Kapitel 1
Nebel kriecht über den Boden. Die Feuchtigkeit in der Luft macht alles kalt und klamm. Der feine Regen sticht wie tausend Nadelstiche. Ich mache einen vorsichtigen Schritt nach vorn. Der Boden ist durch die Nässe rutschig. Passt man nicht auf, verliert man leicht das Gleichgewicht auf den unebenen Gestein. Doch zu fallen, darf man sich nicht leisten, sind die Abhänge an manchen Stellen unüberschaubar und tief. Also prüfe ich den Boden in der
Dunkelheit, ehe ich einen weiteren Schritt tat. Trotzdem löst sich etwas Geröll unter meinem Fuß.
Ich beiße mir auf die Lippen, damit mir kein Fluch entfährt. Das leise Poltern der Steine scheint in der Stille der Nacht ohrenbetäubend.
„Halt doch still.“ Wispert es leise hinter mir.
Zu gerne würde ich darauf etwas erwidern, doch ich verkneife mir die Bemerkung, die mir auf den Lippen liegt. Sie würde sowieso nicht sehr freundlich ausfallen.
Das leise Schnauben kann ich dann jedoch nicht zurück halten.
Für einige Minuten verharre ich in
meiner Position. Ich atme möglichst flach und versuche mich nicht zu bewegen.
Allzu lange halte ich es jedoch nicht aus. Ganz vorsichtig versuche ich mein Gewicht auf den anderen Fuß zu verlagern – und wieder poltert es leise.
Ich kneife die Augen zusammen, als würde das irgendetwas daran ändern. Dieses Mal ertönt ein mahnendes Zischen von weiter vorne.
Verdammt, ich hoffe bis Markson war es nicht zu hören, andernfalls konnte ich mich schon einmal auf das Donnerwetter freuen, das mich
später erwarten würde.
„Was ist denn los?“ zischt es wieder leise hinter mir.
Jetzt fluche ich doch.
Mir widerstrebt es zu antworten. Ich würde Shane sicher nicht auf die Nase binden, dass mir schon vor einer ganzen Weile, der Fuß eingeschlafen ist. Jetzt zieht das fiese Kribbeln langsam das Bein hoch und lässt meine Muskeln vor Anstrengung zittern. Der Versuch, mein Gewicht zu verlagern, hat es lediglich schlimmer gemacht.
Oh nein, davon würde ich Shane sicher nichts erzählen. Würde ich es tun, würde er sicher anfangen zu
lachen und so wie ich mich kenne, würde ich mich zu ihm umdrehen, um ihn mit einem ordentlichen Klaps zum Schweigen zu bringen.
Genauso gut könnte ich auch gleich zu Markson rüber rufen und fragen, wann ich nachher zu ihm kommen soll.
Also schweige ich, versuche mich nicht zu bewegen und am besten auch gar nicht erst zu atmen. Um mich von dem ungnädigen Kribbeln abzulenken, schaue ich hoch zum Himmel.
Der Mond steht schon sehr hoch. Die Sterne sind hinter einer dicken Wolkenschicht verborgen. Das
schwache Licht des Mondes erleuchtet kaum den schmalen Weg vor uns. Manchmal flackert irgendwo eine Taschenlampe von den anderen Falken auf, ansonsten ist es stockfinster.
Ein leises Rascheln dringt an mein Ohr und sofort verkrampfen meine Muskeln. Mit gespitzten Lippen stoße ich einen leisen, durchdringenden Pfiff aus. Sofort verglühen die vereinzelten Lichter. Die Anspannung in der Luft ist beinahe greifbar. Wie ein elektrisches Knistern zieht die Aufregung über meine Haut und stellt mir die Härchen auf den
Armen auf. Das nervöse Kribbeln sammelt sich in meinem Nacken. Ich schließe die Augen und horche in die Dunkelheit.
Noch ganz leise, noch ganz weit entfernt ertönt das melodische Trommeln der Hufe. Aber sie kommen. Ich konzentriere mich auf das Geräusch und versuche zu erkennen, wie viele Reiter es sind. Vielleicht sechs?
Oder auch sechszehn, verdammt, wie soll man das bitte heraus hören?
„Elf“ raunt Shane hinter mir nahezu lautlos. Ich werfe einen Blick über die Schulter und hebe
zweifelnd eine Braue. Shanes Gesicht liegt halb im Schatten der Bäume verborgen, doch ich kann das amüsierte Zucken seiner Mundwinkel sehen.
Als sie näher kommen muss ich gar nicht erst nach zählen, um zu wissen, dass es elf Reiter sind. Vorsichtig rücke ich die dunkle Maske vor meinen Augen zurecht und ziehe das schwarze Bandana vor meinen Mund. Ich atme ganz flach durch den dünnen Stoff und warte auf das Zeichen.
Jeder Muskel in mir spannt sich an.
Jede Faser meines Körpers ist bereit, als endlich der Pfiff
ertönt.
Sofort springe ich auf, lasse mich den winzigen Abhang zum Weg hinunterfallen und zücke dabei mein Messer. Auch alle anderen Falken machen es mir gleich, stürzen sich mit gezückten Waffen auf den Weg und umstellen so die Reiter.
Die plötzliche Aufruhr lässt die Pferde in Panik hochsteigen. Sie weichen mit panisch verdrehten Augen vor uns zurück. Viele werfen ihre Reiter ab und einige preschen dann im vollen Galopp an uns vorbei. Nur eine Handvoll der Reiter schaffen es ihre Pferde zu
bändigen.
Doch als Belohnung werden sie nun von meinen Kameraden von ihren Pferden gerissen. Nur ein kurzes Stück von mir sitzt ein Reiter noch hoch erhobenen Hauptes im Sattel. Er scheint zu bemerken, dass ich mich diesem Problem annehmen will. Mit einem spöttischen Grinsen blickt er auf mich herab und zieht ganz langsam, ein silbern funkelndes, Schwert. Ich erwidere sein spöttisches Grinsen, auch wenn er es hinter meinem Bandana nicht sehen kann. Es amüsiert mich, wenn sie mich unterschätzen. Ich sehe vermutlich zu unschuldig
aus.
Unschuldig und unscheinbar. Meine zierliche Figur verbirgt die Stärke, die in mir steckt und lässt meine Gegner dummerweise zögern.
Ich muss mir ein Kichern verkneifen, während ich einen großen Satz nach vorn mache. Ich wirbele das kleine Messer in meiner Hand und täusche den Angriff an, auf den mein Gegner gewartet hat. Er lehnt sich in seinem Sattel vor, um meinen Angriff mit seinem Schwert zu parieren und vermutlich hätte er mich damit durchbohrt, doch in der Sekunde mache ich einen Satz zur
Seite. Das Schwert zerschneidet die Luft dort, wo ich einen Sekundenbruchteil zuvor noch stand.
Stattdessen laufe ich leichtfüßig an ihm vorbei und lasse mein Messer, wie nebenbei, durch das harte Leder des Sattelgurts schneiden.
Grinsend bleibe ich stehen, stecke mein Messer zurück in den Gürtel, während es hinter mir laut poltert. Ehe sich der Reiter aufrappeln kann, drehe ich mich um, trete ihm das Schwert aus der Hand und stelle meinen Fuß auf die Kehle des Mannes. Ich übe genug Druck aus, dass er leicht nach Luft ringt. Mit
leichter Verzweiflung in den Augen packt er meinen Fuß, um ihn von sich zu schleudern, doch ohne Erfolg. Ohne mich zu rühren sehe ich auf ihn hinunter. Irgendwie genieße ich es, zuzusehen wie er versteht, dass er mich unterschätzt hat. Was sagt das bitte über mich aus?
Himmel, schnell schiebe ich den Gedanken von mir und nehme meinen Fuß von seiner Kehle.
Erst da nehme ich das Lachen wahr, das mich umgibt. Überrascht hebe ich den Blick und noch überraschter stelle ich fest, dass alle Blicke auf mir ruhen. Alle
Reiter sind entwaffnet und wehrlos. Alle Falken beobachten mich. Haben sie zugesehen, wie ich den Reiter vom Pferd geholt habe? Wieso lachen sie?
Unruhig streiche ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus meinem Dutt gelöst hat und schaue mich um. Mein Blick sucht Shanes, doch auch seine Augen funkeln amüsiert.
Da macht jemand einen Schritt auf mich zu und sofort starre ich Markson an. Er ist der Einzige, der nicht lacht und augenblicklich verkrampft etwas in mir. Verdammt, was habe ich bloß falsch
gemacht, frage ich mich fieberhaft. Ich rechne fest mit einen Tadel und senke daher schon einmal vorausschauend demütig den Kopf.
„Elegant.“ Sagt Markson leise und unerwartet freundlich.
Sofort schießt mein Kopf wieder in die Höhe. Elegant? Perplex starre ich unseren Anführer an und bin mir einen Momentlang sicher, mich verhört zu haben.
Elegant?
Ich merke, wie mir die Hitze in den Kopf schießt und ich bin dankbar, dass meine Verkleidung auch das verbirgt. Langsam verklingt das Lachen und Markson wendet sich
von mir ab. Alle fangen an das Hab und Gut der Reiter zu durchsuchen und alles halbwegs Wertvolle zusammenzutragen, doch ich stehe einen Moment lang nur sprachlos da. Marksons Kommentar konnte man beinahe schon als Kompliment auffassen und ehrlich gesagt, weiß ich nicht so ganz, wie ich damit umgehen soll. Mit seinem Missfallen mir gegenüber kann ich umgehen, habe ich damit einfach sehr viel Übung, doch ich kann mich nicht erinnern, dass er schon einmal positiv von mir beeindruckt war.
Ich versuche das Gefühlschaos in
mir zu ignorieren, während ich langsam helfe alle Kostbarkeiten aufzulesen. Wir füllen unsere Taschen mit allem, was vielleicht irgendwie etwas Geld einbringen würde und statten uns mit den Waffen der Reiter aus. Gerade als ich mir einen langen Krummsäbel unter meinen Gürtel schiebe, ruft jemand leise meinen Namen. Erschrocken hätte ich beinahe alles fallen gelassen, doch ich kann mich gerade noch so zusammen reißen. Mit einem, wahrscheinlich panischen, Blick drehe ich mich zu Markson um. „Ja, Sir?“ antworte ich leise und wohlwissend, wie sehr er
es liebt, wenn man ihn mit „Sir“ anspricht.
„Blue, du übernimmst heute die Pferde.“ Sagt er mit fester Stimme und ich höre die Worte, die er nicht mit ausspricht: und enttäusche mich nicht.
Ich nicke eifrig, auch wenn ich lieber das Gegenteil getan hätte. Die Pferde stellten die wichtigste, aber auch die Gefährlichste Aufgabe dar. Bisher hatte ich das Glück, mich vor dieser Aufgabe drücken zu können. Bis heute. Verdammt.
Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen, während ich die Pferde
mit geübten Auge mustere. Schließlich entscheide ich mich für zwei, greife nach den Zügeln und schwinge mich in einen der Sattel. Ohne noch etwas zu sagen, reite ich los und führe das zweite Pferd neben mir her.
Mit wild klopfenden Herzen überlege ich, wie ich diese Aufgabe bewerkstelligen sollte, während mich die Nacht langsam verschluckt.