alle ihre Familiengeschichten.
Ich denke nicht, dass man mit 14 zu jung ist, die Naziverbrechen zu begreifen, auch wenn sie im Grunde für den gesunden Menschenverstand eines jeden Alters unbegreiflich sind. Anne Frank und all die anderen jüdischen Kinder und Jugendlichen bekamen schließlich auch keine Schonzeit.
Auch wenn wir jetzt alt sind, so sind wir noch nicht dement und haben unsere Kinder und Enkel so erzogen, dass sie gegen Nationalsozialismus, Antisemitismus, Chauvinismus und Rassismus immun sind.
Und die junge Generation hätte es wesentlich leichter, wenn in der BRD die NS-Aufarbeitung auch schon vor 70 Jahren begonnen hätte.
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