Wider den Mitleidsbekundungen
Im Herbst letzten Jahres, an Jom Kippur, versucht ein Mann ein Massaker an den Menschen in der Synagoge in Halle/Saale anzurichten. Es gelingt ihm nicht. Ein antisemitischer Anschlag, nicht der erste in Deutschland. Die Reaktion der nichtjüdischen Bevölkerung: Solidaritäts- und Mitleidsbekundungen.
Ich sage: Das muss in der Form aufhören! Warum? Weil es nicht ernst gemeint ist und vom eigentlichen Problem ablenkt.
„Jeder Angriff auf jüdische Bürger ist ein Angriff auf uns alle.“ Diesen Satz konnte man in der Vergangenheit sehr oft lesen. Gesagt haben ihn u.a. Christine
Lambrecht (Justizministerin), Sawsan Chebli (Staatssekretärin Berlin), Frank-Walter Steinmeier (Bundespräsident), Reinhard Marx (Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz). Der Satz fiel gerade nach den Ereignissen in Halle sehr oft, aber auch schon in der Vergangenheit gab es verschiedene Solidaritätszeichen. Neben den obligatorischen Lichterketten und Blumen auch Aktionen wie Berlin trägt Kippa. Was hat es gebracht? Nichts! Die Zahl der antisemitischen Straftaten steigt weiter erheblich (zuletzt um 20 %) und bei jüngsten Meinungsumfragen haben beispielsweise 25% der Befragten in Thüringen antisemitistischen Aussagen zugestimmt.
Antisemitismus ist aber eben kein Phänomen, dass man allein bei den netten Herren mit Springerstiefeln und schnittiger Kurzhaarfrisur antrifft. Wenn ein angeblich extrem reflektierter Liedermacher wie Xavier Naidoo beispielsweise vom „Baron Todschild“ fabuliert und dass Politiker nur Marionetten sind, dann weiß man, dass er antisemitistische Chiffren benutzt. Naja, ihm schien das bis zum Verfahren vor dem LG Regensburg nicht ganz so klar gewesen zu sein, aber sei es drum. Judenfeindliche Witze und Sprüche hat wohl jeder von uns schon mal gehört. Sie galten nicht uns, wir als Nichtjuden waren davon nicht betroffen. Wir sind
nicht die, die angeblich alles Steuern und unermesslichen Reichtum besitzen, wie ein betrunkener Anwohner einem Restaurantbesitzer in Berlin vorwarf. Uns will man nicht ins Gas schicken. Deshalb ist der angeblich solidarische Satz schon falsch. Ein Angriff auf Menschen jüdischen Glaubens ist ein Angriff auf die jüdische Gemeinschaft und auf das Judentum. Alle anderen will man damit nicht schädigen. Ein Nazi, der ein Hakenkreuz auf jüdische Grabsteine schmiert fühlt sich ja auch davon nicht angegriffen. Was will man damit also aussagen? Ist man vielleicht sogar neidisch, dass Mitmenschen jüdischen Glaubens angegriffen werden und keine
Protestaten oder Katholiken? Fakt ist: Judenhass ist uralt (es gab ihn schon in der Antike) und in Deutschland in weiten Teilen der Gesellschaft präsent. Gerade der israelbezogene Antisemitismus steht in Deutschland hoch im Kurs.
Weiterhin ist der Satz von den Wenigsten ernst gemeint. Wie man das erkennen kann? Er fällt immer wieder und die Folgen sind überschaubar. Halle ist ein unrühmliches Beispiel. Obwohl es beileibe nicht der erste antisemitistische Anschlag in Deutschland war, gab es keinen Polizeischutz vor der Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag, also an einem der wenigen Tage, wo eine Synagoge voll ist. Was hatte man also
aus vorherigen Ereignissen gelernt: offensichtlich nichts. Und die Solidarität in Berlin, wo sich auch der regierende Bürgermeister die Kippa aufsetzte? Naja, der lud letztes Jahr den Bürgermeister von Teheran ein. Der Iran ist ein Land, in dem Minderheiten verfolgt werden, auch die jüdische Minderheit im Staat. Trotz entsprechender Kritik auch von jüdischer Seite wurde das Treffen durchgezogen. Und im Heft 4/2019 von Spiegel Geschichte beschäftigte man sich mit der unbekannten Welt nebenan, die jüdisches Leben in Deutschland sei. Das Cover „zieren“ zwei Ostjuden aus den 20er Jahren. Diese reproduzieren zunächst ein stereotypes Äußeres von Juden und dann
ist der Titel auch krude gewählt. Unbekannte sind Juden, die es seit mehr als 1700 Jahren auf dem Gebiet Deutschlands gibt wahrlich nicht. Die massive Kritik hatte nur zur Reaktion, dass man sich von Seiten der Redaktion verteidigte, dass man eine Szene aus dem jüdischen Leben zeigt und keine antisemitistischen Ressentiments bedienen wollte. Wenn man es dann doch hat sorry. Kurz zusammengefasst: Einsicht und Sensibilität gleich null.
Ein weiteres Beispiel sind jüdische Schulen und Kindergärten. Wären diese nur Zusatzangebote, wo Kinder zusätzlich noch intensiver ihre Religion ausleben könnten wie beispielsweise bei
den christlichen Pfadfindern, dann wäre das toll. Leider sind diese Einrichtungen oft der Zufluchtsort für Kinder, die in staatlichen Schulen nicht mehr unterrichtet werden können, weil sie aufgrund ihrer Religion unerträglicher Drangsale der Mitschüler ausgesetzt waren.
Worten müssen konsequente Taten folgen, sie dürfen keine halbherzigen Lippenbekenntnisse sein, an denen man sich erfreuen kann und dann erleichtert weitermachen kann wie bisher. Die rituellen Solidaritätsbekundungen sind nichts weiter als die eigene Vergewisserung, dass man seit 1945 doch was gelernt hat und endlich zu den Guten
gehört. Doch die Realität ist anders und das muss deutlich gemacht werden. Diese Selbstvergewisserung lenkt aber davon ab, dass Antisemitismus 1945 nicht einfach aufgehört hat zu existieren. Er lebt weiter und bricht sich immer wieder gewaltsam Bahn. Es ist falsch, die Grenze des Sagbaren hat sich nicht verschoben, aber diejenigen, die sie überschreiten sind zahlreicher und lauter geworden. Man muss im eigenen Umfeld anfangen und den besoffenen Onkel beim Familientreffen, wenn er über die Juden schimpft mal klar sagen, dass er da judenfeindlichen Scheißdreck labert. Und man muss sich nicht dafür schämen, wenn man beispielsweise die großen
Feiern zum Lutherjahr und das Luthermusical im ZDF merkwürdig findet, weil dort vom Judenhass Luthers nichts erwähnt wird. Lasst uns also anpacken, denn eine Gesellschaft ist nur so stark, wie sie in der Lage ist, die Minderheiten in ihr zu schützen.