Tine hob vorsichtig den Deckel ihrer Schatztruhe hoch und suchte mit ihren Augen den wertvollen Inhalt ab. Es lagen dort verschiedenste liebevoll gesammelte Utensilien auf dem Boden der kleinen Truhe.
Dort war auch das Bild, welches Tine suchte. Seit sie vor ein paar Jahren das Bild zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, musste sie jedes Jahr spätestens zum 1. Advent dieses Bildchen aus ihrer Schatztruhe holen. Es zeigte einen großen hell leuchtenden Stern über einer weiten Lichtung, die von unzähligen Bäumen gesäumt war. Der Weihnachtsstern. Tine nahm behutsam das Bild aus ihrer geliebten Schatztruhe und legte den Deckel zurück auf die anderen Schätze ihres jungen Lebens. Der Weihnachtsstern; er leuchtete groß und hell glitzernd. Am Himmel hatte Tine ihn bisher noch nicht
finden können. Warum nur war er nicht zu sehen? Jedes Jahr zu Weihnachten hatte sie nach ihm Ausschau gehalten. Tine betrachtete den leuchtenden Stern eine lange Weile: auf dem Bild befand sich der besondere Stern am Himmel genau über einer Waldlichtung – vielleicht war er nur von dort aus zu sehen? Plötzlich durchfuhr ein Gedanke mit absoluter Sicherheit Tina`s Bewusstsein: „Ich muss zum Wald gehen und den Weg zur Lichtung finden! Ganz bestimmt finde ich dann endlich den Weihnachtsstern!“ Augenblicklich packte Tine ihre kleine Reisetasche: Brötchen, Apfelsaft, Kekse und das Bild vom Weihnachtsstern. Sie zog ihre Schuhe
und Jacke an, schnappte die Tasche und lief die Treppe zur Haustüre herunter. Mit dem Schwung, den sie der Tür verpasste, war sie auch schon draußen, auf dem Bürgersteig an der Straße. Tine wusste, sie müsste die Straße nach links herunter gehen um zum Wald zu kommen. Da rauschte der Wind ihr um die Ohren und wisperte mit Nachdruck; „Tine, wohin willst du?“ Tine fasste sich mit beiden Händen an den Kopf; „Wind, was hast du mich jetzt erschreckt?! Musst du mir denn so um die Ohren pfeifen?“ Schon etwas gedämpfter in seiner Windstärke flüsterte er Tine nochmals ins Ohr; „Tine, wo gehst du hin?“ Und Tine rief so laut sie konnte
zurück; „Zum Wald. Ich muss zur Lichtung, damit ich den Weihnachtsstern sehen kann!“ „Tine, da brauchst du aber noch einen Schal und eine Mütze! Hole sie dir noch schnell aus deinem Schrank! Du weißt doch, dass dies meine Lieblingszeit zum toben ist! Also geh und hole deine Sachen! Und dann begleite ich dich zum Wald.“ Als Tine wieder auf dem Bürgersteig an der Straße war, spürte sie, wie der Wind sie im Rücken antrieb. Er drückte ihr seine Kraft gegen ihren Rücken, damit das Laufen Tine mehr Spaß bereitete. Tine und der Wind spielten ein Spiel; er drückte mit Kraft in ihren Rücken und zuppelte an der Jacke und Tine drückte
den Wind mit ihren nach hinten gerichteten Handinnenflächen zurück. Huch, machte da das Laufen Freude! Und schon bald erreichte Tine das Ende der Straße, bog nach rechts ab und lief den Weg zwischen zwei Feldern hindurch. „Komm` Tine, hier können wir noch mal richtig herumtollen, bevor du in den Wald gehst“, schrie der Wind ihr laut an den Ohren vorbei. Tine und der Wind tobten zwischen den Feldern hindurch und als sie die ersten Bäume erreichten, fragte Tine den Wind; „Wind, Wind, sag` mir noch, wie komme ich denn zur Lichtung?“ „Ach Tine, du brauchst doch immer nur deiner inneren Stimme zu folgen, dann findest du den Weg! Und
wenn du sie mal nicht hören kannst, dann fragst du einfach, wem auch immer du begegnest!“ Zum Abschied fegte der Wind noch mal um Tine herum, rüttelte an ihrer Mütze und der Schal flatterte. Erst als Tine zwischen einer Gruppe von Tannenbäumen verschwunden war, legte der Schal sich wieder um Tine`s Hals herum. Plötzlich war es unerwartet still um Tine. Die Sonnenstrahlen sahen sehr schmal zwischen den Bäumen aus. Tine schaute nach oben; sie sah, wie weit oben die Spitzen der Tannenbäume in den Himmel ragten. Dort oben waren die Sonnenstrahlen noch ganz breit und wurden dann immer schmaler. Tine
beobachtete den Strahl, der genau vor dem großen Tannenbaum verlief und vor ihren Füßen auf dem dunklen Boden einen hellen Strich malte. Sie hielt ihren Fuß dazwischen und beobachtete das neu entstandene Lichtbild auf dem Boden. Unter dem Lichtschein entdeckte Tine auf dem dunkelgrünen Moos zwischen Blättern ein kleines Etwas. Es bewegte sich. Tine beugte sich hinunter und erkannte im schmalen Lichtstreifen einen kleinen noch jungen Igel. Fasziniert von dem stacheligen Lebewesen kniete Tine sich in den weichen Moosboden und legte ihre kleine Reisetasche an den Baumstamm der Tanne ab. „Du bist ja ein süßer kleiner Igel. Was machst du hier?“,
sprach sie ihn an. Der Kleine schien erschrocken, er rollte sich zusammen und bewegte sich nicht mehr. Tine fühlte sich hilflos, der kleine Igel schien sie nicht zu mögen. „Hey du Kleiner, ich tue dir doch nichts; ich bin doch nur auf dem Weg zur Lichtung. Du weißt nicht zufällig, wo die Lichtung ist?“ Langsam bewegte sich der Igel, stupste erst das Näschen in`s weiche Moos, bevor er es hob; „Zur Lichtung gehst du? Und weißt den Weg gar nicht? Da wirst du aber noch viel Zeit brauchen. Ich habe keine Zeit zu verlieren!“ „Oh, weißt du denn, wie ich zur Lichtung komme? Dann brauche ich bestimmt nicht so viel Zeit dafür, oder?“, fragte Tine den Igel. „Das
weiß ich nicht. Ich habe einmal von einer Lichtung gehört; dass soll ein Platz voller Wunder sein, auf dem sehr viel Licht ist, aber ich war nicht dort. Ich bin hier geboren, und wenn ich nicht ganz schnell meinen Winterplatz fertig habe, dann ist mein junges Leben auch schon zu Ende!“, schimpfte der Igel nun. Tine erschrak; „Oh je, dann lass dich nicht aufhalten. Du darfst nicht sterben! Was brauchst du denn noch für deinen Winterplatz?“ „Blätter, Blätter und Erde, Erde“, maulte der Igel. „Oh, kein Problem, ich hole dir ganz viele Blätter, ja?! Dann bist du schnell fertig, o.k.?!“ Und schon erhob sich Tine, drehte sich herum und lief zu den nächsten
Laubbäumen, unter denen die Herbstblätter vor sich hin welkten. Sie hob mit beiden Händen einen ganzen Haufen modriger Blätter auf und brachte sie zum Igel hin. Vorsichtig ließ sie das braune Laub auf den Platz nahe dem Lichtstreifen rieseln und freute sich an dem sanften Geräusch. Und noch mal lief sie zurück, packte einen Berg von Blättern unter ihre Arme und brachte sie zum Igel, der schon fleißig die Blätter auf seinem Erdloch stupste, um sich kurz darauf restlos unter den Blättern zu verstecken. „Reichen dir die Blätter? Gefällt dir dein Winterplatz?“ fragte Tine gespannt. „Hm, es fühlt sich schon gut an. Ich glaub` ich kann hier
überwintern. Danke für deine schnelle Hilfe. Ich wünsche dir noch eine gute Reise!“ Nun war von einem kleinen Lebewesen nichts mehr zu sehen; nur der Lichtstrahl tanzte auf dem mit Blättern bedeckten Moos hin und her. Noch einmal wurde die kleine Stupsnase sichtbar; „Der Dachs hat immer von der Lichtung gesprochen, der müsste mehr wissen!“ „Der Dachs müsste mehr wissen“, wiederholte Tine, hob ihre kleine Tasche hoch, warf einen letzten Blick auf den unscheinbaren Blätterhaufen und drehte sich um. Tine überlegte; ``Wo ich wohl den Dachs finde?` Sie machte sich auf den Weg in das Innere des Waldes, stets
darauf bedacht, immer genau zu schauen, wohin sie ihre Füße setzte. Die Lichtstrahlen auf dem Waldboden wurden immer schmaler, in ihnen sah Tine, dass der Boden sich leicht verändert hatte; da war weniger grünes Moos, jedoch viel mehr Erde, kleine Stöckchen und Steine, und viele modrige Blätter und Nadeln. Nach einer Weile hielt Tine inne, seufzte laut und stütze sich an einem Baum ab. Tine fühlte, wie ihre Handinnenfläche auf die Rinde des Baumes drückte, sie spürte die Unebenheiten der Rinde. Auf dem Boden lagen hier unzählige braune ovale nussartige Früchte. Sie hatte diese Nussfrüchte schon mal gesehen, konnte sich jedoch nicht mehr daran erinnern,
wie sie genannt werden. Während sie so auf den Boden schaute und nachdachte, woher sie diese Früchte kannte, tasteten ihre Finger die Rinde des Baumes ab. Das fühlte sich alles so hubbelig und eigenartig an; sie drehte sich zum Baum herüber, um auch sehen zu können, was sie fühlte. Die Rinde des Baumes sah aus, als wen viele kleine Holzplättchen übereinander, nebeneinander und untereinander verschoben auf dem Baumstamm entlang sitzen würden. Mit ihrem Zeigefinger tastete sie die Tiefen zwischen den Holzplättchen der Rinde ab. Mit der anderen Hand stellte Tine ihr Reisetäschchen zwischen den sichtbaren Wurzeln nahe dem Baumstamm ab. Nun
konnte sie mit beiden Händen die aufregend ungeordneten Plättchen des Baumes untersuchen. Zwischen harten und hubbeligen Stellen fühlte sie auch kleine weiche haarige Stellen an der Baumrinde. Nach einer Weile hatte Tine das intensive Bedürfnis, den Baum zu umarmen. Sie schlang beide Arme so weit wie möglich um den Baumstamm herum; ihre Jacke knarrte ein wenig vom Druck an der Rinde. „Hallo du Kleine, es fühlt sich gut an, dich zu spüren. Wie schön, dass du mich besuchst. Dass ist aber lieb von dir, mich so zu drücken!“, vernahm Tine auf eine Weise, die sie nicht kannte. `Hatte der Baum gesprochen? Aber ihre
Ohren hatten doch nur das Knarren der Jacke gehört.` „Ja, du hast mich gehört; nicht durch deine Ohren. Durch dein Herz! Und ich höre deine Gedanken durch mein Herz“, antwortete der Baum mit der selben Stimme wie zuvor. Vor lauter Verwunderung ließ Tine die Arme langsam sinken. `Hm, ist das komisch`, dachte Tine. „Oh Kleine, willst du schon wieder gehen? Ach, es wäre so schön, du würdest noch etwas bleiben!“ vernahm sie ganz leise. Da schlang Tine entschlossen ihre Arme um den Baum, drückte mit ihren Armen und Händen gegen die Rinde und sagte laut; „Oh lieber Baum, wenn du dich darüber freust?! Ich mag dich gerne umarmen.
Ich habe nur nicht ganz so lange Zeit, weil ich ja noch zur Lichtung will. Aber erstmal muss ich den Dachs finden, weil der weiß mehr als der Igel.“ Tine vernahm tief in ihrem Herzen; „Kleine, was bist du eine Liebe, mich so warm und weich zu drücken. Danke, dass ist schön, dass du auf deinem Weg eine kleine Pause bei mir machst!“ Während Tine die Arme um den Baum geschlungen hielt, dachte sie so bei sich; `Vielleicht weiß der Baum ja, wo die Lichtung ist? Er ist doch so groß, da kann er ja die Lichtung vielleicht von oben aus sehen?` Und bevor sie die Frage direkt an den offensichtlich lebenden Baum stellen konnte, vernahm sie schon eine Antwort.
„Ja Kleine, du hast Recht, ich bin viel höher und viel älter als du. Trotzdem kann ich die Lichtung nicht sehen.“ Tine fühlte Traurigkeit in sich hoch steigen, der liebevolle Druck in ihren Armen ließ nach. Da sprach das Baumwesen in der ihm eigenen Sprache; „Kleine, du brauchst nicht traurig zu sein! Schau` mal, die Sache ist so: Du hast zwei gesunde, bewegliche Beine und wirst mit Sicherheit den Weg zur Lichtung gehen! ...“ ..... Ich hingegen habe wundervolle dicke feste Wurzeln, die tief in die Erde gehen. Deshalb verlasse ich diesen Platz nie in meinem Leben. Jedoch erzählt mir die Erde, in welcher ich wurzele, alles, was
ich über den Fortgang der Erde wissen möchte. Der Himmel, in welchem meine Astspitzen ragen, berichtet mir alles, was ich über die hohen Schwingungen wissen möchte.“ Während Tine mit ihren Fingerspitzen die hubbelige Rinde betastete, lauschte sie friedlich der Erzählung des Baumes. „Und, was erzählen dir Erde und Himmel?“, fragte Tine gespannt. „Die Erde erzählt von der Lichtung ein paar Meter von diesem Platz entfernt. Sie sagt; dort wächst der Rasen so kräftig. Und sie sagt, die Tiere bereiten sich auf den Winterschnee vor. Der Himmel flüstert mir zu, dass über dem Platz der Lichtung die Schwingung voll Wunder ist, für alle Seelen, die
bereit sind, sich dem Wunder zu öffnen.“ Tine knibbelte mit den Fingernägeln ein wenig an der Rinde herum. „Es ist nicht schlimm, wenn du nicht alles verstehst. Wichtig ist allein, dass du dein Herz und deine Liebe offen behältst!“ Ein warmes wohliges Gefühl machte sich in Tine breit, füllte ihren Bauch, ihre Arme und Beine. Das angenehme Gefühl dehnte sich aus bis in ihre Fingerspitzen und Fußsohlen. „Oh Baum, kannst du mir denn sagen, in welche Richtung es nur noch ein paar Meter sind? Ich meine, damit ich den Weg zur Lichtung auch finde?!“, fragte Tine leise. Sie streichelte erwartungsvoll über die vielschichtigen Holzplättchen.
„Kleines, schau mal hoch, siehst du den untersten Ast an meinem Stamm? Er zeigt in die richtige Richtung! Siehst du ihn?“ „Ja, ich kann den Ast sehen! O.K., ich gehe in die Richtung, in welcher er zeigt.“ Langsam ließ sie die Arme sinken, fuhr sanft mit den Händen die Rinde entlang nach unten. Einen Moment hielt sie inne, zögerte kurz, drückte dann aber entschlossen ihre Lippen auf ein Stückchen Holz in Augenhöhe und verabschiedete sich mit einem Kuss. Während sie ihre Tasche hoch hob, fühlte Tine den Abschiedsgruß des Baumes, der sie leise darum bat, Tine möge doch auf ihrem Rückweg noch einmal bei ihm für eine Verschnaufpause vorbei kommen; es
würde ihn glücklich machen. Tine fühlte sich jetzt leicht und guten Mutes, den Weg zur Lichtung zu finden. Während der nächsten Schritte achtete sie genau darauf, dass sie in die Richtung ging, welcher der unterste Ast ihr wies. Immer wieder drehte sie sich um, schaute kurz zurück, um sicher zu sein, dass sie in die betreffende Richtung ging. Sie dachte daran, was der Baum ihr berichtet hatte; `Die Lichtung ist ein Platz der Wunder. Ob der schöne hell leuchtende Weihnachtsstern auf ihrem Bild auch zu dem Wunder gehörte? Er sieht auf dem Bild so wunderschön aus, aber er wirkte auch echt!`, überlegte sie. Ganz plötzlich, vollkommen unerwartet, weil
Tine nichts gehört hatte, stand da ein großer Mann in dreckiger schwarzer Hose und dicker brauner Jacke vor ihr. Ihre Glieder zitterten, die Zähne klapperten auf einander, die Füße wollten ihr weg knicken; so erschrocken stand sie vor dem Mann, der so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war. Das Gesicht des Mannes zeigte Spuren von Schweiß und Erde und dickem Staub; und er lächelte gar nicht. Und dann nahm sie die schwere Axt auf seinem Rücken wahr. Wie angewurzelt blieb Tine stehen. Sie war nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu sagen. Staunend öffnete sie den Mund. Die finstere Gestalt sah sie von oben bis unten hin an.
Der Furcht einflößende Mann öffnete den Mund und sagte; „Hey Kind, was willst du hier? Was machst du hier alleine im Wald? Guck dich mal an, du gehörst nach Hause! Verschwinde von hier. Hier ist es gefährlich!“ Tine zitterte am ganzen Körper. Mühsam versuchte sie, ihre Kräfte wieder zu finden. Sie stammelte nur; „…. den Stern, ich suche den Stern.“ Der unheimlich dreinschauende Mann fragte nur; „Stern? Welcher Stern?“ Tine nahm all` ihren Mut zusammen, griff in ihre Tasche und zog das Bild des Weihnachtssternes hervor. Wortlos zeigte sie es ihm. Der Fremde sah sich das Bild an und schüttelte mit dem Kopf. „Ich
glaube nicht, dass du finden wirst, was du suchst. Dass haben schon viele versucht. Geh` lieber nach Hause!“ Mit zittriger Stimme erwiderte Tine zaghaft; „Ja, aber, ich suche schon lange nach dem Stern….. Es ist mir wichtig!“ Der mürrisch dreinblickende Mann schüttelte den Kopf; „So etwas habe ich noch nie erlebt, dass ein Menschenkind einen so weiten Weg geht, nur um etwas zu finden, von dem keiner weiß, ob es wirklich existiert…… Na gut, `des Menschen Willen ist sein Himmelreich`. Aufhalten kann ich dich wohl nicht?! Dann achte nur gut auf dich!“ Er nahm seine schwere Axt von der Schulter und wies ihr den Weg gerade dorthin, wo der
Wald am dunkelsten war. Nochmals schüttelte er den Kopf und sagte; „Verrückte Welt…… Kind, gib auf dich Acht!“ Mit diesen Worten stapfte er von dannen. Tine stand da mit ihrem Bild in der Hand wie angewurzelt. Als die Stapfgeräusche nachließen, fühlte sie sich wieder: ihr Kiefergelenk klapperte leiser werdend, das Zittern der Knie ließ langsam nach, der Klos im Hals war noch da, und ihre Blase meldete sich. Tine schaute sich um, wo sie wohl mal Pippi machen könnte. Aus der Richtung in welcher der Holzfäller gegangen war, konnte sie keinen Laut mehr vernehmen. Tine ging ein paar Schritte vom Weg ab, um hastig
ihre Hose und das Höschen herunter zu ziehen und sich eilig zu erleichtern. „Puh“, stöhnte sie, nachdem sie sich wieder angezogen, ihr Täschchen und das Bild wieder aufgehoben hatte. Sie schaute sich um, weil sie etwas zum Hinsetzen suchte. Als wenn er sie gerufen hätte, entdeckte sie etwas weiter weg einen Baumstumpf in passender Sitzhöhe. Sie lief hin und setzte sich behutsam auf das noch helle Holz des Baumstumpfes. “Hmm“, entfuhr Tina ein Seufzer, während sie ihre kleine Reisetasche öffnete und sie sich den Apfelsaft und ein Brötchen heraus holte. Sie trank gierig aus der kleinen Flasche und biss genüsslich etwas von dem
Brötchen ab. „Oh, was tut jetzt so eine Pause gut……“ Während Tine an ihrem Brötchen kaute, dachte sie darüber nach, was der unheimliche Mann gesagt hatte. `Es ist gefährlich hier!`. Und dann hatte er auch noch in die dunkelste Richtung gezeigt. Obwohl der finstere Mann jetzt weg war, stieg eine traurige Beklemmung in Tine auf. Ihre Augen füllten sich mit viel Flüssigkeit und kurz hierauf tropfte eine Träne die Wange herunter. „Oh, ich will doch gar nicht in den dunklen Teil des Waldes. Ich will doch zur Lichtung, zum leuchtenden Weihnachtsstern.“ schniefte Tine vor sich hin. „Was soll ich denn jetzt machen?“ Sie überlegte; `Der Wind
hat gesagt, ich soll auf meine innere Stimme hören. Hm, wie hört die sich denn an? Der Igel hat gesagt, ich soll den Dachs fragen, der weiß mehr. Hm, wo finde ich ihn denn? Der Baum hat mir mit seinem Ast die Richtung gezeigt. Ach, und der Baum hat mir gesagt, ich werde zur Lichtung gehen, mit meinen gesunden Beinen. Ja, ich war mir so sicher; und dann ist da plötzlich der unheimliche Mann gekommen und schimpft mit mir.` Weitere Tränen bildeten sich und hüpften aus den Augen, rollten die Wange hinunter und fielen vom Kinn in Tines Jacke. Tine machte sich gar nicht erst die Mühe, die Tränen weg zu wischen, sondern betrachtete
durch ihre wässrigen Augen das Bild, welches neben ihrer Tasche auf dem hellen Holz lag. Sie konnte das Leuchten des Sternes durch ihre verwässerten Augen erkennen. “Hallo du Weinende. Ich glaube, du fühlst dich gerade nicht so groß, wie du eigentlich bist?“ flüsterte da etwas in der Art und Weise, welche Tine irgendwie bekannt vorkam. Das erinnerte sie doch an den Baum, dessen Rinde sie gefühlt und den sie umarmt hatte. „Sprichst du mit mir? Ich bin doch noch klein! Wo bist du überhaupt?“, fragte Tine laut. „Na, jetzt bist du ja auf einmal lustig! Ich bin doch noch kleiner als du! Merkst du denn nicht, dass du auf mir sitzt?“,
fühlte Tine die Stimme des Baumstumpfes leise in ihrem Herzen. Etwas verwundert stand sie auf und sah sich ihren Pausenplatz bewusster an: der Baumstupf reichte ihr bis zur Hüfte, die Wurzeln waren dicht unter der Erde rund um den Baumstumpf zu sehen. Manche dicke Wurzeln ragten auch über die Erde und waren vermoost. Die Rinde war dick und von ihrem Blickwinkel aus konnte Tine sehen, wie die Rinde rund um das helle Innenleben verlief. Die Jahresringe waren gut zu sehen; bei vierzig hörte Tine auf zu zählen. „Mädchen, du kannst ruhig sitzen bleiben, so kann ich dir ein bisschen nützlich sein. Sonst bin ich nur für das krabbelnde Kleintier und die Pize
nützlich.“ Tine setzte sich wieder. Beim Anblick des Bildes neben ihrer Tasche dachte sie; `Und, wie komme ich jetzt weiter? Soll ich wirklich den Pfad in die dunkle Richtung gehen? Irgendwie hatte ich mir das alles leichter vorgestellt, als ich losgegangen bin!` „Ich hatte mir mein Leben auch anders vorgestellt. Ich war schon auf eine beachtliche Höhe gekommen, bevor die Männer mit den Äxten gekommen sind“, berichtete der Baumstumpf. „Du siehst ja, was von mir übrig geblieben ist…… Aber weißt du, Mädchen, ich habe festgestellt, ich lebe noch! Und ich habe entdeckt, dass ich meiner Naturfamilie immer noch nützlich bin, nur auf eine andere Weise als zuvor!
Dass tut gut!“ Tine spürte eine angenehme Wärme in ihrem Körper. Da war es wieder, dieses wohlige Gefühl um ihr Herz herum. In ihren Füßen und Händen spürte sie ein leichtes Kribbeln, so, als wenn ihr Körper sich bewegen wollte. Tine stand auf, hockte sich vor den Baumstumpf und streichelte sanft über die holzige Oberfläche, auf der sie gerade noch gesessen hatte. „Ja, du bist wirklich für was gut, du bist ein idealer Platz zum Sitzen!“, flüsterte sie schmunzelnd. Während Tine sich über den Rest des ehemals so stolzen Baumes beugte, wurde ihr so richtig warm und sie nahm ein Gefühl von Geborgenheit
wahr. Einer inneren Regung folgend sprang sie nun plötzlich auf und hüpfte freudig von einem Bein auf das andere und sang dazu im Takt; „Hach, was ist das schön hier…. Hach, was ist das schön hier bei dir…. Hach, ich habe was gefunden…… Hach, ich habe was gefunden….“ Als Tine sich dann erschöpft wieder auf den gekürzten Baum setze, entfuhr ihr; „Und wenn ich den Weihnachtsstern nicht mehr finden sollte, ist auch nicht schlimm! Ich habe ja schon was gefunden! Dich. Und den anderen Baum. Und den Igel. Weißt du, ich weiß, wo der Igel seinen Winterplatz hat. Aber ich verrate es nicht, denn der kleine Igel überlebt nur, wenn er schön den Winter
über schläft.“ Tine rutschte vor lauter Begeisterung auf ihrem Sitzplatz mitten im Wald hin und her. „Warum solltest du den Weihnachtsstern nicht finden? Ich habe mal gehört, dass man ihn von der Lichtung aus am besten sehen kann.“ flüsterte der Baumstumpf Tine ins Herz. „Ja, schau auf mein Bild. Der Weihnachtsstern steht genau über der Lichtung! Nur…… weißt du, der unheimliche Mann hat mir die Richtung gezeigt. Da sieht es so dunkel aus. Ich habe Angst, dort lang zu gehen! Und eigentlich müsste der Weg zur Lichtung doch heller werden, nicht wahr?“ Es lag ein leichtes Zittern in der Stimme. “Hm, Mädchen. Ich weiß nur, dass die
Wege und Ziele manchmal anders aussehen als man sich vorgestellt hat. Denk mal, Angst ist ein Gefühl. Als die Männer gekommen sind, da hatte ich auch große Angst. Jedoch ist nichts weiter passiert; nur die Höhe meiner sichtbaren Größe hat sich verändert. Das Leben ist schön, so oder so!“ antwortete der Baumstumpf. „Ich finde es ganz nett, dass du auf mir sitzt.“ ließ er Tine mit einem warmen Gefühl im Herzen spüren. „Früher wäre das nicht möglich gewesen.“ Tine überlegte; `Ja, wahrscheinlich hast du Recht. Was soll mir schon passieren?` Mit geschlossenen Augen saß Tine eine Weile ruhig auf dem hellen Holz des Baumstumpfes. Um sie
herum war Ruhe. Das Einzige, was sie wahrnehmen konnte, war das sanfte Rauschen des Windes in den Wipfeln der Bäume. Es klang so, als würde der Wind Tine zum Weitergehen auffordern. Entschlossen stand Tine auf, steckte das Bild in die Tasche und drehte sich zum Baumstumpf um. „Hast du das auch vernommen?“, fragte sie. „Folge dem, was du wahrgenommen hast. Dann folgst du auch dir!“ Mutig ging Tine die Schritte zurück zum Trampelpfad, auf welchem sie den Holzfäller getroffen hatte. Bevor sie die Richtung in das Dickicht einschlug, drehte sie sich noch ein letztes Mal um, hauchte ein Küsschen in die Hand und
winkte dem Baumstumpf zu; „Danke!“. Der Pfad wurde schmaler. Auf der rechten Seite standen unter den großen Tannen lauter vertrocknete Sträucher, an deren verdorrten Ästen längliche Nadeln saßen. Links vom Weg wuchsen unter den Nadelbäumen riesige Farne, welche ihre großen länglichen Blätter auf und ab wedeln ließen. Hier war der Boden sehr erdig und übersäht mit braun gewordenen Nadeln. Während Tine langsam, aber entschlossen, einen Fuß vor den anderen setzte, lauschte sie den Geräuschen. Leise hörte sie den sanften Wind in den Wipfeln und sah, wie die ganz hohen Bäume leicht hin und her wogten. Das Knistern ihrer Schuhe auf den
vertrockneten Nadeln war gut wahrnehmbar. Von irgendwo hörte Tine einen Specht gegen Holz pochen. Die Luft roch leicht nach Moos und feuchtem Holz; hier fühlte sie sich etwas kälter an. Intuitiv zog Tine die Mütze tiefer ins Gesicht und wickelte den Schal fester um den Hals. Plötzlich nahm Tine ein undefinierbares Rascheln wahr; sie lauschte dem Geräusch intensiver. Es hörte sich an, als wenn Jemand in der Erde scharren würde. Mit ihren Augen suchte sie den Boden ab. Unscharf entdeckte Tine weiter hinten im Dickicht ein Tier. Es sah schwarz aus und ein bisschen weiß war zu sehen. War es ein Hund? Oder eine Katze? Vorsichtig und
ganz langsam ging Tine ein paar leise Schritte in Richtung des Tieres. Nein, so ein Tier hatte sie noch nie gesehen. Tine stand zwischen den großen Farnen und beobachtete das Tier, welches dem Geräusch nach offenbar in der Erde wühlte. Sie machte ein paar Schritte nach links, um das Tier besser von der Seite aus zu erkennen. Es hatte ein spitz zulaufendes Gesicht mit weiß darin; und irgendwie sah das unbekannte Tier niedlich aus, auch, wenn es nicht so richtig klein war. Es buddelte fleißig in der Erde herum. „Wer bist du?“, fragte Tine zaghaft. Sie wollte das Tier nicht erschrecken. Das Tier bewegte sich, drehte sich leicht zu Tines Seite
herum, und sie erwartete nun eine Antwort. Aber nein, er kratzte auch hier mit seinen Vorderpfoten die Erde auf. Jedoch konnte Tine ihn jetzt besser sehen; sein Gesicht sah interessant aus. Das Weiß verlief in Streifen schräg über das Gesicht und alle endeten auf dem niedlichen Näschen. Es hatte kleine Augen und stehende Öhrchen, auf denen ein Büschel weiß zu sehen war. Sein Körper wirkte kräftig. „Hey du, wie heißt du?“, wagte Tine sich noch mal zu fragen. Als das Tier wieder nicht antwortete, hockte sie sich und sah still zu, wie es mal hier, mal dort, mit der Erde beschäftigt war. Während Tine ihn so beobachtete, kam ihr in den Sinn, dass
dieses Tier vielleicht der Dachs sein könnte. Der Gedanke ließ sie nicht mehr los, und Tine musste ihn einfach noch mal fragen. Diesmal sprach sie mit lauter Stimme, um sicher zu gehen, dass er sie auch hörte; „Hey du, bist du vielleicht der Dachs? Der Igel hat mir vom Dachs erzählt. Ich suche ihn.“ Der Schwarze mit den weißen Streifen drehte sich um und blickte Tine fragend an; „Den Igel?“ „Nein, ich suche den Dachs.“, erklärte Tine geduldig noch einmal. „Der bin ich“, brummte der Schwarze und drehte sich wieder zurück. „Oh, dass ist ja toll“, rief Tine begeistert aus. „Da habe ich dich jetzt endlich gefunden! Ich suche dich nämlich schon die ganze Zeit, seit
mir der Igel erzählt hat, dass du von der Lichtung weißt. Kannst du mir bitte den Weg dorthin zeigen?!“ Tine kam aus ihrer hockenden Haltung hoch und ging ein paar weitere Schritte auf den Dachs zu. Dieser hatte seine Augen schon wieder auf den Boden gerichtet und schaufelte fleißig weiter. „Bitte, lieber Dachs, würdest du mir den Weg zu Lichtung zeigen? Ich muss nämlich dorthin, weil ich den Weihnachtsstern sehen möchte!“ Tine stellte aufgeregt ihre Füße auf die Zehenspitzen und rollte sie zurück auf die Fersen, dann wieder auf die Zehenspitzen. `Warum nur antwortete der Dachs nicht?`, überlegte sie, während sie
ungeduldig die Füße weiter auf- und abrollte. „Hey Dachs“, rief Tine nun sehr laut. „Würdest du mit bitte den Weg zur Lichtung zeigen?! Bitte, bitte! Es ist ganz wichtig für mich!“, flehte sie ihn an. „Wichtig, wichtig. Was ist hier wichtig? Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?“ brummte der Dachs, während er weiter seiner Arbeit nachging. „Ich muss schließlich eine Familie ernähren!“ Tine schaute ratlos zu, wie die Vorderpfoten des Dachses in der Erde wühlten. Nach einer Weile schloss sie einfach die Augen. Leise hörte sie neben dem scharrenden Geräusch den sanften Wind in den Baumwipfeln. Sie erinnerte sich an ihre
Gespräche mit den Bäumen, dem Großen und dem Kleinen. Und; da war es wieder, das warme Gefühl in der Brust, im Herzen. Sie fühlte es wieder, auch das leichte Kribbeln in den Händen und Füßen. In Gedanken sprach Tine zu sich selbst; `Ich möchte den Weihnachtsstern sehen! Wenn der Dachs keine Zeit hat, mir zu helfen, dann werde ich den Weg sicherlich auch ohne ihn finden.` Langsam öffnete sie wieder die Augen, blinzelte ein wenig und zog sich dann ihre Mütze zurecht, hob ihr Reisetäschchen auf und ging vorsichtig ein paar Schritte rückwärts, bevor sie sich umdrehte und die Richtung zum schmalen Trampelpfad einschlug. „Zur
Lichtung musst du den Weg weiter gehen und um die erste Eiche rum“, rief der Dachs ihr hinterher. Mitten im Schritt hielt Tine inne. Was hatte der Dachs da gerufen? `Musst du den Weg weiter gehen und um die erste Eiche rum`, wiederholte sie in Gedanken. `Ach, dann kann es ja nicht mehr weit sein!` freute sie sich, drehte sich nun noch ein letztes Mal um, und rief dem Dachs ein „Danke!“ zu. Während das scharrende Geräusch immer leiser wurde, lief Tine heiteren Schrittes zum Trampelpfad zurück und setzte ihren Weg unter den Tannen entlang der ausgedörrten Sträucher und den großen Farnen fort. Der Specht war wieder zu
hören, wie er so unermüdlich gegen Holz pochte. Auch vernahm Tine das ferne Rufen einer Eule. Bei genauerem Hinhören meinte Tine auch das Grunzen eines Tieres wahrzunehmen, Stöckchen und Blätter knisterten im Dickicht. `Eigenartig`, dachte Tine, `auf einmal sind viel mehr Tiere in der Nähe als zuvor.` Sie schaute sich aufmerksam um, konnte jedoch keines der Tiere entdecken. Der Trampelpfad wurde nun schmaler, und nach einigen weiteren Schritten war zwischen den Tannen, Sträuchern und Farnen der Weg als solcher nicht mehr zu erkennen. Furchtlos schritt Tine weiter; immer wieder darauf achtend, wo sie ihre Füße
hinsetzte, und stets darum bemüht, den Büschen und Bäumen auszuweichen. Sie dachte an das, was der Dachs gesagt hatte; `weiter gehen und um die erste Eiche rum`. Während Tine ihren Weg durch das Dickicht fortsetzte schlugen manche Tannenzweige an ihre Jacke. Einmal beugte sie sich tief, um einem großen Zweig auszuweichen, dabei jedoch riss ein vertrockneter Ast mit seinen langen Nadeln eine große tiefe Schramme in Tines Haut am Hals. Der Schmerz war heftig und die Wunde blutete, jedoch nur eine kurze Zeit. Tine hielt eine Weile ihre Hand auf die verletzte Stelle, rieb immer wieder Spucke an ihre Haut, und wartete eine
Weile, bevor sie vorsichtig, aber entschlossen weiter ging. Nach einiger Zeit wurde der Trampelpfad wieder sichtbar, erst ganz schmal, und dann wesentlich breiter. Tine stellte fest, dass vor ihr nur noch vereinzelte hohe Tannen und Farne standen. Während Tine langsam den Weg weiter ging, sah sie in einiger Entfernung Blätter wedeln. Sie strengte ihre Augen an und versuchte, die Art des Baumes und die Farbe der Blätter in der Ferne zu erkennen. Plötzlich sah sie, wie die braunen, an ihrem Rand gewellten, Blätter ihr entgegen wedelten. Es waren nicht mehr viele an dem hohen Baum; sie wirkten unterschiedlich stark eingerollt. Ganz
offensichtlich winkten sie ihr zu. Tine begann zu laufen, ihr Herz hüfte vor Freude. `Dass muss die erste Eiche sein! Oh, ich habe es gleich geschafft`, freute sie sich. Die nächsten Schritte waren leicht und schnell, innerhalb kurzer Minuten war sie an dem Baum mit den wedelnden Blättern angekommen. Tine fühlte sich erleichtert, schlang ihre Arme um den Baumstamm und rief zu den Blättern hoch; „Hallo ihr lieben Blätter, wie schön, dass ihr mir schon von weitem gewunken habt.“ Noch während sie sprach, sah sie auf einem Ast zwischen den Blättern ein Vögelchen sitzen. Tine schmiegte ihre Wange kurz an die Rinde des Baumes, bevor sie ihre
Arme sinken ließ um einen Schritt zurück zu gehen. Jetzt konnte sie den Vogel genauer sehen; er war hellbraun mit einem rötlichen Köpfchen. Sein Gefieder leuchtete in mehreren Farben von rotbraun und hatte an jeder Seite einen schmalen blauen Streifen. Seine kleinen Krallen umfassen den dünnen Ast und sein Schnäbelchen öffnete sich für einen hellen Klang; „Hallo liebes Mädchen, da bist du ja!“ Augenblicklich stieg ein warmes Gefühl in Tine auf; es kam aus dem Herzen, füllte ihre Brust und dehnte sich in Bauch, Armen und Beinen aus. Es fühlte sich an, als wenn Tine ihre Lieblingsfreundin nach langer Zeit
wieder sehen würde. Kannte sie dieses Vögelchen? Tine konnte sich nicht daran erinnern, es schon einmal gesehen zu haben. Kannte der kleine hübsche Vogel sie? Tine stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte ihren Kopf in die Höhe; „Hallo Vögelchen, kennen wir uns?“ Zur Antwort flatterte der in brauntönen leuchtende Vogel vom Ast herunter, hielt sich in Augenhöhe zu Tine mit sanften Flügelschlägen in der Luft, und als Tine ihre Hand ausstreckte, setzte sich dieser auf ihre Finger. So von der Nähe aus betrachtet, leuchtete das Gefieder intensiver. Tine betrachtete das kleine Lebewesen in Ihrer Hand; das Schnäbelchen war zierlich aber fest
geformt, die winzigen schwarzen Augen glitzerten aus dem rötlichen Köpfchen hervor, die Brust hatte im braunen Gefieder kaum sichtbare schmale Streifen von gelb und in den nun an den Körper geschmiegten Flügeln schimmerte jeweils ein Streifen von funkelndem blau. Das Vögelchen öffnete sein Schnäbelchen und sang in der hellen Stimme; „Jetzt kennen wir uns! Ich habe hier auf dich gewartet.“ Tine war erstaunt und aufgerecht zugleich. „Wie? Du hast auf mich gewartet? Ja…. , aber….. , woher wusstest du denn, dass ich hier her komme?“, fragte Tine stotternd. Der kleine Vogel breitete seine Flügel aus und trällerte aus tiefster
Brust; „Die hohe Schwingung des Himmels, welcher mich trägt, hat mir von einem Mädchen erzählt, die den Weg zur Lichtung angetreten hat, weil sie den Weihnachtstern über dem Platz voller Wunder sehen will. Dass bist du doch, nicht wahr?“ „Ja, ja“, rief Tine aufgeregt. Das warme Gefühl in ihrem Herzen verbreitete in ihrem ganzen Körper ein freudiges Kribbeln. „Ist das schön, dass du von mir weißt. Ich heiße Tine“, stellte sie sich dem Vögelchen vor. „Ja…. , aber….. , woher wusstest du denn, dass ich heute hier vorbei komme?“, fragte Tine neugierig. „Na, das hat mir der Baum erzählt. Er hat von der Erde, in
welcher er wurzelt, erfahren, dass du den Dachs nach dem Weg gefragt hast. Die Erde hat ihn auch wissen lassen, dass du den Ruf der Eule und das Grunzen des Wildschweins vernommen hast“, trällerte der leuchtende Vogel in Tines Hand. „Und den Igel habe ich getroffen“, ergänzte sie aufgeregt den Singsang des Vögelchens, „dem habe ich bei seinem Bau des Winterplatzes geholfen!“ In den Augen des Vögelchens entdeckte Tine glitzernde Sternchen, während sie seinem Gesang lauschte; „Du bist ja auch ein liebes Mädchen, Tine! Ein willensstarkes geduldiges Mädchen! Das hat die Art und Weise, wie du deinen Weg gegangen bist, gezeigt.“ Der kleine Vogel breitete seine
Flügel aus und begann sie auf und ab zu heben. Tine spürte in der Hand, wie es einen sanften Stoß gab, das Vögelchen dem Wind die Gelegenheit gab, unter seine Flügel zu pusten, und schon hob es von Tines Finger ab. Das Vögelchen flatterte einmal um Tine herum und flog dann direkt hoch in die Luft, um zwischen zwei großen Tannen zu verschwinden. Tine schaute dem Vögelchen hinterher, ihr Mund stand vor Erstaunen offen. Leicht irritiert besah sie sich ihre Hand; auf diesen Fingern hatte der kleine hübsch leuchtende Vogel gesessen. Er hatte über sie Bescheid gewusst. Nachdem es so unvermittelt weg geflogen war, kam sie sich
kurzfristig allein vor. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an das singende Gespräch. Schön war es gewesen; es hatte sie glücklich gemacht, dass es auf sie gewartet hatte und von ihr wusste. Während sie so an das eben Geschehende dachte, fiel ihr ganz plötzlich wieder ein, dass sie sich ja an der ersten Eiche befand. `Was war denn jetzt noch mal an der ersten Eiche? `Geradeaus und um die Eiche rum`, hatte der Dachs gesagt. Dann gehe ich jetzt einfach mal….“, entschloss sich Tine. Sie hob ihr Reisetäschchen auf, welches sie bei ihrer Ankunft an der Eiche mit den winkenden Blättern vor lauter Freude und Begeisterung an den Wurzeln auf die
Erde geworfen hatte. Dann hielt sie sich mit einer Hand an der unebenen Rinde des Baumes fest und setzte einen Schritt vor den anderen um den Baum herum. Während ihre Hand leicht über die Rinde strich, nahmen ihre Augen einen mit Blättern und braunen vertrockneten Früchten übersäten Weg zwischen zwei hohen Fichten wahr. Sie ließ den Baum los und hüpfte auf den Weg zu den Nadelbäumen hin. „Jetzt muss die Lichtung kommen! Jetzt müsste ich gleich den Weihnachtsstern sehen können! Oh, was bin ich gespannt…..“, Tine hüpfte auf den Füßen. Ein langer Ast der Fichte streifte leicht Tines Oberarm; sie drehte kurz ihren Kopf zur
Seite, und beim nächsten Schritt sah Tine die Lichtung. Einen sehr großen freien Platz, der weit und breit nur dicht bewachsenen grünen Rasen zu sehen bot. Die lang gesuchte Lichtung erstreckte sich weitläufig zu ihren Füßen. Tine hob den Blick zum Himmel; suchte dessen blaue Weite mit ihren Augen ab, denn sie wusste ja, was sie suchte……. Nach einer Weile vergebenen Suchens senkte Tine traurig den Kopf. „Er ist gar nicht da! Er ist nicht zu sehen! Die ganze Suche umsonst“, rief sie enttäuscht aus. Die Flüssigkeit in ihren Augen vermehrte sich innerhalb kürzester Zeit und dicke Tropfen verließen rasch ihre Augen, rollten die Wangen herunter, sammelten
sich am Kinn und fielen auf die Jacke. Noch einmal schaute sie in den Himmel über den freien Platz; sie konnte den Weihnachtsstern einfach nicht entdecken. Da stand Tine nun vor den hohen Fichten am Rand der Lichtung und ihre Augen füllten sich immer mehr mit Tränen, welche ihr junges Gesicht befeuchteten. Tine stellte ihre Tasche auf die Erde und legte die Hände vor das Gesicht. Ihre Handinnenflächen drückten sanft auf die nasse Haut. Langsam schob sie die Fingerspitzen über die geschlossenen Augen und ließ ihre Hände auf dem Gesicht ruhen. Da fühlte sie ihr Herz tief in der Brust stetig vor sich hin klopfen. Sie lauschte nach innen. Jetzt fühlte sie
wieder die Wärme in ihrer Brust aufsteigen, sie spürte, wie das warme wohlige Gefühl sich ausbreitete. Tine nahm neben dem gleichmäßigen Rhythmus ihres eigenen Herzens eine tiefe Stille und Geborgenheit wahr. Ihr Atem wurde langsamer und die Tränen versiegten. Sie nahm ihre Hände und Finger bewusster wahr, bewegte die Finger sehr behutsam über das Gesicht, so, dass die Augenlieder sich vorsichtig und blinzelnd öffnen konnten. Das Erste, was sie durch die schmale Öffnung sehen konnte, waren kleine weiße Flöckchen, welche sich vor ihrem Gesicht schwebend in der Luft bewegten. Tines Augen blinzelten noch einmal und dann
sah sie die vielen dicken glitzernden Schneeflocken herumwirbeln. Während Tine den leichten Tanz der Flocken beobachtete, beschaute sie die Bäume rund um die Lichtung; da standen hohe Fichten mit ihren hängenden dicken braunen Zapfen; der fallende Schnee legte sich liebevoll auf die grünen Zweige und bedeckte die Äste mit funkelndem Weiß. Etwas weiter auf der anderen Seite der Lichtung standen unter den Fichten hübsche Rehe beisammen, eines mit einem großen wundervollen Geweih. Sie bewegten sich kaum, standen dort friedlich und schauten herüber. Auf ihrer linken Seite entdeckte Tine Sträucher mit ganz kleinen
zierlichen rosaweißen Blütenbüscheln an den Ästen. Wie hübsch dieser Busch in seiner Blütenpracht aussah und nun von dem ersten Schnee sanft bedeckt wurde. Tine staunte ehrfurchtsvoll. Der kräftig grüne Rasen schien die glitzernden Eiskristalle mit Freuden aufzufangen; bevor sie landeten wirbelten einige von ihnen mehrmals herum. Während Tine ihre Sinne innerlich tief berührt über den Platz wandern ließ, fühlte sie, dass dort mehr ist. Sie folgte ihrem Gefühl und entdeckte nahe dem beeindruckenden Hirsch ihre Freundin, das hübsche rot-braune Vögelchen auf einem Ast sitzen; es winkte ihr mit den Flügelchen zu. Am Fuße des Baumes saß der mürrische
Dachs mit seiner Familie. Unweit von ihr entdeckte Tine schwarzbraune Wildschweine. Ihre Augen wanderten die Fichte entlang hoch zum Himmel, streiften eine schneeweiße Eule und blickten in das unendliche Blau. Helle Strahlen erfüllten nun ihre Augen und durchfluteten Tine ganz und gar mit friedlichem Licht, das Leuchten erfüllte den gesamten Platz: der Weihnachtsstern.
Anmerkung:
Diese Geschichte habe ich 2009 mit viel Freude und Liebe im HERZen geschrieben.
Uliliac Liebe Gabriele, ich habe deine recht lange Geschichte doch ganz zügig gelesen, sie ist so schön flüssig und kurzweilig geschrieben, mit vielen liebevollen Details und einem glücklichen Ende, eine wirklich berührende Weihnachtsgeschichte, die ich sehr genießen konnte! :-) LG von Uli |
Gabriele Lieber Uli ich freue mich sehr, dass du Zeit zum Lesen meiner Weihnachtsgeschichte von Tine hattest - und danke dir für deinen netten Kommentar! Es freut mich natürlich, wenn die kurzweilige Geschichte von Tine auch ein Genuss für den Leser sein kann..... Viele liebe Grüße für einen schönen 4. Advent, Gabriele |
AngiePfeiffer Was für eine schöne Weihnachtsgeschichte, liebe Gabriela! Ich bin ganz begeistert. Ich wünsche Dir viele große und kleine Leser! Liebe Grüße Angie |
FLEURdelaCOEUR Das ist eine bezaubernde Weihnachtsgeschichte voller Liebe und Ehrfurcht zur Natur, liebe Gabriele, die sich trotz ihrer Länge sehr angenehm liest. Ich hätte gern noch ein paar Seiten weiter gelesen. :-) Liebe vorweihnachtliche Grüße fleur |
Gabriele Hallo liebe Fleur :-) ich habe mich sehr über deinen Besuch bei meiner Weihnachtsgeschichte gefreut und vor allem über den lieben Kommentar - jaa, meine Zuneigung und Ehrfurcht zur Natur sollte spürbar werden. Denn ich gehe lieber in die Natur als in die Kirche, dass ist für mich persönlich stimmiger. Dein Lob freut mich ganz besonders - Dankeschön! Ich wünsche dir von Herzen eine schöne und angenehme Weihnachtszeit, mit lieben Grüßen, Gabriele |
Gabriele Hallo lieber Rainer, jaaa, es sind viele Seiten geworden, aber die Geschichte ist ja auch über Tage hinweg entstanden...... also braucht man (wenn man denn will) auch ein paar Tage dosiertes Lesen. Ich danke dir für deinen Besuch und wünsche dir eine angenehme Weihnachtszeit, liebe Grüße, Gabriele |